Gesundheitsreform: Abriss der solidarischen Krankenversicherung

Ein Artikel von Ursula Engelen-Kefer

In den USA hat Präsident Obama gerade den Beginn einer solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung mit vielen Anfeindungen und inhaltlichen Abstrichen durchboxen können. Bislang waren 45 Mio. Amerikaner ohne eine gesetzliche Krankenversicherung. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttosozialprodukt liegt mit inzwischen über 18 Prozent am höchsten im internationalen Vergleich.
In der Bundesrepublik geht die schwarz-gelbe Regierungskoalition den umgekehrten Weg: Durch die jetzt vom Bundeskabinett beschlossene Gesundheitsreform wird der Abriss der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung eingeläutet. Von Ursula Engelen-Kefer

Niemand durfte überrascht sein: Bereits in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2010 hatte die FDP mit aller Klarheit deutlich gemacht: Die Einführung von Kopfpauschalen war eines ihrer wesentlichen Ziele. Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Arbeitskosten,  mehr Arbeitsplätze und „mehr Netto vom Brutto“ waren die Zauberformeln, mit denen sie ihr bisher bestes Wahlergebnis von knapp 15 Prozent einfuhr. Die Parteivorsitzende der CDU und Bundeskanzlerin Angela Merkel  ließ die Ziele ihrer Gesundheitspolitik im Wahlprogramm – wie vieles andere auch – eher im Ungewissen.
Durch die negativen Erfahrungen nach den marktradikalen Beschlüssen des CDU Parteitags in Leipzig Anfang Dezember 2003 war die CDU-Vorsitzende vorsichtig geworden. Damals hatte sie sich noch klar für den Abbau der an der Höhe des Einkommens bemessenen Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und für einheitliche Kopfpauschalen – alleine zu Lasten der Arbeitnehmer – ausgesprochen. Auch aus den eigenen Reihen, vor allem aus der CSU und namentlich von Horst Seehofer, musste sie viel Kritik einstecken.

In der gemeinsamen Koalitionsvereinbarung von Schwarz-Gelb im Oktober 2010 feierte die „Entlastung der Arbeitgeber durch die Entkoppelung der Arbeitskosten von den Beiträgen“ und damit der Übergang auf das System der Kopfpauschalen fröhliche Urständ – diesmal sogar versehen mit der Unterschrift des wendigen Horst Seehofer, inzwischen Ministerpräsident von Bayern und Parteivorsitzender der CSU. Noch vor nicht allzu langer Zeit war er mit einem großen öffentlichen Eklat aus der von Angela Merkel eingesetzten Herzog Kommission ausgetreten, als diese den Umstieg in der gesetzlichen Krankenversicherung auf Kopfpauschalen vorschlug. Als die Bundeskanzlerin  nach dem Wahlsieg von Schwarz-Gelb am 27. September 2009 Philipp Rösler, FDP, zum neuen Bundesgesundheitsminister ernannte, musste auch dem letzten Zweifler klar sein, wohin die Reise in der Gesundheitspolitik gehen würde, nämlich in die Kopfpauschalen und damit die Privatisierung. Und wieder ist es  die Zauberformel von der Entkoppelung der Arbeitskosten von den Gesundheitskosten, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen – ein Trugschluss, wie die internationalen Erfahrungen zeigen.

In den USA sind bislang etwa 45 Mio. Amerikaner ohne Schutz durch eine gesetzliche Krankenversicherung.  Nur für Rentner und Sozialhilfeempfänger gibt es einen staatlichen Krankenversicherungsschutz. Darüber hinaus haben Großbetriebe für ihre Beschäftigten  – vielfach über Tarifverträge finanziell vom Arbeitgeber unterstützt – eine private Krankenversicherung angeboten.
Entsprechend boomte das Geschäft der  privaten Krankenversicherungen. Ärzte und Krankenhäuser konnten mit der Abrechnungen auf privater Basis gute Geschäfte machen. Das Ergebnis war: überbordende Gesundheitskosten gemessen am Bruttoinlandsprodukt einerseits und Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten bei längerer und schwerer Krankheit oder gar der erzwungener Verzicht auf medizinische Behandlung auf der anderen Seite.

Nach den USA hat im internationalen Vergleich  der Industrieländer die Schweiz den zweithöchsten Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt: Hier besteht seit vielen Jahren ein System der Kopfpauschalen, d.h. die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung werden von den Versicherten alleine, also ohne Arbeitgeberanteil aufgebracht. Jeder zahlt – unabhängig von seiner Erwerbstätigkeit und seinem Einkommen – den gleichen Betrag in die Gesundheitskassen. Die Höhe dieser Kopfpauschalen variiert allerdings nach Regionen bzw. Kantonen. Für Menschen unterhalb einer bestimmten Einkommenshöhe werden steuerliche Zuschüsse geleistet, die ebenfalls je nach Kanton erhebliche Unterschiede aufweisen.  Infolge der stark steigenden Gesundheitsausgaben mussten nicht nur die steuerlichen Zuschüsse der einzelnen Kantone ständig erhöht werden, auch viele Schweizer Bürger ächzen unter den immer höheren Kosten für ihre gesundheitliche Versorgung, sie haben Einschränkungen der Gesundheitsleistungen hinzunehmen oder unterliegen dem (teuren) Zwang, private Zusatzversicherungen abschließen zu müssen.

Diese internationalen Vergleiche sind ein Indiz: Je höher der Grad der Privatisierung des Gesundheitswesens, desto stärker steigen die Gesundheitskosten. Die Bundesrepublik  lag mit einem Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP in Höhe von 10,6 Prozent im Jahr 2006 auf ähnlicher Höhe wie Belgien, Portugal und Österreich und weit unter dem der USA mit 15,3 Prozent und auch niedriger als in der Schweiz mit 11,3 Prozent, allerdings lag der Anteil höher als in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern.
Mit der jetzt beschlossenen neuerlichen Gesundheits“reform“ in der Bundesrepublik soll die für 2011 auf 11 Mrd. Euro geschätzte Finanzlücke des unterfinanzierten Gesundheitsfonds dadurch geschlossen werden, dass die Beiträge von jetzt 14,9 auf 15,5 Prozent angehoben werden. Das Solidarprinzip bei der Beitragszahlung ist bereits längst durchbrochen, da die Versicherten  mit 8,2 Prozent 0,9 Prozent mehr zahlen müssen als die Arbeitgeber mit 7,3 Prozent – eine schwere Hypothek des Gesundheitskompromisses während der Rot-Grünen Koalition. Die Solidarprinzip wurde damit erheblich zu Lasten der Versicherten aufgeweicht. Sie müssen etwa 60 Prozent der Gesamteinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung aufbringen; die Arbeitgeber sind mit nur noch mit etwa 40 Prozent belastet. Auf der Seite der Versicherten müssen noch die ständigen Erhöhungen der Zuzahlungen für Medikamente, für Heil- und Hilfsmittel sowie für Krankenhausaufenthalte und nicht zuletzt die Praxisgebühr von 10 Euro im Quartal als Kostenbelastung hinzu gerechnet werden.

Ein vollständiger Systemwechsel zu Lasten der Versicherten erfolgt nun in der schwarz-gelben Gesundheitsreform von Philipp Rösler  durch das „Einfrieren“ des Arbeitgeberbeitrags bei 7,3 Prozent – verbunden mit der Einführung einer – wie sie beschönigend genannt wird -„kleinen“ Kopfpauschale. Im Klartext heißt dies: Die gesamten zukünftigen Kostensteigerungen müssen in Zukunft von den Versicherten alleine bezahlt werden – ohne Grenze nach oben. Die Zusatzbeiträge werden nicht mehr solidarisch nach der jeweiligen Einkommenshöhe der Versicherten bemessen, sondern als einheitliche Pauschale in gleicher Höhe von allen Beitragszahlern abgefordert. Damit wird auch der Solidarausgleich zwischen höheren und niedrigeren Einkommen abgeschafft.

Der angekündigte steuerliche Ausgleich, sofern diese Zusatzkosten 2 Prozent des Einkommens des jeweiligen Betragszahlers überschreiten sollten, erweist sich bei näherem Hinsehen als trügerische Fiktion. Die Zusatzbeiträge sollen pauschal für alle Kassen berechnet werden und erst danach erfolgt dann der steuerliche Ausgleich. Die tatsächlichen Zusatzbeiträge einzelner Kassen können jedoch erheblich von diesen fiktiv errechneten Pauschalen nach oben abweichen. Niedrigverdiener können somit durch die Zusatzbeiträge erheblich mehr als mit 2 Prozent ihres Einkommens belastet werden. Hinzu kommt: Während die Zusatzbeiträge für ALG II-Empfänger erstattet werden sollen, müssen alle übrigen Arbeitslosen diese zusätzlichen Kosten aus ihrem Arbeitslosengeld I selbst bezahlen.

Der lapidare Hinweis des Bundesgesundheitsministers, das fördere den Wettbewerb zwischen den Kassen, denn die Versicherten könnten ja die Kasse wechseln, wenn die Zusatzbeiträge ihrer bisherigen Kasse übermäßig anstiegen, zeugt von Ahnungslosigkeit bzw. Ignoranz der Realitäten. Vielen der betroffenen Menschen vor allem in höherem Lebensalter und womöglich mit chronischen Krankheiten wird es kaum möglich sein, von einer Krankenkasse in die andere zu wechseln. Für sie heißt es dann schlicht, den engen Gürtel noch enger zu schnallen.

Am schwersten dürfte jedoch wiegen, dass durch das Einfrieren der Arbeitgeberbeiträge bei 7,3 Prozent nur noch wenig bis gar kein Interesse der Arbeitgeber mehr besteht, Druck auf die Begrenzung der Gesundheitskosten auszuüben.

Ein solcher politischer Druck ist aber nötig, denn gerade im Gesundheitswesen gibt es nicht nur erhebliche Ungerechtigkeiten bei der Verteilung der Mittel auf Ärzte, Krankenhäuser, Medikamente und sonstige Leistungen sondern auch ein hohes Maß an Verschwendung.  Einige der wichtigsten Beispiele für die Ineffizienz der Verteilung der Ressourcen sind:

  • die immer undurchschaubarer werdende Flut an Arzneimitteln und deren im nationalen und internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Kosten und Preissteigerungen;
  • die Intransparenz und Ungerechtigkeiten bei der Verteilung der Honorare durch die Kassenärztlichen Vereinigungen;
  • die hohen Gesundheitskosten durch mangelnden Arbeits- und Gesundheitsschutz in den Betrieben;
  • die weitgehend fehlende systematische Prävention in der Gesundheitsversorgung;
  • die ausufernde und teure Medizintechnik mit nicht immer erkennbarer Verbesserung der Gesundheitsleistungen für die Bevölkerung. (Das Gesundheitswesen gehört merkwürdigerweise zu den Wirtschaftssektoren, bei denen technischer Fortschritt offenbar nicht zu Kosteneinsparungen führt.)

Um bei der weitgehend ausgehandelten Ressourcenverteilung die Kosten zu begrenzen, bedarf es der gemeinsamen Anstrengungen von der Kostenträger, also der Krankenkassen sowie deren Beitragszahler, also der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Diese gemeinsame finanzielle Verantwortung beider Seiten der Tarif- bzw. Sozialparteien hätte eher aus- statt abgebaut werden müssen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung schwächt mit ihrer jetzt beschlossenen „Reform“ die Verhandlungsmacht auf der Seite der Beitragszahler und wird damit das Gegenteil dessen erreichen, was sie mit ihrer Propaganda vorgaukelt. Die Entkoppelung der Arbeits- von den Gesundheitskosten wird einen zusätzlichen Schub bei den Ausgaben mit sich bringen und den Druck aus energischen Gegenmaßnahmen gegen die vorhandenen Verschwendungen und Ungerechtigkeiten nehmen. Schon gar nicht können damit offenkundige Qualitätsmängel beseitigt werden. Im Gegenteil: Die Zwei-, ja sogar Dreiklassen-Medizin und damit eine weitere Spaltung unserer Gesellschaft auch auf dem Feld der Gesundheitsvorsorge nimmt noch weiter zu. Denn es ist absehbar, dass mit dieser „Reform“ nicht nur den privaten Kassen neue Kundschaft zugeführt wird, sondern dass damit auch Zusatzversicherungen Tür und Tor geöffnet werden, die den Beitragszahlern über die Kopfpauschalen hinaus noch einmal zusätzlich Geld kosten werden.

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