Leserbrief und Einspruch zum Interview „Political Correctness: „Der Angeklagte ist zugleich der Verurteilte“

Anette Sorg
Ein Artikel von Anette Sorg

Nicht nur unsere Leserin S.P. – ihr Leserbrief ist unten angehängt – war irritiert über das mit Herrn Stegemann geführte Interview, das gestern auf den NachDenkSeiten erschienen ist. Dort wird die Empörung über Sexismus und die „metoo-Bewegung“ verglichen mit dem Umgang mit wirtschaftlich schwachen Menschen. Diese Relativierung sexueller Übergriffe ist nach Ansicht der Leserbriefschreiberin unnötig und unzulässig. Anette Sorg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wenn Bernd Stegemann im Interview behauptet:

“Wie in allen Kampagnen der letzten Jahre zu beobachten war, nimmt die Empörungswelle aufgrund eines „PC-Vergehens“ schnell Fahrt auf und die Gier der Öffentlichkeit nach möglichst vielen Schuldigen lockt immer mehr Anschuldigungen hervor. Wenn dann zum Beispiel bei der Metoo-Kampagne ein Kommentator auf SPIEGEL-Online fordert, dass es völlig richtig sei, wenn dabei auch unschuldige Männer öffentlich unter die Räder kämen, da es sich eben um eine Revolution handele, wird offenkundig, wie sehr die Lust an der allgemeinen Empörung zum archaischen Opferrausch führt. Denn erstens sind unschuldige Opfer nicht mit dem Hinweis darauf zu entschuldigen, dass das schon immer so gewesen sei. Zweitens handelt es sich bei einer medialen Empörungswelle nicht um eine Revolution, und drittens wird dabei die regressive Energie hinter der medialen Hetze verkannt.“

dann hat Stegemann ein äußerst unpassendes Beispiel für eine dieser Empörungswellen ausgewählt, indem er versucht, mit einem einzelnen – zugegeben bescheuerten Zitat – die Opfer zu Tätern werden zu lassen. Man muss nicht einmal Freund/in der „Metoo“- Bewegung sein, um ein Ablenkungsmanöver auf „unschuldige Männer“ vollkommen unangebracht zu empfinden. Zumal von einem einzigen Zitat abgeleitet und von der Realität keinesfalls gedeckt. Oder haben Sie von einem unschuldigen (männlichen) Opfer dieser Empörung gehört oder gelesen? In einem Interview über political correctness hätte ich mehr Korrektheit erwartet.

Die Heute Show vom 15.12.2017 hat sich diesem Thema übrigens ganz anders genähert. (ab Minute 5)

Überhaupt scheint Stegemann große Probleme mit Sexismus-Debatten zu haben, denn auch in einem weiteren Passus verharmlost er die „Aufregung“ um dieses Thema in unzulässiger Weise.

„…Und das Bild der champagnertrinkenden Broker auf der Frankfurter Börse, die den Demonstranten von Occupy höhnisch zuprosteten, hat nicht ansatzweise die Empörung hervorgerufen, die ein dümmlicher Kommentar eines alternden Berufspolitikers über das Dekolleté einer Journalistin provoziert hat.“

Ist es politisch korrekt, zwei gleichermaßen zu kritisierende Vorgänge gegeneinander auszuspielen? Wird die verbale Entgleisung Brüderles, auf die Herr Stegemann hier Bezug nimmt, weniger harmlos, wenn diese mit einem anderen, natürlich ebenso unerträglichen Ereignis verglichen wird? Wohl kaum.

Ich teile die Auffassung der Leserbriefschreiberin, die sagt:

„Den Ausgang der Frauen aus ihrer alles andere als selbst verschuldeten Opferrolle gleichzusetzen mit dem bigott-narzisstischen Protest einiger Upperclass-Studenten gegen Mensa-Essen, ist eine so grob unreflektierte Gleichmacherei, dass ich entsetzt bin, sie kritiklos bei den Nachdenkseiten abgedruckt zu sehen.“

Im Übrigen muss man sich als regelmäßige/r Nachdenkseitenleser/in schon wundern, wenn Stegemann auf Marcus Klöckners Frage

„Wie können sich Menschen gegen diese Form der sprachlichen Unterdrückung wehren? Das scheint ja alles andere als einfach.“

so antwortet, als gäbe es nicht seit nahezu 15 Jahren das Medium Nachdenkseiten und neben diesen noch viele weitere aufklärende Blogs, die sich eben dieser Aufklärung verpflichtet sehen und diese tagtäglich betreiben:

„…Und zum anderen ist die Technik der kommunikativen Macht ungleich höher entwickelt als wohl jemals zuvor. Es muss eine zweite Aufklärung kommen, doch woher sie dieses Mal kommt, kann ich noch nicht erkennen.“

Dass die Zahl der Aufgeklärten noch zunehmen muss, dass es einer breiteren Bewegung bedarf, um Manipulationen zu entlarven, darin wiederum sehe ich eine Übereinstimmung mit Herrn Stegemann.

Leserbrief der NachDenkSeiten-Leserin S.P.:

Warum nur ist die Linke so entsetzlich blind auf dem Auge der Geschlechterapartheid? Seit fünftausend Jahren sind Männer das – im Wortsinn – herrschende Geschlecht – fast überall auf der Welt. Wer es sehen möchte, kann es an beliebigen Parametern ablesen: an der Einkommensverteilung, an der Verteilung nicht bezahlter Arbeit, an den Täter- und Opferstatistiken, an der Verteilung von Machtpositionen, am Lärmpegel im Bundestag (der, wenn Frauen sprechen, signifikant höher ist, als wenn Männer sprechen), an der Frage, welches Geschlecht den Körper des anderen Geschlechtes (nebenbei: für einen Elendslohn) zur freien Verfügung kaufen kann usw. usw.

Die ach so glorreiche Französische Revolution brachte mitnichten allgemeine Menschen- und Bürgerrechte, so wenig wie die amerikanische: die Frauen durften so wenig wählen wie die Schwarzen; und sie durften es noch lange nicht, nachdem sie das Wahlrecht mit und für die Schwarzen (exakter: für die schwarzen Männer) erstritten hatten. In Europa erhielten die Frauen erst allmählich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts das Wahlrecht, die Schweizerinnen vor noch nicht einmal fünfzig Jahren, während attische Männer schon vor zweitausend Jahren wählten. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit kurzer Zeit überhaupt ein Straftatbestand, zuvor durfte der Mann über den Körper seiner Ehefrau mit oder ohne ihr Einverständnis verfügen, von den unzähligen nicht justiziablen Alltagsübergriffen, dem alltäglichen Machtmissbrauch des herrschenden Geschlechts gegenüber dem als „schwach“ erklärten nicht zu reden.

Die Abschaffung der Geschlechterapartheid ist ein zäher, langsamer Prozess gegen massiven Widerstand. Endlich schweigen Frauen nicht mehr schamhaft still, sondern treten mutig in die Öffentlichkeit. Dass dabei kein Unschuldiger beschuldigt werden soll, ist selbstverständlich. Ich habe bislang übrigens, bis auf den hinlänglich bekannten Weinstein, keine Namen gelesen, die Opfer verhalten sich bemerkenswert fair, auch wenn laut Stegemann ein (männlicher!) Kommentator der Ansicht ist, wo gehobelt würde, dürften Späne fallen. Reicht diese unqualifizierter Äußerung eines Mannes, um den überfälligen emanzipatorischen Aufbruch der Frauen im Keim zu ersticken? Geht es hierbei wirklich um drohendes Unrecht? Oder geht es nicht vielmehr darum, einer unangenehmen Verschiebung bestehender männlicher Machtstrukturen in Richtung einer gerechteren und gleicheren Welt entgegenzuwirken?

Den Ausgang der Frauen aus ihrer alles andere als selbst verschuldeten Opferrolle gleichzusetzen mit dem bigott-narzisstischen Protest einiger Upperclass-Studenten gegen Mensa-Essen, ist eine so grob unreflektierte Gleichmacherei, dass ich entsetzt bin, sie kritiklos bei den Nachdenkseiten abgedruckt zu sehen. Wieder einmal muss ich schmerzlich erkennen, dass ich als Frau selbst hier heimatlos bin. Wann werden die Aufklärer endlich aufwachen und auch das Machtgefälle zwischen Mann und Frau als das sehen, was es ist: ein schreiendes Unrecht, für jeden offensichtlich, der bereit ist, hinzusehen und für eine gerechtere Welt auch den Verlust ungerechtfertigter eigener Privilegien in Kauf zu nehmen.

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