Sind die NachDenkSeiten gescheitert? Wählen gehen. Trotz allem.

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Dieser Tage fragte uns ein Leser per Mail: Wenn es nach der Bundestagswahl zu einer Radikalisierung des derzeitigen politischen Kurses durch Schwarz-gelb oder bestenfalls zu einer Fortsetzung durch eine (kleiner gewordene) große Koalition von Union und Sozialdemokraten kommt, ist Euer Projekt NachDenkSeiten dann nicht gescheitert? Wolfgang Lieb

Offen gestanden, der Wahlabend wird uns sehr nachdenklich machen. Die Wahlergebnisse werden, wenn es keine Überraschung gibt, keinen politischen Kurswechsel ermöglichen.
CDU/CSU werden etwas eingebüßt und die FDP wird ein wenig zugelegt haben, die SPD wird deutlich unter dreißig Prozent bleiben und sich als Volkspartei verabschieden, die Grünen dürften ihr letztes Ergebnis stabilisieren und nur die Linke wird etwas besser abgeschnitten haben, als es die Demoskopen vorhergesagt hatten.

Die einzig noch interessante Frage wird sein, ob die Union und die Liberalen dank der Überhangmandate mit ihrer knappen Mehrheit an Parlamentsmandaten eine Koalition riskieren werden oder ob sich diejenigen Kräfte in der CDU durchsetzen, die der Auffassung sind, dass es mit Steinmeier und Steinbrück als Amtsträger und mit den Sozialdemokraten im Beiboot doch viel leichter ist, die nach der Wahl aus ihrer Sicht unumgänglichen Grausamkeiten durchzusetzen. Schließlich tut man sich doch leichter, nach der Wahl die großen Lasten für die Bankenrettung von der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger abzuverlangen, wenn man die SPD und damit immer noch einen großen Teil der Arbeitnehmerschaft einbindet. Die letzte Legislaturperiode hat doch bewiesen, dass es sich gegen eine schwache und dazu politisch gespaltene Opposition mit drei kleinen Parteien ganz gut auch gegen eine weitverbreitete Meinung in der Bevölkerung durchregieren lässt.
Außerdem besteht die Gefahr, dass, wenn die SPD im Bund in der Opposition ist, die Sozialdemokraten ja über die Länder wieder an politischem Einfluss gewinnen könnten.

Da werden zwar einige der schwarz-gelb gepolten Medien beklagen, dass es aus demokratietheoretischen Erwägungen besser wäre, wenn der Regierungskoalition eine starke Opposition gegenüber stünde. Auch der wirtschaftsliberale Flügel der Union wird sich für ein Zusammengehen mit den Liberalen einsetzen, weil damit der wirtschaftspolitische Kurs der simplen Unternehmenslogik stabiler abgesichert ist. Man könne ja nie sicher sein – so wird sicherlich argumentiert werden -, ob es in der SPD nicht doch noch irgendwann zu einer Palastrevolution durch Frau Nahles und Herrn Wowereit kommen könnte, denn schließlich könne Müntefering ja nicht ewig Parteivorsitzender sein und seine Partei auf Regierungskurs einschwören. Und eine knappe Mehrheit habe bekanntlich eine disziplinierende Wirkung auf die Regierungsfraktionen, wird man sagen.

Und Westerwelle wird nach elf Jahren der Abstinenz ohnehin massiv in Regierungsämter für seine FDP drängen, zumal er sich wieder als der einzige Wahlsieger aufspielen wird und den Regierungsanspruch für sein „bürgerliches Lager“ reklamieren dürfte.

Einige werden räsonieren, dass man ja vielleicht zur Verbreiterung der Mehrheit von Schwarz-gelb noch die Grünen ins Boot nehmen könne, dort gibt es an der Parteispitze schließlich starke Kräfte, die kaum Berührungsängste mit Schwarz-gelb haben. Aber das führte bloß zu heftigen Auseinandersetzungen an der grünen Parteibasis – wenigstens bis zum Abschluss eines Koalitionsvertrages und sorgte deshalb für unsichere Übergangszeiten.

Steinmeier und Steinbrück werden dagegen alles tun und vor allem noch mehr preisgeben als bisher, um ihre Ämter zu retten und angesichts der weiteren Schwächung der SPD gegenüber der letzten Bundestagswahl (die gemessen an den demoskopischen Ausgangswerten als Sieg dargestellt werden wird) und angesichts der notorischen „Disziplin“ der SPD würde die Regierungsbeteiligung als ein großer Erfolg gefeiert. Müntefering wird im Willy-Brandt-Haus vor die Mikrofone treten und verkünden, ohne die SPD könne keine starke Regierung gebildet werden: Wir haben unser Wahlziel voll erreicht. Der nach jeder Wahlniederlage inzwischen übliche Jubel der Claqueure wird folgen.

So oder so ähnlich dürfte der Wahlabend ablaufen und wir müssen jedenfalls damit rechnen, dass der an fast allen Fakten gemessene gescheiterte „Reform“-Kurs fortgesetzt wird, je nach Regierungsbildung ein bisschen radikaler vorgetragen und durchgesetzt. Eine Bestandsaufnahme oder gar eine Richtungsänderung wird es nicht geben und die Lastenverteilung der Krisenkosten ist vorprogrammiert.

Sollten wir deshalb, wie offenbar immer mehr Menschen – die Wahlbeteiligung dürfte einen neuen Tiefststand erreichen –, resignieren? Sollten wir eingestehen, dass wir der geballten Macht der Meinungsmache, den Interessen der Finanzindustrie und der Großwirtschaft, den finanzstarken Besitzstandswahrern, dem Netzwerk der interessengebundenen „Experten“ und dem politischen Kartell von FDP, CDU/CSU, SPD und Grünen mit unseren Argumenten und Fakten nichts entgegensetzen können?

Sicherlich, das Weiter-so über eine weitere Legislaturperiode, wird viele Dinge – vom Sozialabbau, über die Umverteilung von unten nach oben bis zur Privatisierung der Bildung – verfestigen. Die Anstrengungen der „Eliten“ und der Leitmedien werden eher zunehmen, das Falsche als das Richtige und Alternativlose darzustellen. Doch damit wird diese Politik nicht richtiger und die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich nicht aufgehalten.

Die Aufgabe und die Verpflichtung der NachDenkSeiten werden dadurch eher größer als kleiner. Es wird noch wichtiger, Sie rechtzeitig zu informieren, Sie mit Fakten und Argumenten dagegen zu wappnen, von Politikern und Meinungsmachern hinters Licht geführt zu werden. Sie und wir werden uns noch stärker vergewissern müssen, dass wir mit unseren Einsichten und unseren Erfahrungen nicht allein stehen. Wir wollen jedenfalls nicht, dass Sie in die Resignation flüchten, sondern dass Sie sich weiter, ja sogar noch engagierter einmischen. Das NachDenken darf nach einer Wahl nicht aufhören – im Gegenteil.

Doch zunächst einmal sollten Sie zur Wahl gehen und alle, die Sie kennen, dazu auffordern. Das schon allein deshalb, damit Sie sich am Wahlabend nicht anhören müssen, dass eine „Mehrheit“ der Wählerinnen und Wähler dem selbst ernannten „bürgerlichen Lager“ das Vertrauen ausgesprochen habe und Sie als Bürgerin und Bürger ausgeschlossen werden.
(Siehe auch Die Mär von den “verlorenen Stimmen”)

Wo Sie in der jetzigen Lage Ihre Kreuze auf dem Stimmzettel machen (oder ob Sie gar dem Rat des Kaberettisten Urban Priol folgen und „die nicht“ vermerken), das wissen Sie als Leserin und Leser der NachDenkSeiten selbst am besten.

Vielleicht können Sie ja mit Ihrer Stimme am Wahlabend noch für eine wenigstens kleine Überraschung sorgen.