Geschichtsfälschungsversuche von Angela Merkel und Union. Kleinkariert.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wo war eigentlich Egon Bahr am Tag, als Angela Merkel Gorbatschow und den Polen Walesa begrüßte? War er eingeladen? Egon Bahr ist der entscheidende noch lebende Kopf jener gewandelten Außen- und Sicherheitspolitik, die mit der Bundeskanzlerschaft Willy Brandts die verkrustete Konfrontation zwischen Ost und West auflöste. Obwohl Willy Brandt und Egon Bahr einen wesentlichen Teil der Vorarbeit zum Fall der Mauer geleistet haben, war Egon Bahr offensichtlich nicht eingeladen. Und Willy Brandt, Merkels Vor-Vor-Vorgänger und Träger der neuen Friedenspolitik kam in Merkels Jubiläumsreden kein einziges Mal vor. Albrecht Müller

Wandel durch Annäherung
Willy Brandt hatte ein Jahr nach dem Mauerbau, im Jahr 1962, einen engen Kreis von Mitarbeitern in ein politisch unverdächtiges Arbeiterwohlfahrtshaus nach Kladow, einen Teil Westberlins, eingeladen, zum Gespräch über die Konsequenzen des Mauerbaus für die weitere Politik Berlins, der Bundesrepublik und des Westens. Mit dabei Egon Bahr und zwei weitere Berliner Politiker, die noch leben: Klaus Schütz, späterer Regierender Bürgermeister von Berlin und Horst Grabert, später Bundessenator Berlins und Kanzleramtschef bei Willy Brandt.
Egon Bahr hat 1963 auf einer Tagung in Tutzing öffentlich geäußert, was sich Willy Brandt und seine Mitarbeiter in Kladow und schon davor ausgedacht hatten, um die Trennung Deutschlands menschlich erträglicher zu machen und letztlich zu überwinden: die neue Ostpolitik, die Vertrags- und Friedenspolitik, wie man die damalige neue Politik zur Ablösung der Ost-West-Konfrontation nannte.

Egon Bahrs Formel von Tutzing hieß: Wandel durch Annäherung (Siehe Anlage 1). Brandt und seine Mitarbeiter, Egon Bahr war damals sein Pressesprecher, hatten erkannt, dass die Konfrontation in eine Sackgasse geführt hat. Der Mauerbau im Jahre 1961 war die in Beton gegossene Kapitulation für den Osten und den Westen. Und sie hat den von der Trennung betroffenen Menschen weder im Westen noch im Osten geholfen. Das Konzept „Wandel durch Annäherung“ zielte darauf, durch Abbau der Konfrontation und der Feindseligkeiten einen inneren Wandel in den Staaten des Warschauer Paktes in Gang zu setzen und so das Leben der Menschen dort zu erleichtern.
Es blieb nicht bloß beim Konzept. Willy Brandt hat gleich im Dezember 1966, als er Vizekanzler und Außenminister in der ersten Großen Koalition geworden war, mit der neu konzipierten Entspannungspolitik Ernst gemacht. Er versicherte sich der Unterstützung der westlichen Partner auf einer Konferenz der NATO-Außenminister in Reykjavik. Es folgten eine Reihe von Verträgen mit Polen, mit der Sowjetunion, mit Tschechien, mit der DDR.
Diese Verträge und die gesamte neue Ostpolitik wurde von großen Teilen der Union – nicht von allen – massiv bekämpft und begleitet von üblen Verdächtigungen gerade gegenüber Brandt und Bahr.
Aber die Regierung Brandt und die Regierung Schmidt hat diese Entspannungspolitik auch gegen diese Widerstände durchgesetzt. Von nachhaltigem Erfolg war auch die damit verbundene KSZE, die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die wesentlich von Willy Brandts Nachfolger im Kanzleramt, von Helmut Schmidt, getragen wurde.
Diese Zusammenarbeit zielte auf Wandel im Innern der mittel- und osteuropäischen Staaten, auch in der DDR. Wandel durch Annäherung. Wandel durch Abbau der Konfrontation. Dieses Konzept ist über weite Strecken aufgegangen. Gorbatschow und seine Politik wären ohne diese veränderte Politik des Westens nicht möglich gewesen.

In Merkels Reden zum Mauerfall kommen jene, die für den Abbau der Spannungen zwischen Ost und West hart gearbeitet haben, nicht vor – weder Brandt noch Schmidt noch Bahr und die andern.

Eigentlich wäre es logisch, konsequent und fair gewesen, wenn bei den Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerdurchbruchs auch dieser Initiatoren gedacht worden wäre. Aber dies ist offensichtlich nicht im Interesse der konservativen Kräfte in Deutschland. Merkel erwähnte bei den einschlägigen Reden neben Gorbatschow, Vaclav Havel, der Solidarnosc und den demonstrierenden Bürgern in der DDR vor allem Helmut Kohl und Hans Dietrich Genscher. Willy Brandt kommt in keiner ihrer Reden vor. Nebenbei: Die Erwähnung Genschers ist besonders apart, weil dieser damalige FDP-Vorsitzende nämlich beim Versuch einer Koalitionsschmiede mit Kohl im April 1980 die Entspannungspolitik als beendet erklärt hat. Ich weiß noch sehr genau, wie Helmut Schmidts Redenschreiber und FDP-Mitglied Breitenstein zwei Tage nach der von der FDP verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen, die die Friedenspolitik zum Hauptgegenstand hatte, in die morgendliche Lage des Bundeskanzleramtes kam und feixend erklärte, das FDP-Präsidium habe in seinem Beisein am Abend vorher bei einer Wahlanalyse beschlossen, jetzt wieder für die Entspannungspolitik zu sein.

Es ist an Angela Merkels Reden und Verhalten deutlich erkennbar, dass die CDU/CSU und die sie tragenden Kräfte versuchen, den Anteil der Friedenspolitik an der Annäherung zwischen Ost und West und damit am Wandel und am Mauerfall vergessen zu machen. Helmut Kohl ist nach dieser Geschichtsversion der alleinseligmachende Einheitskanzler. Die Vor-Arbeiter werden vergessen gemacht.
Zu Ehren von Westerwelle bleibt anzumerken, dass immerhin eher in der Bundestagsdebatte vom 10. November Willy Brandt und den früheren FDP-Vorsitzenden und Bundespräsidenten Walter Scheel erwähnt.
Zur Unehre von Steinmeier bleibt anzumerken, dass dieser Fraktionsvorsitzende der so genannten SPD bei seiner Replik auf Merkel am 10. November unfähig oder unwillig war, die Bundeskanzlerin mit ihrer Geschichtsfälschung zu konfrontieren. Auch bei ihm kommt weder Brandt noch Schmidt noch Bahr im Zusammenhang mit dem Mauerfall vor.
Zur Unehre einiger Bürgerrechtler bleibt noch anzumerken, dass sie das Spiel der christdemokratischen Geschichtsfälschung decken.

Auch die Versöhnung mit unseren Nachbarn versuchen die konservativen Kreise sich ans Revers stecken.

Willy Brandt und seine Mitstreiter haben nicht nur die Konfrontation abgebaut und Verträge geschlossen. Sie haben auch Wesentliches dafür geleistet, dass es zur Versöhnung zwischen den Deutschen und unseren Nachbarn, die unter dem Zweiten Weltkrieg maßlos gelitten hatten, kam. Der Kniefall von Warschau ist ein Symbol dafür. Aber eben nur ein Symbol für Brandts Ausstrahlung in praktisch alle Nachbarländer. Weil Willy Brandt aus Hitler-Deutschland nach Norwegen und Schweden geflohen war, wofür er hierzulande gerade von Konservativen und Christdemokraten übelst gescholten wurde, war er bei unserer Nachbarn besonders glaubwürdig. Auch andere führende Sozialdemokraten haben viel zur Versöhnung mit unseren Nachbarn beigetragen. Zu nennen wäre an erster Stelle Gustav Heinemann, Bundespräsident von 1969 bis 1974.

So als habe es diese Versöhnungsleistungen nicht gegeben, wurde dann später immer wieder neu auf diesem Klavier gespielt. Westerwelle tat jetzt bei seinem Besuch in Polen so, als würde er dort mit der Versöhnung beginnen. Helmut Kohl hielt mit Mitterrand die Hand über deutschen und französischen Gräbern, so als wäre lange vor ihm nichts zur Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland geschehen. Usw.

Ein besonders eklatantes Beispiel dieser dreisten Neubesetzung der Versöhnungsleistung habe ich bei der offiziellen Volkstrauerfeier des Landes Nordrhein-Westfalen im Kölner Gürzenich erlebt. Dort hielt am 13. November die Präsidentin des Landtags von Nordrhein-Westfalen, Regina van Dinther, die Gedenkrede. Sie begann mit einer ausführlichen Rückerinnerung auf die Feiern zum 20. Jahrestag des Mauerdurchbruchs und schloss diese Passagen mit der Feststellung ab, erst mit dem Fall der Mauer hätte die Friedensarbeit mit den anderen Völkern begonnen werden können. Das ist ein Beispiel für die immer wiederkehrende Geschichtsfälschung von Seiten christdemokratischer und rechtskonservative Seiten in Deutschland. Hier wird beiläufig und immer wieder Meinung gemacht, mit der man letztlich die Geschichtsschreibung bestimmen will. Die bedeutende Rolle der Friedenspolitik und Versöhnungspolitik Willy Brandts soll aus der Geschichte hinaus komplementiert werden.

Ich schließe ab mit dem Beginn des dafür einschlägigen Kapitel 6 von „Meinungsmache“. Dort habe ich mehrere Beispiele dafür beschrieben, wie durch Beeinflussung der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung Geschichte geschrieben und umgeschrieben wird:

Kapitel 6
Meinungsmache bestimmt das Bild der Geschichte

»Das wird die Geschichtsschreibung erweisen«, sagen wir gelegentlich, wenn wir uns untereinander nicht einig werden, wie ein gesellschaftlicher, ein kultureller oder ein politischer Vorgang einzuordnen sind. In dieser Feststellung schwingt das Vertrauen mit, dass Geschichtsschreibung die Geschehnisse trotz allem Zwang zur Auswahl und zur Bewertung objektiv abbildet. Sobald man jedoch Selbsterfahrenes als Folie auf die niedergeschriebenen historischen Abhandlungen legt, kommt man zu ziemlich anderen Schlüssen. Über beachtlich weite Strecken ist die Geschichtsschreibung offenbar davon bestimmt, was zur Zeit des Geschehens öffentliche und veröffentlichte Meinung war:

  1. Es wird schon seit 1990 fortwährend gesagt, Helmut Kohl sei der Kanzler der deutschen Einheit, der Einheitskanzler – und am Ende wird in den Geschichtsbüchern vor allem hängenbleiben, dass wir die deutsche Vereinigung fast ausschließlich ihm verdanken, vielleicht noch George Bush senior und Michail Gorbatschow. Helmut Kohl war in der Zeit der deutschen Vereinigung Bundeskanzler. Er hat in dieser Phase vieles für die Einheit Wichtige klug und beherzt angepackt. Aber dass die von Willy Brandt und seinen Freunden eingeleitete und dann von Brandt als Außenminister und Bundeskanzler betriebene und bei heftigem Widerstand eines großen Teils von CDU und CSU durchgesetzte Entspannungspolitik überhaupt erst die Grundlagen dafür schuf, wird mehr und mehr beiseitegeschoben. Auch Geschichtsschreibung wird gemacht, und wer mehr publizistische Macht hat und über die größere Meinungsmacht verfügt, macht eben mehr Geschichtsschreibung.
  2. Es wird schon seit den siebziger Jahren notiert, Bundeskanzler Brandt sei ein »Außenkanzler« gewesen, von Wirtschaftspolitik habe er nicht viel verstanden, und er habe sich auch sonst um Fragen der Innenpolitik kaum gekümmert – und siehe da: Heute hat sich dieses Urteil festgesetzt, unabhängig von den gegensätzlichen Fakten einer gerade wirtschafts- und gesellschaftspolitisch erfolgreichen Kanzlerschaft. Usw. …

Anlage 1
Wandel durch Annäherung

In einem Diskussionsbeitrag auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing am 15. Juli 1963 verwendet Egon Bahr – Pressesprecher und enger Berater von Willy Brandt – die Formel „Wandel durch Annäherung“. Dahinter steckt das Konzept für eine neue Ost- und Deutschlandpolitik, wie sie Brandt schon seit den fünfziger Jahren entwickelt. Die bisherige Politik gegenüber dem Osten, so Egon Bahr, habe auf das „Alles oder Nichts“ einer deutschen Wiedervereinigung gezielt und sei gescheitert. Einen praktikablen Weg zum Sturz des Regimes gebe es nicht. Die Bundesrepublik müsse vielmehr durch eine Ausweitung der Handelsbeziehungen auf Erleichterungen und materielle Verbesserungen für die Menschen in der DDR hinarbeiten. Davon erwartet Bahr eine entspannende Wirkung im innerdeutschen Verhältnis, die es der Ost-Berliner Führung erlauben würde, einer Lockerung des Grenzregimes zuzustimmen, weil das Risiko für sie erträglich werde. Die Thesen Bahrs sorgen für beträchtlichen Wirbel. In Teilen der SPD, aber vor allem bei den Christdemokraten gibt es harsche Kritik. Man sieht die „gemeinsame Frontstellung gegen den Kommunismus“ gefährdet.
Die Ausführungen Bahrs entsprechen dem ostpolitischen Konzept Willy Brandts. Der Berliner Pressechef hat unmissverständlich ausgesprochen, was sein Chef bisher sehr vorsichtig umschrieben hatte. Brandt befürchtet allerdings, dass die Formulierung „Wandel durch Annäherung“ als beabsichtigte Annäherung an das kommunistische System missverstanden werden könnte.
Quelle: Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung

Anlage 2:
Sicherheit und Zusammenarbeit: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE)

Quelle: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

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