EU: Grenzenlose Arbeits-Flexibilität, nochmal heftiger? Von Werner Rügemer.

Werner Rügemer
Ein Artikel von Werner Rügemer

Am 17. November 2017 proklamierte die EU die „Europäische Säule sozialer Rechte“. Doch gegen die demagogischen Pläne des Kommissionspräsidenten Juncker ist grundsätzlicher Widerstand angesagt.

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Die Geisterversammlung der Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten im schwedischen Göteborg war jahrelang vorbereitet worden. Die Europäische Kommission hatte hunderte von Konsultationen organisiert und tausende von bedruckten Seiten in allen europäischen Sprachen produziert. Herausgekommen ist die Erklärung „Europäische Säule sozialer Rechte“. Sie wurde nun einstimmig und feierlich von den 27 EU-Staaten proklamiert, so wurde in einigen Medien berichtet. Jedenfalls wurde sie unterzeichnet von immerhin drei Anwesenden: von Juncker, dem estnischen Ratspräsidenten und dem Präsidenten des EU-Parlaments. Deutschland war bei dieser einstimmigen Feierlichkeit allerdings gar nicht vertreten: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel war – wegen „Jamaika“ – gar nicht anwesend und hatte zudem verhindert, dass etwa die Bundesarbeitsministerin die Vertretung übernahm. Aber irgendwie hat „Deutschland“ die Erklärung dann unterzeichnet, teilte ein Regierungssprecher auf Anfrage mit.

20 neue Rechte und eine neue EU-Arbeitsaufsicht

Präsident Juncker hatte vor der Proklamation seine Erkenntnis beschworen: Leider herrsche in der EU bei allen Erfolgen auch „Sozialdumping und soziale Fragmentierung“. Vor allem in Südeuropa laufe „mit hoher Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und schwacher Wirtschaft die größte Krise seit Generationen“. Vertrauensverlust! Da müsse man endlich gegensteuern, nicht zuletzt, so Junckers Pflichtbekenntnis, müsse man „Populisten und EU-Gegnern den Wind aus den Segeln nehmen“. Es scheint also nicht nur um Südeuropa zu gehen.

Nun also das mächtige Gegensteuer-Instrument: „Europäische Säule sozialer Rechte“. Also endlich eine Säule, die bisher neben den bisher errichteten Säulen offensichtlich fehlte: Neben der Säule der Rechte der privaten Investoren, neben der Säule der NATO und zusätzlicher europäischer Aufrüstung, neben der Säule Dutzender alter und neuer Freihandelsverträge, neben der Säule aus Stacheldrahtzäunen und Küstenschutz am Mittelmeer. Tatsächlich: Da fehlte was. Da haben die EU-Oberen in letzter Minute doch noch was gemerkt?

Der christlich lackierte Kommissionschef und langjährige Chef der wichtigsten EU-Steuerhinterziehungsoase Luxemburg will aber nicht nur die Erklärung. Er will mehr: Wenn wir doch sinnvollerweise eine EU-Bankenaufsicht haben, verkündete Juncker, dann ist es doch logisch, dass wir endlich auch eine EU-Arbeitsaufsicht errichten, und zwar auf der Grundlage der neuen sozialen Säule!

DGB und IG Metall stimmen zu, aber…

Mit der neuen, letzten, der sozialen Säule sollen „neue und wirksamere Rechte für Bürgerinnen und Bürger bereitgestellt“ werden. Diese 20 einzelnen Rechte, die es also bisher angeblich nicht gegeben hat oder jedenfalls nicht so wirksam, sind eingeteilt in drei Abteilungen: Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang, Faire Arbeitsbedingungen, Sozialschutz und soziale Inklusion. Gendermäßig korrekt ist nicht nur von Arbeitnehmern die Rede, sondern immer auch von Arbeitnehmerinnen.

Klingt vielleicht gut. Zunächst aber fällt auf: Die Arbeitsrechte sind im Bereich der sozialen Rechte versteckt, untergeordnet. Schlechtes Zeichen? Könnte eine Frage der sprachlichen Vereinfachung sein. Lassen wir mal beiseite. Aber wichtiger: Diese Rechte sind unverbindlich, reine Absichtserklärung, nicht einklagbar, sanktionslos.

Das haben der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Industriegewerkschaft Metall (IGM) durchaus erkannt. Aber sie haben schon eilfertig erklärt: Die Rechte sind zwar unverbindlich. Aber als Grundlage begrüßen wir sie. Wir müssen dann eben dafür sorgen, dass sie in Zukunft verbindlich gemacht werden!

Dann wollen wir uns mal genauer ansehen, ob wir diese Erklärung als Diskussionsgrundlage nehmen sollten!

Zwischen Demagogie und Überdeutlichkeit: Rechte-Abbau

Die Sprache schwankt zwischen demagogischer Verwendung „sozialer“ Begriffe, weit interpretierbarer Unbestimmtheit und primitiver Deutlichkeit. Einige Beispiele:

Unter Recht Nr. 3 „Chancengleichheit“ werden die üblichen Anti-Diskriminierungs-Kriterien aufgezählt: „Unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung hat jede Person das Recht…“ Klingt gut, oder? Ein Kriterium fehlt allerdings: soziale Herkunft! Aha, das ist also das neue an den neuen sozialen Rechten: Die soziale Herkunft wird ausgeblendet!

Recht Nr. 4 hat die Überschrift „Aktive Unterstützung für Beschäftigung“. Da heißt es zum Beispiel: „Junge Menschen haben das Recht … auf einen Praktikumsplatz“. Schön! Ob er bezahlt wird, ist unwichtig. Weiter: „Arbeitslose haben das Recht auf individuelle, fortlaufende und konsequente Unterstützung“: Hartz IV erfüllt diese Kriterien doch gut: Die Unterstützung ist individuell und irgendwie auch konsequent, oder nicht? Wie hoch die Unterstützung ist, scheint nicht so wichtig. Ok – falls „fortlaufend“ bedeutet, dass es keine Strafkürzungen geben darf, dann hätten wir hier immerhin eine Verbesserung. Aber ob das die deutschen Jamaikaner i.R. gut finden?

Recht Nr. 5 hat die Überschrift „Sichere und anpassungsfähige Beschäftigung“. Das ist die Wiederauflage des geltenden EU-Konzepts „Flexicurity“: Flexibility mit security, Flexibilität mit Sicherheit. Die sollen in der Quadratur des Kreises irgendwie gleichgewichtig sein. Weiter heißt es: „Der Übergang in eine unbefristete Beschäftigungsform wird gefördert“: Man geht also erstmal von befristeter Beschäftigung aus, und irgendwer fördert irgendwie dann die unbefristete Beschäftigung – die muss aber nicht kommen. Weiter heißt es: „Unternehmertum und Selbständigkeit werden unterstützt.“ Ach, lugen da die alte Ich-AG und die beliebte Schein-Selbständigkeit um die Ecke? Weiter heißt es: „Prekäre Arbeitsbedingungen werden unterbunden, unter anderem durch das Verbot des Missbrauchs atypischer Verträge“. Atypische Verträge sind also zulässig und normal, sie dürfen nur nicht „missbraucht“ werden. Wie sollen die ausufernden Probezeiten geregelt werden? „Probezeiten sollten eine angemessene Dauer nicht überschreiten.“ Sollten.

Recht Nr. 7 ist überschrieben mit „Informationen über Beschäftigungsbedingungen und Kündigungsschutz“. Das fängt schon gut an: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht, am Beginn ihrer Beschäftigung schriftlich über ihre Rechte und Pflichten informiert zu werden.“ Donnerwetter! Was Arbeitgeber im neuen sozialen Europa alles leisten müssen! So geht es weiter: „Bei jeder Kündigung haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das Recht, zuvor die Gründe zu erfahren.“ Also schon bevor man vor die Türe gesetzt ist! Von dieser Güte gibt es noch mehr Rechte: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf Zugang zu wirkungsvoller und unparteiischer Streitbeilegung.“ Das könnte so allgemein gut klingen, wenn es nicht konkret den langehegten Wünschen der Unternehmer entgegenkäme und wie es schon in den knappen Arbeitsrechts-Kapiteln der Freihandelsverträge CETA, TTIP usw. steht: Weg von den allzu bürokratischen, staatlichen Arbeitsgerichten, lieber die betriebsinterne, private, nichtöffentliche Streitschlichtung!

Recht Nr. 8 heißt „Sozialer Dialog und Einbeziehung der Beschäftigten“. Da heißt es vielversprechend: „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder ihre Vertretungen haben das Recht auf rechtzeitige Unterrichtung und Anhörung in für sie relevanten Fragen, insbesondere beim Übergang, der Umstrukturierung und der Fusion von Unternehmen und bei Massenentlassungen.“ Für sie relevante Fragen: das bedeutet, dass es für die Beschäftigten im Unternehmen auch die nicht relevanten Fragen gibt – zum Beispiel die Fragen, genauer gesagt die Entscheidungen, die einem Übergang, einer Umstrukturierung, einer Fusion oder Massenentlassung vorhergehen! Die Beschäftigten sollen also erst „einbezogen“ werden, wenn die Entlassung schon beschlossen ist. Und das ist dann „rechtzeitig“!

Recht Nr. 10 heißt „Gesundes, sicheres und geeignetes Arbeitsumfeld und Datenschutz“. Da heißt es „Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben das Recht auf ein Arbeitsumfeld, das ihren beruflichen Bedürfnissen entspricht und ihnen eine lange Teilnahme am Arbeitsmarkt ermöglicht.“ Wer definiert „ihre beruflichen Bedürfnisse“ und das „Arbeitsumfeld“? Im Klartext heißt das: Arbeitsmigranten aus Rumänien und Flüchtlinge (die nicht ertrunken oder verhungert sind) werden in Deutschland und Frankreich und Griechenland von den Unternehmern und Vermittlern und Jobagenturen dort eingesetzt, wo ihre Ansprüche und Qualifikationen und erpressten Verzichte am besten hinpassen. Zum Beispiel: Die „beruflichen Bedürfnisse“ der knappen eine Million eingeschleuster osteuropäischer Billig-Prostituierten passen doch bisher schon ganz legal in das „Arbeitsumfeld“ der EU-Spitzen-Bordell-Nation Deutschland. Und was bedeutet „eine lange Teilnahme am Arbeitsmarkt“? Wie lang ist „lang“? Lebenslang? Bis zur gesetzlichen Rente? Oder eben so lange bis der Verschleiß die Arbeitskraft unverwertbar macht?

Die Rechte Nr. 11 bis 20 stehen unter der Überschrift „Sozialschutz und soziale Inklusion“. Sie betreffen Kinder, Arbeitslosigkeit, Rente, Gesundheitsversorgung, Mindesteinkommen, Behinderung, Pflege, Wohnraum usw. Die Rechte sind nicht nur unverbindlich, sondern hier besonders unbestimmt. Schon bei den Arbeitsrechten wird häufig diffus von „angemessen“ geredet: „angemessene Freistellungs- und flexible Arbeitszeitregelungen“, „angemessene Kündigungsfrist“. Aber bei den Sozialrechten ufert dieses diffuse Kriterium aus. Es wird allen diesen Rechten angepappt, z.B. „angemessene Mindestlöhne“, „angemessener Lebensstandard“, „angemessener Sozialschutz“, „angemessene Leistungen von angemessener Dauer“ (für Arbeitslose), „angemessenes Ruhegehalt“, „angemessene Unterkünfte und Dienste“ (für Wohnungslose) – natürlich „um die „soziale Inklusion zu fördern“.

Die Arbeitskraft in der EU soll noch flexibler werden

Nach den Hartz-Gesetzen in Deutschland, dem Job Act in Italien und der Arbeits-„Reform“ Hollandes & Macrons in Frankreich will jetzt die Europäische Kommission zentral von ganz oben endlich auch die Arbeitsrechte EU-weit in den Griff bekommen. Sicher, der vermeintlich schlaue Juncker will nicht frontal und sofort die nationalen Gesetze und Behörden abschaffen. Aber eine von der Europäischen Kommission gelenkte zentrale Arbeits-Aufsichts-Behörde (European Labour Authority) soll eingerichtet werden. Juncker will dazu im Frühjahr 2018 ein Konzept vorstellen. Diese Behörde würde schrittweise Kompetenzen an sich ziehen.

Im Weißbuch zur Zukunft Europas vom März 2017 heißt es dramatisch: „Europa befindet sich am Scheideweg“. Natürlich stimmt das. Aber mit der brüchigen Wackelsäule der neuen sozialen Rechte will die EU in der bisherigen asozialen Richtung sogar verschärft weitermarschieren. Dem zusätzlichen demokratischen Gestaltungsbedarf bei der forcierten Digitalisierung ist die EU damit schon gar nicht gewachsen.

Der ganze Aufwand ist eigentlich überflüssig. Zu jedem der 20 Rechte und noch vielen weiteren Arbeits- und Sozialrechten bestehen viel bessere, verbindliche und teilweise einklagbare Festlegungen: Europäische Sozialcharta, UN-Sozialpakt, die 170 sehr viel genaueren und detaillierten Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) der UNO z.B. zum Verbot der Kinderarbeit, zum Kündigungsschutz, zum Recht auf bezahlten Urlaub, zur Arbeitszeit, zum Schutz vor Gefahren am Arbeitsplatz, zu den Sozialversicherungen. Die kollektiven Arbeits-, Tarif- und Gewerkschaftsrechte und z.B. der Schutz der Betriebsräte fehlen in der „Europäischen Säule“ ganz. Auch viele noch bestehende nationale Rechte – jedenfalls wo die EU mit der Troika noch nicht gewütet hat – würden mit Junckers Machwerk aufgeweicht, zum Beispiel durch neue EU-Richtlinien.

Die Erklärung darf also keine Diskussionsgrundlage werden – kurios, dass man das der DGB- und der IG Metall-Führung überhaupt erklären muss!

Europaweiter Widerstand!

Europa steht an einem Scheideweg. Aber ganz anders als Juncker & Freunde verkünden. Wie krisen- und gefahrenverschärfend die EU herangeht, zeigt sich auch an der im selben EU-Weißbuch 2017 beschworenen Gefahr der „Truppenaufmärsche an unseren östlichen Grenzen“. Wer marschiert da auf? Doch seit langem und primär die NATO und nun in deren Schlepptau auch noch die EU.

Und deren späte, allzu spät hingebastelte „soziale Säule“ würde das Arbeitsunrecht, die grassierende Armut und die wirtschaftliche Stagnation nur weiter verschärfen. Europaweiter Widerstand ist hier angesagt. Die Alternativen liegen offen.

Werner Rügemers letzte Buchveröffentlichung: Bis diese Freiheit die Welt erleuchtet. Transatlantische Sittenbilder aus Politik und Wirtschaft, Geschichte und Kultur. Köln 2017

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