Wo die Reise hingehen soll – der Koalitionsvertrag nach Schlüsselbegriffen durchsucht

Anette Sorg
Ein Artikel von Anette Sorg

Der Koalitionsvertrag ist schon verschiedentlich analysiert worden. Da ich gehäuft über verschiedene Begriffe gestolpert war, wollte ich eine andere Analyse machen – nach der Häufigkeit von wiederkehrenden Worten. Die Ergebnisse meiner Zählung finden Sie jeweils in Klammern hinter den fett gedruckten Begriffen. Mitgezählt wurden auch zusammengesetzte Substantive mit dem jeweiligen Begriff, sowie Adjektive, die den Begriff enthalten. – Überraschend war nicht, welche Begriffe am häufigsten verwendet wurden, überraschend war die jeweils unglaublich hohe Anzahl. Auf 177 Seiten einen einzigen Begriff – in kleiner Abwandlung – 155 Mal zu erwähnen, ist eine zweifelhafte Leistung. Anette Sorg.

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Digitalisierung – Europa – Sicherheit

Das etwas abgenutzt wirkende Wort Globalisierung (19) wird immer noch häufig gebraucht. Aber es wird um Längen übertroffen vom Begriff Digitalisierung (94!!). Siehe dazu ein früherer Beitrag auf den Nachdenkseiten: "Alle reden von Digitalisierung. Führen sie etwas im Schilde?".

Ähnlich inflationär wird Europa (110) strapaziert und mehr noch die Sicherheit (155). Hatte man im Wahlkampf von Martin Schulz zu Europa nahezu nichts gehört, taucht Europa hier sehr prominent auf: In der Überschrift des Koalitionsvertrages als fünftes Wort gar, noch vor Deutschland, das erst in der zweiten Zeile erwähnt wird.

Wenn man von der Quantität auf die Qualität schließt, scheinen Sicherheit und Digitalisierung und Europa die großen Projekte der noch zu gründenden „nicht mehr so großen Koalition“ zu sein.

Ob diese Schwerpunkte aber der Lebenswirklichkeit der Mehrheit derer, die über den Koalitionsvertrag abstimmen werden, oder derer, die die Betroffenen dieser Politik sein werden, entsprechen, ist fraglich.

Dass das Wort Frieden (40) immerhin vierzig Mal erwähnt wird, wirkt jedenfalls auf den ersten Blick beruhigend. Leider wird der Begriff sehr häufig in Verbindung mit der „deutschen Verantwortung“ in Europa und der Welt genannt. Dass damit die Beteiligung Deutschlands an militärischen Operationen, an Kriegseinsätzen gemeint ist, wird verschleiert.

Umwelt (42), Klimawandel (5), Armut (7), Sozialstaat (5)

Immerhin schafft es das Wort Umwelt mehr als vierzig Mal in den Vertrag. Der bedrohliche Klimawandel mit seinen verheerenden Folgen, Kinder- und Altersarmut und der Sozialstaat fristen in diesem Vertragswerk ein Nischendasein.

Prüfen oder überprüfen (99)

Wir erinnern uns, dass Einiges, das im letzten Koalitionsvertrag verabredet worden war, von der CDU/CSU einfach „ausgesessen“ wurde. Die Vielzahl an (Über-)Prüfungsvorhaben kann deshalb nur alarmieren. Überprüfungen können bisweilen sehr lange dauern, sogar länger als eine – ohnehin schon verkürzte – Legislaturperiode.

Übrigens: Albrecht Müller hat in seinem Buch „Die Reformlüge“ eindrucksvoll beschrieben, wie der Begriff „Globalisierung“ von den neoliberalen Kräften unseres Landes missbraucht wurde, um der Agenda 2010 den Boden zu bereiten. Es steht zu befürchten, dass „Digitalisierung“ als weiterer Kampfbegriff missbraucht wird, um von wirklich notwendigem, politischem Handeln abzulenken und eine neue neoliberale Agenda vorzubereiten bzw. die Fortsetzung der alten zu begründen. So wenig wie die Globalisierung ein unaufhaltsames Naturgesetz und auch nichts Neues war, so wenig ist es auch die Digitalisierung. Wer das anders darstellt, hat sich als Gestalter verabschiedet. Wer das tut, hat es nicht verdient, uns zu repräsentieren und uns zu regieren. Gestaltungswillen und Gestaltungsvermögen braucht es für die Digitalisierung gleichermaßen wie für den Klimawandel, die Friedenspolitik und die Einkommens- und Vermögensverteilung in unserem Land und in Europa.