Ein Musterbeispiel für die Eroberung von wichtigen politischen Einrichtungen. Von Jochen Scholz.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Am 2. November 2017 brachten die NachDenkSeiten einen Bericht über die üblich gewordene Eroberung wichtiger Einrichtungen durch Lobbyisten. Dieser Text folgte auf andere Beiträge, in denen wir darauf aufmerksam gemacht hatten, wie wichtige Einrichtungen unserer Gesellschaft von neoliberalen und Nato-orientierten Kräften erobert werden. Angeregt davon schickte uns Jochen Scholz, jahrelang Berufsoffizier und friedenspolitisch aktiv, einen Bericht über seine Erfahrungen. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein junger Mann löst sich zu Beginn der 1970er Jahre aus seiner konservativ geprägten politischen und gesellschaftlichen Sozialisation, die stark durch die Seminare der in Landesverbänden organisierten „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise“ beeinflusst worden war. Der Kreis der meist ehrenamtlichen Referenten setzte sich unter anderem aus ehemaligen Mitarbeitern der Wehrmachts-Propagandakompanien, des Göbbelsministerium „für Volksaufklärung und Propaganda“ sowie der Wochenzeitung „Das Reich“ zusammen. Zu den Zielgruppen gehörten die künftigen Führungskräfte von Polizei, Zoll, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr.

Dem jungen Mann eröffnen sich innen- wie außenpolitisch mit dem Antritt der Regierung Brandt-Scheel und deren Ministern Gerhard Jahn und Walter Arendt völlig neue Horizonte, und er beschließt, die das ganze Land erfassende Aufbruchstimmung nach dem eher drögen und veränderungsscheuen Agieren der bisherigen Bundesregierungen mitzugestalten: er tritt in die SPD ein.
Nach den langen Jahren der Regierungsabstinenz gab es 1998 endlich eine reale Chance für seine Partei, die nächste Bundesregierung zu führen. Also stürzte er sich in den Wahlkampf für rot-grün, der von den Themen soziale Gerechtigkeit und einer Außenpolitik geprägt war, die Friedenspolitik sein sollte. Die Reminiszenzen an die Wahlkämpfe von Willy Brandt waren unverkennbar. Seine persönliche Enttäuschung setzte jedoch bereits vor Antritt der neuen Regierung Schröder/Fischer, am 12. Oktober des Wahljahres wegen Entwicklungen und Entscheidungen ein, die ihm durch das Beziehungsgeflecht in seinem beruflichen Umfeld nahezu in Echtzeit bekannt wurden:

Im Bonner Kanzleramt erfahren Schröder, Fischer, Lafontaine und Verheugen von Kanzler Helmut Kohl, dass sie für ihre Entscheidung über den Kosovo keinen Aufschub mehr haben. Clinton will nicht warten, bis sich der neue Bundestag konstituiert. Er brauche die Zusage der Deutschen sofort, dass sie sich – falls die Nato das beschließt – am Kosovo-Krieg beteiligen. Sein Emissär Richard Holbrooke soll mit einer handfesten Drohung in Belgrad intervenieren.
Kohl und Außenminister Klaus Kinkel wirken bedrückt. Verteidigungsminister Volker Rühe referiert die Lage “mit unverkennbar triumphierendem Unterton”, sagt ein Teilnehmer. Er gilt als derjenige, der die Amerikaner dazu bewegt hat, auf eine schnelle Entscheidung zu drängen.“ – spiegel.de

Auf die Zusicherung von Außenminister Kinkel hin, dass der Bundestag zu jedem NATO-Beschluss gefragt werden müsse, gibt Schröder die geforderte Zusage. Wie viel Kinkels Zusicherung wert war, zeigte sich in den Monaten danach. Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober 1998, der Bundesrepublik Jugoslawien unter deutscher Beteiligung militärische Gewalt anzudrohen, ging ohne weitere Befassung des Parlaments am 24. März 1999 unter sozialdemokratischer Führung in den ersten völkerrechtswidrigen Krieg Deutschlands seit 1945 über.

Unser inzwischen nicht mehr ganz so junger Mann gibt noch nicht auf. Er lässt sich Ende 1998 vom Parteifreund und Direktor des „Institut(s) für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ an der Universität Hamburg, Dieter S. Lutz, in die von ihm ins Leben gerufene „Kommission Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr“ (Bundeswehrkommission) berufen. Das 1971 gegründete Institut hat den Auftrag, „friedensrelevante Forschung verstärkt zu fördern“. Seine beiden ersten Direktoren, der General a. D., Friedensforscher und geistige Vater der „Inneren Führung“ der Bundeswehr, Wolf Graf Baudissin (1971 bis 1984) und Egon Bahr (1984 bis 1994) waren hinsichtlich der Umsetzung dieses Forschungsauftrags über jeden Zweifel erhaben. Dieter S. Lutz (1994 bis 2003) versuchte gegen die nach 1990 immer deutlicher werdenden Tendenzen, Deutschlands Kultur der Zurückhaltung in der Außenpolitik zugunsten einer vermeintlichen, an den Verbündeten orientierten „Normalität“ zu ersetzen, den Kurs seiner beiden Vorgänger fortzuführen. Dazu gehörte es auch, die Arbeitsgremien mit Personen zu besetzen, die eine militärisch gestützte Interessenpolitik und einen laxen Umgang mit dem Völkerrecht als einen historischen Rückschritt ansahen. Dies gelang zwar, die erarbeiteten Konzepte und Arbeitspapiere fanden jedoch in der Politik keine Abnehmer mehr, weil sich die rot-grüne Bundesregierung zwischen 1998 und 2002 dem außenpolitischen Kurs der US-Präsidenten Clinton und George W. Bush widerspruchslos untergeordnet hatte. Beispielhaft hierfür steht Bundeskanzler Schröders Forderung nach der „Enttabuisierung des Militärischen“ . Von einem sozialdemokratischen Regierungschef hätte man eigentlich eine Haltung erwarten dürfen, wie sie der 2016 verstorbene Karl Feldmeyer in der FAZ vom 23. 11. 2002 formulierte:

Zwei Weltkriege haben dazu beigetragen, den Begriff “Verteidigung” (gemeint ist: nach dem Grundgesetz, JS) ganz eng auszulegen. Was andernorts als “präemptive Intervention” bewertet werden mag, kann sich in den Augen der Deutschen als Angriff ausnehmen – und den verbieten UN-Charta und Grundgesetz. Schon Bismarck verweigerte das “praevenire”. Für diese Haltung brauchen sich die Deutschen nicht zu entschuldigen, schon gar nicht bei ihren Verbündeten, die einst Opfer deutscher Angriffe waren.

Karl Feldmeyer kam damit den Vorstellungen von Dieter Lutz hinsichtlich einer verfassungsgemäßen Außen- und Sicherheitspolitik ziemlich nahe. Zum Erscheinungszeitpunkt des Leitartikels war Lutz bereits zutiefst enttäuscht über seine Partei und auch zunehmend desillusioniert, was seine Einflussmöglichkeiten betraf. Unser Protagonist konnte seinen Weg in die sich abzeichnende Resignation bei vielen Gelegenheiten beobachten. Nachdem durch den Rücktritt Oskar Lafontaines von allen Partei- und Regierungsämtern im April 1999 ein neuer Parteivorsitzender gewählt werden musste, berieten die sich zur Parlamentarischen Linken zählenden Abgeordneten und Unterstützer am Vorabend in ihrem Bonner Stammlokal „Linde“ über den Leitantrag, der die Delegierten aufforderte, der Fortsetzung des seit drei Wochen anhaltenden Krieges gegen Jugoslawien zuzustimmen. Während der Debatte saß Dieter Lutz mit versteinertem Gesicht auf seinem Platz und war unfähig, mit Argumenten in die Diskussion einzugreifen. Am folgenden Tag, während des Ganges durch die Reihen der Parteitagsdelegierten, wiederholte er ein um das andere Mal tief getroffen: Stell Dir vor, so etwas machen unsere Leute!

Aber er fing sich noch einmal und machte zusammen mit seinem Stellvertreter Reinhard Mutz am 24. März 2001 den Versuch, mit einem Offenen Brief die Abgeordneten des Deutschen Bundestages für die Idee zu gewinnen, eine unabhängige Untersuchung der Hintergründe und Folgen dieses Krieges einzuleiten. Der Vorschlag enthielt die zwei Jahre nach dem Geschehen gewonnenen Einsichten und vor allem Erkenntnisse über das Lügengebäude – im heutigen Sprachgebrauch Fake News – mit dem der Krieg gerechtfertigt worden war, so wie einige unleugbare Fakten über seine Völkerrechtswidrigkeit. Die einzig bekanntgewordene Reaktion aus dem Bundestag stammt vom seit 1998 stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden und Zuständigen für Außenpolitik, Gernot Erler. Er hatte seine politische Laufbahn der Unterstützung aus dem Freiburger Umfeld der Friedensbewegung zu verdanken und galt bis 1998 als links. Bereits während der oben erwähnten Sitzung in der „Linde“ hatte sich gezeigt, dass er seine Überzeugungen – er war u. a. Fördermitglied im „Darmstädter Signal“ – zugunsten der Karriere ad acta gelegt hatte, obwohl an diesem Abend noch Anzeichen von schlechtem Gewissen wegen der Vorwürfe aus seinem Freiburger Parteiumfeld zu erkennen waren. Bei der schäbigen Antwort an seinen Parteifreund Lutz hatte sich das schlechte Gewissen längst verflüchtigt, schließlich musste er den „Laden zusammenhalten“. Das war natürlich wichtiger, als sich an Völkerrecht und Verfassung zu halten. Wie die Überschrift seines Interviews mit der Badischen Zeitung – „Friedenspolitik ist mein Lebensthema“ – vor diesem Hintergrund einzuordnen ist, muss wohl nicht weiter erläutert werden.

Dieter Lutz ist es hoch anzurechnen, dass er entgegen des Kurses seiner (Regierungs-)Partei und deren finanziellen Druckmitteln im Institut und seiner „Bundeswehrkommission“ für die personelle Kontinuität sorgte, die dessen Auftrag erfordert. Nach seinem frühen Tod 2003 und der Interimszeit bis 2006 sieht dies heute anders aus. Da wurden Studien und Arbeitspapiere gemeinsam mit einem Offizier erstellt, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter der grünen Bundestagsfraktion beim Sonderparteitag im Mai 1999 in Bielefeld jubelnd die Arme hochgerissen hatte, als die Delegierten der Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Krieges gegen Jugoslawien zustimmten. In die Kommission wurden aktive und ehemalige Bundestagsabgeordnete berufen, deren außenpolitischer Horizont nicht über die Vasallentreue zur NATO-Führungsmacht hinausreicht, die gleichwohl jedoch stets behaupten, dem Frieden verpflichtet zu sein, u. a. Winfried Nachtwei.

Wer dessen verbale Eiertänze liest – hier und hier – und sie mit den Argumenten im Offenen Brief von Dieter Lutz vergleicht, dem dürfte es schwerfallen, den ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten als dessen Gleichgesinnten anzusehen; zumal Nachtwei noch heute einige längst als Lügen entlarvte Begründungen für den Angriffskrieg hochhält und dem KFOR-Einsatz der Bundeswehr seine Referenz erweist: „Nachtwei: KFOR darf kein vergessener Einsatz sein“.

Den Antrag „Die Luftangriffe sofort beenden und mit der Logik der Kriegsführung brechen“ beim Bielefelder Sonderparteitag 1999 seiner Partei hatte er hingegen nicht mitgetragen, obwohl es eigentlich in der Logik seiner Enthaltung bei der Abstimmung am 16. Oktober 1998 über den „Antrag der Bundesregierung über die Deutsche Beteiligung an den von der NATO geplanten begrenzten und in Phasen durchzuführenden Luftoperationen zur Abwendung einer humanitären Katastrophe im Kosovo-Konflikt“ gelegen hätte, mit dem für Deutschland das Verhängnis begann.

Nicht besser sieht es bei Lars Klingbeil (SPD) aus, der bis vor Kurzem Mitglied der Bundeswehrkommission war und sich beim „Förderkreis des Deutschen Heeres“ als Rüstungslobbyist betätigt.

Dessen Nachfolge trat Niels Annen an, der als außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion zu vertreten hat, was sich die Partei 2017 in ihr Regierungsprogramm geschrieben hatte: „Die NATO ist und bleibt ein tragender Pfeiler der transatlantischen Partnerschaft. Sie ist für Frieden und Sicherheit in einer Zeit neuer internationaler Unsicherheiten und Herausforderungen unverzichtbar.“ Wer einst „Senior Resident Fellow“ beim German Marshall Fund in Washington war und Mitglied der Atlantikbrücke ist, gibt dann solche Propagandasprüche von sich:

Und die schlichte Wahrheit ist, dass Präsident Assad nicht gegen die Terroristen der Terrormiliz IS kämpft. Er kämpft gegen die Opposition.

Auch Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) ist während seiner Zeit als Mitglied des Verteidigungsausschusses nicht als Gegner einer global einsatzfähigen Bundeswehr aufgefallen

Der Charakter der einst von Dieter Lutz gegründeten Bundeswehrkommission hat sich grundlegend verändert. Sie ist unter der neuen Leitung zu einem Organ geworden, das im Grundsatz den außen- und sicherheitspolitischen Kurs der jeweiligen Bundesregierung mitträgt.

Damit reiht sie sich ein in die Institutionen, die sich einer transatlantisch konformen Beratung verschrieben haben wie die Stiftung Wissenschaft und Politik, der deutsche Teil des German Marshall Fund, die Bundesakademie für Sicherheitspolitik oder das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

Wie in zahlreichen anderen Gremien wird auch am ISFH mit zielgerichteter Personalpolitik verhindert, was schon Friedrich II. von Preußen von Politikberatung forderte: Ich habe Sie zum Stabsoffizier gemacht, damit Sie wissen, wann Sie nicht gehorchen sollen.

Ob die wenigen aus der Ära Lutz in der Kommission Verbliebenen das Steuer noch einmal herumreißen können, bleibt nach dem Tod von Reinhard Mutz am 13. Dezember 2017 fraglich.

Nachbemerkung: unser Protagonist ist nach 2009 aus der Bundeswehrkommission ausgeschieden.