Rezension zu: Götz Eisenberg „ …… damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind.“

Ein Artikel von Joke Frerichs

Über das Phänomen Amok ist immer noch wenig bekannt. Dabei häufen sich seit den 90er Jahren die Fälle von Amokläufen an Schulen und in anderen Bereichen der Gesellschaft. Warum verüben Menschen, die es mit sich und der Welt nicht länger aushalten, derartige Verzweiflungstaten, deren Spezifikum darin besteht, nicht nur sich selbst, sondern noch möglichst viele Andere mit ins Verderben zu reißen? Wir neigen dazu, derartige Gewaltexzesse als Wahnsinnstat eines Einzelnen abzutun, als etwas Unvorstellbares, Außergewöhnliches und letztlich Unerklärliches.
Der Gefängnispsychologe und Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg weist uns darauf hin, dass Amokläufer und Gewalttäter keineswegs „Wesen von einem fremden Stern“ sind, sondern meist aus der sog. Mitte der Gesellschaft stammen. Von Joke Frerichs

Oft werden sie als unauffällig; normal; höflich und/oder zurückhaltend geschildert und gerade dies macht dann ihre Taten umso unbegreiflicher. Eisenberg versucht, anhand der spektakulären Vorfälle der letzten Jahre (Erfurt; Winnenden; Littleton; Bad Reichenhall u.a.) und weniger bekannter, nahezu alltäglicher Gewaltausbrüche, bestimmte Verlaufsformen und Regeln von Amokläufen herauszuarbeiten. Auslösende Faktoren sind z.B. der Verlust des Arbeitsplatzes und der damit verbundenen gesellschaftlichen und beruflichen Integration; erfahrene Kränkungen; Konflikte mit Liebespartnern oder Trennungserfahrungen. All diese Faktoren können zur sozialen Isolierung und zum „Rückzug aus der Welt“ – dem „sozialen Tod“ des späteren Täters führen. „Wenn einem die Grundlagen des Lebenslaufs entzogen werden und eingeschliffene Lebensmuster vor dem Zusammenbruch stehen, treten starke Spannungen auf, die den Einzelnen zerreißen können.“ (25) Anhand von Beispielen beschreibt Eisenberg das soziale Umfeld und die psycho-soziale Entwurzelung von Tätern. Der Begriff Amok fungiert dabei oft als Chiffre für diffuse, alltägliche Gewaltphänomene unserer gegenwärtigen Gesellschaft: der bewaffnete Amoklauf wäre nach dieser Lesart die relativ seltene „Extremvariante“. (50)

Götz Eisenberg kommt das Verdienst zu, den je spezifischen Lebensgeschichten der Täter nachzuspüren und diese in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Er forscht nach den gesellschaftlichen Ursachen von Amok und Gewalt, um Erklärungsansätze für das „Unerklärliche“ zu finden. An mehreren Stellen seines Buches betont er jedoch: „Die gesellschaftlichen Umstände tun nichts, aber sie gehöre zu dem Bedingungsgefüge, ohne das die in Rede stehenden Taten kaum möglich wären.“ (228)

Eisenberg diagnostiziert einen gewaltsamen und menschenfeindlichen Charakter in der Gesellschaft, die sich als Ganzes der Markt- und Kapitallogik und ihrer alles durchdringenden Kälte unterworfen hat. Auf Seiten der Subjekte reproduziert diese Entwicklung eine psychische Frigidität und Indifferenz. „Wenn die Täter krank sind – und man hat Grund daran festzuhalten -, so sind sie nicht kränker als die Gesellschaft, in der sie (und wir) leben.“ (210)

In dem wahnsinnig anmutenden Bestreben des Amokläufers, möglichst viele Unbeteiligte in den eigenen Untergang mit hineinzureißen, sieht Eisenberg mehr als nur eine formale Analogie zum Vorgehen der Global Player in der Bankenwelt. Und er fragt, ob die Strategen der „New Economy“ nicht ebenfalls nach einem amokartigen Muster vorgehen, wenn sie in ihren absehbaren Untergang möglichst viele Leichtgläubige mit hineinreißen? Insofern stelle die zeitgenössische Finanzblasen-Ökonomie, die Millionen von Menschen in den Abgrund reißt, einen einzigen Amoklauf des Geldes dar. Das Motto dieser herrschenden ökonomischen (Un)-Vernunft laute auch: „Nach uns die Sintflut!“

„Da werden im Namen des kurzfristigen Gewinns soziale Strukturen planiert, die über Jahrzehnte gewachsen sind und den Menschen Schutz vor den schlimmsten Auswüchsen des Kapitalprinzips boten. Da wird flexibilisiert, dereguliert und privatisiert, da werden Kosten gesenkt ohne Rücksicht auf soziale und ökologische Folgen. Rund 200 Jahre industrieller Kapitalismus und Raubbau an der Natur haben den Globus sturmreif geschossen.“ (249) Rohstoffe und natürliche Ressourcen würden weiterhin in ungebremstem Tempo verbraucht und verursachten eine irreversible Schädigung der Biosphäre. Alle Bereiche der Gesellschaft würden der „wertzynischen Motorik des Geldes“ unterworfen. „Ein hemmungslos und wild gewordener Kapitalismus ist im Begriff, seine und unser aller Existenzvoraussetzungen zu zerstören. Wenn alles Hemmende beseitigt ist, wird es auch nichts mehr geben, das trägt und zusammenhält. Eine durch und durch kapitalistische Welt wird sich als nicht lebbar, ja nicht einmal funktionsfähig erweisen. Wenn es uns, den heute lebenden Menschen, nicht gelingt, das Steuer herumzureißen und den Wahnsinn des losgelassenen Marktes zu stoppen, drohen wir am Ende Zeugen eines marktwirtschaftlichen Amoklaufs zu werden, von dem wir alle betroffen sind, nämlich als Opfer.“ (249)

In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass bestimmte Eigenschaften von „Psychopaten“ – dass sie z.B. unfähig sind, sich in andere einzufühlen; dass sie anpassungsfähig, zynisch-kalt, bindungs- und skrupellos und ausschließlich an privater Nutzenmaximierung interessiert sind – durchaus auf die Hasardeure und Gurus der Finanzwelt zutreffen, die uns an den Rand des Abgrunds manövriert haben. Ja mehr noch. Unter Hinweis auf eine Studie von Paul Babiak und Robert Hare mit dem Titel „Menschenschinder oder Manager“ (München 2007), in der diese Autoren vor dem Vordringen von „Psychopaten“ in Führungspositionen warnen, fragt Eisenberg, wie wohl Menschen beschaffen sein müssen, die sich kalt und indifferent gegenüber den Schicksalen anderer Menschen verhalten. „Im Zeichen der neuen Management- und Unternehmensstrategien erhalten Leute eine Chance, die bereit sind, für ihre eigene Karriere über Leichen zu gehen, und im Namen kurzfristig erzielter Profite auch vor extrem riskanten und betrügerischen Projekten nicht zurückschrecken.“ (285) Mit dem Vordringen des Shareholder-Value-Kapitalismus mache sich eine Mentalität breit, die nichts mehr gemein hat mit dem Typus des bürgerlichen Unternehmers, der sich seinen Teil des Mehrwerts aneignete und ihn reinvestierte, um weiteren Gewinn zu erzielen und Konkurrenten zu dominieren. Von der „innerweltlichen Askese“ (Max Weber), also der Bildung produktiver Rücklagen, eingeschränkten Konsumverhaltens, selbstauferlegtem Verzicht, Triebunterdrückung, feudal-paternalistischen Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern und Untergebenen – diese einst gefeierten bürgerlichen Tugenden, seien heute nahezu restlos verschwunden.

Eisenberg stellt fest, dass es seit Mitte der 90er Jahre einen stetigen Anstieg von Amokläufen und Schulschießereien gibt und kommt zu dem Schluss, dass die von den Metropolen des globalen Kapitalismus ausgehende neo-imperiale, kriegerische Gewalt in Gestalt einer Verrohung und Brutalisierung der Verkehrsformen offenbar auf die Mutterländer zurückschlägt. Er schildert die Tat eines amerikanischen Militärpsychiaters, der 2009 das Feuer auf die eigenen Kameraden eröffnete, 13 von ihnen erschoss und ca. 40 verletzte. Zu den Aufgaben des Mannes, der als scheuer Einzelgänger charakterisiert wird, gehörte u.a. die Betreuung von Soldaten, die nach Einsätzen in Afghanistan oder im Irak mit den Folgen von Traumatisierungen zu kämpfen hatten. Ihm selbst stand die Entsendung nach Afghanistan bevor. Er wusste offenbar, was ihn dort erwartete. „Hätte er vier Wochen später in Afghanistan um sich geschossen, wäre es entweder eine Heldentat oder ein bedauerlicher Fall von ´friendly fire´ gewesen, so wurde es ein Amoklauf, der Amerika unter Schock setzte und ratlos machte.“ (246) Allein im Jahre 2008 haben sich 128 US- Soldaten das Leben genommen. Viele der sog. Veteranen lebten in einer Welt aus Scheidung, Alkohol, Drogen, Verbrechen, Polizei, Gefängnis und Depression.

Eindringlich analysiert Eisenberg Sachverhalte, die Habermas als „Kolonialisierung der Lebenswelt“ bezeichnet hat: die Unterwerfung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche unter das Diktat der Ökonomie. Er zeigt, welche Konsequenzen dies für die Kindererziehung, Schulen und Familien nach sich zieht, also jener Subsysteme, die für die Entwicklung subjektiver Identität von entscheidender Bedeutung sind.

Vor diesem Hintergrund entstehen ambivalente Verhaltensanforderungen, die kaum noch miteinander vereinbar sind: als Wirtschaftsubjekte sollen die Menschen allseits flexibel und mobil sein, während z.B. Familien und insbesondere die Erziehung von Kindern Kontinuität sowie räumliche und zeitliche Konstanz erfordern. „Der Markt, den sie anbeten, hat sie gelehrt, allen Bindungen zu misstrauen und an nichts mehr zu glauben außer an den eigenen Erfolg. Eine wahrhafte Liebe ist in den Zeiten der Flexibilitäts-Cholera eine Art von Behinderung, welche die Mobilität einschränkt und Marktchancen schmälert. Das schließt die Liebe zum eigenen Kind ein und durchtränkt sie mit neuartigen Ambivalenzen und einer Tendenz, sich der Kinder möglichst früh zu entledigen und sie auf eine zeitgenössische Weise auszusetzen und wegzugeben.“ (271) Viele Eltern unterschätzen die mit der Erziehung von Kindern verbundenen Anforderungen und wissen oft nicht, nach welchen Maßstäben sie erziehen sollen – mit dem Ergebnis, dass sie die Kinder sich selbst und der medialen Dauerbeeinflussung überlassen. „Man sperrt sie in Kinderzimmer, die überquellen von Spielzeug und elektronischem Gerät. Die Kinder sitzen so lange vor Bildschirmen, bis die Welt für sie einen rechteckigen Rahmen hat und ihre Innenwelt von fragwürdigen und mehr oder weniger destruktiv-dissozialen Computerspiel-Heroen bevölkert ist. Computerspiele befriedigen Phantasien von Grandiosität und Allmacht, deren in der Realität meist wenig entspricht. Die Kluft zwischen einer äußeren Realität, in der sich Niederlage an Niederlage reiht, und der inneren Welt infantiler Allmachts- und Größenphantasien wird immer tiefer und kann schließlich die Gefahr eines narzisstischen ´Super-GAUs´“ (272) auslösen.

Die Amokläufe von Littleton, Erfurt, Winnenden, Bad Reichenhall usw. wiesen erstaunliche Ähnlichkeiten auf: die Eltern der Jugendlichen hatten meist keine Ahnung davon, womit sich ihre Kinder in ihrer Freizeit beschäftigten; was sich in deren Innenleben abspielte; mit welchen Problemen sie konfrontiert waren usw. Wenn einer der jugendlichen Täter auf die Frage, womit er an der Tat hätte gehindert werden können, antwortet: „Es hätte nur jemand mit mir reden müssen“ (87), dann wirft dies ein bezeichnendes Licht auf das soziale Umfeld der Täter. Eisenberg konstatiert denn auch: “Viele heutige Familien, auch solche, die nach außen vollkommen normal aussehen, sind innen eine einzige Szenerie von Gleichgültigkeit und Kälte, das bloße Nebeneinander von Einsamkeiten.“ (271)

Wenn Eltern und Familien ihre eigentlichen Erziehungsfunktionen nicht mehr oder nicht ausreichend wahrnehmen, sollten nach allgemeiner Auffassung die Schulen deren Defizite kompensieren. Eisenberg weist darauf hin, dass es nach dem Schulmassaker von Erfurt einen breiten Konsens darüber gegeben habe, dass es einen Zusammenhang zwischen einem einseitig leistungsfixierten Schulklima und der wachsenden Gewaltbereitschaft von Schülern gibt. Aber derartige Schlussfolgerungen aus dem Massaker seien schnell wieder beiseite gedrängt worden, als der sog. PISA-Schock die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. „Seither wird weiter an der Leistungsschraube gedreht, und es wird standardisiert, evaluiert und modularisiert, was das Zeug hält. In dem Maße, wie Schulen sich als effiziente Zuliefererbetriebe für Industrie und Markt begreifen, werden sie verschärft zu Orten der Konkurrenz, der Selektion und damit auch der Kränkung. Da gleichzeitig bei den Heranwachsenden die Fähigkeit zur angemessenen Kränkungsverarbeitung immer weniger erworben wird, entsteht hier jede Menge schulischer Sprengstoff.“ (86)

Götz Eisenberg hat ein wichtiges Buch geschrieben, dass sich wohltuend absetzt von den oft oberflächlichen Deutungen von sog. „Kriminalpsychologen“ und „Traumaexperten“ – von den medial inszenierten Betroffenheitsgesten und Schnellschüssen der meisten Politiker und Journalisten ganz zu schweigen. Die Stärke des Buches sehe ich darin, dass er es versteht, komplexe Ursachenzusammenhänge in nachvollziehbarer Form darzustellen und dabei eine Vielzahl von Perspektiven zu eröffnen. Aufgrund seiner Tätigkeit als Gefängnispsychologe verfügt er über ein reichhaltiges empirisches Wissen über Lebensgeschichten und –verläufe von Tätern. Als ausgebildeter Sozialwissenschaftler ist er zudem in der Lage, psychologische Erklärungsangebote mit gesellschaftstheoretischen Reflexionen zu verbinden und entgeht damit der Gefahr einer disziplinären Engführung von Deutungsmustern.

Sehr beeindruckt hat mich, wie sensibel Eisenberg Veränderungen unseres Alltagslebens beobachtet – die Beeinträchtigung unserer Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verhaltensweisen durch Lärm, Hektik, Zeitnot usw. Auch darin sieht er Quellen zunehmender Aggressivität und Abstumpfung. Die Lektüre dieses Buches trägt dazu bei, über bedrohliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft ständig und stets aufs Neue nachzudenken – und nicht erst dann, wenn es wieder einmal einen Amoklauf gegeben hat.

Götz Eisenberg, Damit mich kein Mensch mehr vergisst. Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind.
Pattloch Verlag 2010
303 Seiten
Preis: 16.95 Euro

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