Rote Karte für unsere Medien in ihrem Match gegen Russland? Teil 1: Russland ist ganz anders

Ein Artikel von:

Der NachDenkSeiten-Leser Michael Steinke[*] hat die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland besucht und sich vier Wochen lang vor Ort einen eigenen Eindruck gemacht. Für die NachDenkSeiten schildert er seine Erfahrungen und Gedanken nun in einer dreiteiligen Serie und stellt sie der negativen Medienkampagne gegenüber, die seit Wochen auf Hochtouren läuft. Freuen Sie sich auch schon auf den zweiten Teil, der am Donnerstag erscheinen wird, und den abschließenden dritten Teil, der nach dem Finale am Montag bei uns erscheinen wird.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Russland (eigentlich Russländische Föderation) nahm in den letzten Jahren einen immer größer werdenden Teil in unseren Medien, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen ein. In den Tagen der Fußball-WM erreicht(e) die Aufmerksamkeit Russland gegenüber eine weitere Steigerung. In hunderten TV- und Radio-Stunden, tausenden Print- und Online-Artikeln und Millionen privater Gespräche wurde und wird längst nicht nur über Fußball in Russland, sondern auch über seine Politik, über Land und Leute berichtet, informiert und diskutiert.

Wer die Beiträge der NachDenkSeiten regelmäßig verfolgt, war zumindest auf das vorbereitet, was im Mainstream an Berichterstattung über Russland drohte. So belegte Tobias Riegel (Grobes Foul! Die WM startet und die Gegner der Völkerverständigung laufen zur Hochform auf) schon am Tag vor Beginn der WM mit dutzendfachen Quellen:

“In den Wochen vor der Fußball-WM haben viele große deutsche Medien noch einmal alle Register gezogen, um anti-russische Ressentiments zu wecken und das pazifistische Potenzial der WM anzugreifen. Attackiert wird dabei nicht nur „Zar Putin”, sondern auch der Wodka saufende, Polizisten schmierende und Schwule hassende „russische Charakter” – und der dumme Deutsche, der diese Abgründe einfach nicht sehen will.”

Die einseitige und parteiische Berichterstattung des transatlantischen, deutschen Mainstream über russische Innen- und Außenpolitik kennen die Leser der NachDenkSeiten bereits sehr gut, sie wurde mehrfach analysiert und wo geboten, auch bereits widerlegt. Sie ist aber, sofern sie sich journalistische Standards wie Objektivität oder Richtigkeit bewahrt, nicht nur erlaubt, sondern bei Russland wie auch bei den USA, NATO sicher auch vielfältig geboten.


Abb.: Creative Commons CC0

Interessanter im Zusammenhang mit der WM, die ja auch i.d.R. eher eine politikarme Zeit bedeutet, erscheint die Frage, ob und inwieweit sich deutsche Berichterstattung, leider oft auch anti-russische Propaganda, nun über die Kritik an der Politik hinaus auch auf das ganze Land und gegen seine Menschen ausweitet(e). Ob die Chancen zum gegenseitigen Kennenlernen, zur Informationsgewinnung und -vermittlung über Russland genutzt wurde oder ob in den deutschen Medien Ablehnung, Vorbehalte und Vorurteile verfestigt, Völkerverständigung erschwert und zusätzliche Distanz geschaffen wurde und wird.

“Die Versuche, den verbindenden Charakter der Fußball-WM zu zerstören, erreichen dieser Tage neue Höhepunkte. Die WM ist eines der letzten internationalen medialen Lagerfeuer – aber weil es diesmal von Russland für die Welt entfacht wird, arbeiten viele Journalisten daran, es zu löschen und es mit ihrer einseitigen Moral aufzuladen.”

Die Absicht, nicht Verständigung, sondern zusätzliche Distanz zwischen Russland und Deutschland zu schaffen, war zumindest zu befürchten. So beklagte das heute journal den Willen der Deutschen nach Verständigung mit Russland: „Trotzdem gibt es in Deutschland ungebrochen ein Gefühl der Verbundenheit mit Russland, das nicht restlos mit Logik zu erklären ist.” Der Russland-Experte (sic!) der ZEIT outete sich als glühendster Gegner der Völkerverständigung und rief gar in einem schlimm verfälschenden, hetzerischen Beitrag mit steinzeitlicher Dämonengläubigkeit zu einem Boykott der gesamten WM in Russland auf.


Abb.: Creative Commons CC0

Dabei wäre eine gegenseitige Verständigung heute wichtiger denn je. Russland ist das flächenmäßig größte Land der Erde. Es erstreckt sich über 10.000 Kilometer von West nach Ost. Seine politische, wenn auch nicht wirtschaftliche Bedeutung für die ganze Welt ist in den letzten Jahren wieder stetig gewachsen und dürfte neben den USA die bedeutendste sein, auch wenn China, Indien oder die EU in Gesamtheit mehr Menschen vertreten. Es scheint also für alle Menschen höchst relevant zu sein, Wahrheiten über Russland zu erfahren. Doch kennen die wenigsten Deutschen Russland oder Russen aus eigenen Besuchen, Freundschaften oder aufgrund der Sprachbarriere nicht einmal aus Urlaubsbekanntschaften oder Filmen.

Russland ist nicht das erwartete Land

Deutsche, Schweizer, Briten und Fans aus vielen anderen Ländern waren extrem verwundert, konnten ihren Augen und Ohren nicht trauen, was sie in Russland alles erleben durften.

“Russland ist ja ganz anders, als unsere Medien erzählt haben !?!”

Diese Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlichen Erlebnissen äußerten alle Russland-Erstbesucher, mit denen man sprach, oder die sich im Fernsehen, Internet oder den sozialen Medien äußerten – alle waren mehr als positiv überrascht. Offensichtlich wurde ihnen in ihren Medien ein völlig falsches Bild von Russland und seinen Menschen vermittelt.


Abb.: Creative Commons CC0

Zeitungsschlagzeilen wie “Bloodthirsty hooligans vow murder“, “Russian Ultras: KID BOOTCAMP”, “Russian hooligans warn England fans prepare to DIE“, die BBC Dokumentation Russia’s Hooligan Army oder auch die Warnung des englischen Fußballverbands-Funktionärs Mark Roberts in THE SUN, vor einem GULAG-Risiko(!) für englische Fans, die Warnung, keine englischen Fahnen mitzunehmen, schafften ein russisches Bedrohungsszenario für Leib und Leben, das viele tausende englische Fans abhielt, nach Russland zu kommen.

Aber auch die Deutschen Medien verbreiteten ein bedrohliches Gefährdungsszenario, dass in Russland angeblich herrsche: Putins Peitschen-Kosaken gegen schwule Pärchen (BILD), Kampfbereite Hooligans (ZDF), Repressalien gegen die Bevölkerung (ARD), Folter und Misshandlungen durch die Polizei, Lebensgefahr für Kritiker (BILD), Schwulenhass sogar beim Bäcker (focus) Auswärtiges Amt rät bei Russland-Reisen zur Vorsicht, russische Konzentrationslager für hunderte Schwule, Folter und Mord (ARD, BBC / Gegendarstellung bei RT I, II) Putins Morde (ZEIT) bis hin zu Hundejagden (stern).


Abb.: Creative Commons CC0
Dabei kopierten einige Medien sogar Art und Weise rechtsradikaler Hetze, die sie im eigenen Land bekämpfen, und bauschten ungeklärte oder bedauerliche Einzelfälle zu einer Hetze gegen ganz Russland und seine Menschen auf. Das alles ging weit über eine kritische Betrachtung der Politik Russlands hinaus und kann nur als wild um sich schlagende, anti-russische Propaganda-Kampagne bezeichnet werden, die nicht nur die Politik, sondern auch Land und Leute in den Schmutz zog und ein insgesamt abschreckendes, grausiges Russlandbild bei den Reisewilligen in England, Deutschland oder der Schweiz zeichnete. Deren Erwartungen gegenüber Russland waren dadurch gering, ihre Befürchtungen aber groß. So verbot der englische Nationalspieler Danny Rose seiner Familie die Reise nach Russland aus Angst vor Gewalt und Rassismus. Tausende Engländer und auch Deutsche blieben zu Hause.

Doch wie waren und sind die Erfahrungen derer, die es trotz aller Propaganda-Warnungen doch “gewagt” haben, nach Russland zu reisen?


Abb.: Creative Commons CC0

Tom Rosenthal, The Guardian rief seine Landsleute dazu auf, die BBC-Propaganda zu vergessen und nach Russland zu kommen: Message to the English: come to Russia and feel the love. Fans warned against travelling to the World Cup in Russia for fear of hooligans are missing a treat – the locals have been amazing.

Auch der US-Reporter der Washington Post zeigte sich erstaunt, eine lebendige, moderne Metropole und freundliche Menschen anzutreffen statt leerer Regale und düsterer Gestalten.

Laut Telegraph sei der englische Nationalspieler Danny Rose, vorher noch sehr verängstigt über mögliche Gewalt und Rassismus, jetzt so angenehm überrascht über die Atmosphäre in Russland, dass er seine Familie nun doch unbedingt nachkommen lassen wollte.

Schweizer zeigten sich überrascht und beeindruckt, über ihre wundervolle 17-stündige Nachtzugfahrt in einem der speziell für die WM-Teilnehmer entwickelten Sonderzüge, dass die Russen sehr hilfsbereit und freundlich sind, wie Fans aus der ganzen Welt zusammenkamen.

“Wo sind die russischen Hooligans?” fragt sich Video-Blogger Theo Ogden “Papa und ich tragen englische Fankleidung. Gab es irgendwelche Probleme? Haben die Russen uns schräg von der Seite angeschaut? Wollte uns jemand angreifen? Nein! Jeder war sehr freundlich zu uns. Es ist erstaunlich! Sein Vater Stephen hat aber, im Gegensatz zu seinem Sohn, die Aggression in Wolgograd doch gefunden: “Ich muss sagen: Die Medien hatten doch Recht. Es ist schrecklich. Wir werden von russischen Mücken angegriffen.”

Daily Star musste einräumen: England Fans: they’ve fallen in LOVE with Russia: ‘It wouldn’t happen back home’… Die Fans erzählten, Freunde und Familie hätten versucht, sie wegen der Hooligans und Terroranschläge vor dem Turnier und der politischen Auseinandersetzungen nach der Vergiftung Skripals davon abzuhalten, die Reise zu unternehmen. Parlamentsmitglieder und Beamte des Außenministeriums hatten davor gewarnt, dass es gefährlich werden würde … Aber der 25-jährige Investmentbanker George Hesselgren sagte, er könne nicht glauben, wie weit Russland seine Erwartungen übertroffen habe. Elliott Church, 24: “Die Leute hier waren fantastisch. Jeder war so hilfsbereit. Jeder war so freundlich. Was auch immer auf politischer Ebene und auf persönlicher Ebene passiert ist, die Leute haben das wirklich angenommen. Es war ein wunderbare Erfahrung … Es ist eine der freundlichsten Weltcups, die ich je erlebt habe … Es ist wirklich ein fantastisches Land.”

Eine deutsche Fußballfan-Gruppe, die schon “Unsere WM 2014” als Buch herausgab, beschreibt auch aus Russland zur WM 2018 ihre Erfahrungen als stimmungsvollen Erlebnis- und Reisebericht. Ein WM-Tagebuch, das detailliert, ausführlich und hautnah emotionale und begeisternde Begegnungen mit Russland und seinen Menschen näherbringt.


Eine der über 30.000 City Volunteers: Jugendliche Freiwillige, die sich 2 Jahre wöchentlich auf ihren Einsatz vorbereiteten – ohne Bezahlung – ausländische Fans an den Flughäfen und Bahnhöfen in Empfang zu nehmen, durch die Stadt zu lotsen, zu informieren, zu helfen, in Stadien und auf Fan-Festen Stimmung zu machen.

Modernität, Sauberkeit, Sicherheit im Land überraschten alle Besucher – ebenso wie Lebensfreude, Gastfreundlichkeit, Warmherzigkeit, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft seiner Menschen. Das hatten die wenigsten erwartet.

Offensichtlich haben die Russland-Berichte in Deutschland, der Schweiz oder England für ein Bild Russlands und seiner Menschen bei den WM-Gästen gesorgt, das nichts, nicht viel oder gar nichts mit der tatsächlichen russischen Realität zu tun hat(te). Alle, die man getroffen hat, Deutsche, Schweizer, Engländer waren überrascht, begeistert von freundlichen, hilfsbereiten, warmherzigen Russen. Nach der Propaganda in ihren Heimatländern hatten sie scheinbar erwartet, die Russen fressen ihre Kinder zum Frühstück.

Leider können ja nicht alle kommen, um sich ein eigenes Bild über RUS zu machen. 99% der Deutschen sind naturgemäß davon abhängig, was ihre Medien ihnen über Russland und die WM berichten.

Dieses Ausgeliefertsein und die Falschberichterstattung über das andere Land beklagen aber auch die deutschen Mainstream-Journalisten wiederum in Russland. Die ARD/ZDF-Kommentatoren werden nicht müde zu betonen, dass nur 20% der Russen schon einmal im EU-Ausland waren, um sich ein tatsächliches Bild machen zu können. Ich frage mich dabei nur, wie viel Prozent der EU-Bürger oder der Deutschen schon einmal in Russland waren, um sich ein tatsächliches Bild machen zu können.

Konkret spricht Alice Bota, Die ZEIT die Hoffnung aus: “Vielleicht werden die Russen anzweifeln, ob im Westen wirklich so eine Russophobie herrschen kann, wie Politiker sie glauben lassen wollen.” RT antwortet im Ping-Pong: “Vielleicht werden aber auch zahlreiche Ausländer ihr Bild von Russland und den Russen revidieren! Vielleicht werden sie ja zuhause berichten, dass auch Russen freundlich und hilfsbereit sein können, dass sie ausgelassen auf den Straßen und Plätzen feiern können.”

Mein Eindruck während vier Wochen WM in Russland und dutzenden Fan-Kontakten aus aller Welt ist: die Russland-Besucher werden sicher ihr revidiertes Bild von Russland und den Russen nach Hause tragen, sicherer jedenfalls, als dass Deutschland-Besucher Russophobie-Freiheit nach Russland melden könnten, zumindest wenn sie deutsches Fernsehen und Zeitungen verstehen. Aber ob die wechselseitigen, internationalen Fan-Botschaften reichen für eine wesentlich bessere Völkerverständigung?!

Begegnungen mit Fans aus England, Island, Malaysia, Polen, Japan, Deutschland, Schweiz, Kasachstan, Tunesien, Nigeria, Ägypten, Russland, Vietnam, USA, Saudi Arabien, Sri Lanka, …

In Millionen Kontakten, Gesprächen, Begegnungen, Selfies jedenfalls sind sich Russen und die Menschen aus aller Welt nähergekommen. Diese positiven, verbindenden Eindrücke werden bleiben. In den (sozialen) Medien sind Unzählige davon auf ewig dokumentiert – seien es die Millionen Bilder, seien es die Videos besonders kreativer Fan-Begegnungen; die, in denen (englische) Fans anti-russische Berichte als Propaganda entlarven und die Diskrepanz zwischen Erwartung/Realität beschreiben; die, in denen hunderte Schweden, der ganze Mexiko-Flieger oder auch Fans aus anderen Ländern “Spassiba Russia” skandieren; das der isländischen Fans, die sich mit einer isländisch-russischen Version von Kalinka für die russische Gastfreundschaft bedankten; die unzähligen Reise-Blogs und -Videos, die die Schönheiten des Landes preisen; einladende Informations-Videos für die Heimat-Fans; die Dankes- und Liebeserklärungen an Russland, sogar viele aus England.

Ob diese persönlichen Kontakte für Deutschland ausreichen, sollten sich die düsteren Prognosen von Tobias Riegel: Grobes Foul! tatsächlich erfüllen? Haben unsere Medien sich bei aller politischen Vorbehalte gegenüber Russland ein Beispiel genommen an der Formel der IRISH TIMES für Völkerverständigung?

Russia 2018: Thanks Vlad for a World Cup full of contradictions:
This World Cup has shown that it’s possible to separate Putin’s Russia from the people living in it

Der zweite Teil der Reihe mit dem Titel „Breites Spektrum in den Mainstreammedien“ erscheint am Donnerstag, der dritte Teil mit dem Titel „Welches Russlandbild bleibt jetzt nach der WM“ am kommenden Montag


[«*] Michael Steinke ist Diplom-Kaufmann und arbeitet als Projektmanager (Kunst) im Internet. Er lebt seit 2012 zeitweise, seit 2016 überwiegend in Russland.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!