Bundespräsident Köhler begreift seine Rolle nicht – dafür ergreift er einseitig Partei

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Statt seine Ermessensentscheidung zu begründen, warum er dem Vorschlag des Bundeskanzlers folgt, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, malt Bundespräsident Horst Köhler ein parteipolitisch gefärbtes Bild der Lage des Landes und fällt politische Urteile, die seinem Amt nicht zustehen und die mit der allein zu entscheidenden Frage, ob der Misstrauensantrag des Bundeskanzlers dem Wortlaut und dem Geist der Verfassung entspricht, kaum etwas zu tun haben.

Nein, Horst Köhler spielt seine Rolle schlecht. Damit meine ich nicht, dass es ihm – stockend, wie er geredet hat – offenbar schwer fällt, vom Teleprompter abzulesen. Das wäre nachsehbar. Nein, er begreift seine Rolle nicht, weil er sich als Bundespräsident bei seiner Ermessensentscheidung nach Artikel 68 Grundgesetz nicht darauf beschränkt, was die Verfassung vom obersten Repräsentanten unseres Staates bei der Auflösung des Bundestags verlangt – nämlich abzuwägen, ob die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers echt oder unecht war, ob die Vertrauensfrage etwa nur ein Trick war, ein in der Verfassung ausdrücklich nicht vorgesehenes Selbstauflösungsrecht zu fingieren.

Zu dieser vom Bundespräsident einzig und allein zu entscheidenden Frage kommt von Köhler keine einzige Antwort. Er referiert nur, dass es das Grundgesetz dem Bundkanzler ermöglicht, eine parlamentarische Vertrauensfrage zu stellen und dass dies in der Geschichte der Bundesrepublik zweimal der Fall war. Er sagt, er habe die Beurteilung des Bundeskanzlers „eingehend geprüft“, nämlich dessen Behauptung, dass seine Handlungsfähigkeit derart beeinträchtigt sei, dass er eine „von einer stetigen Zustimmung der Mehrheit getragene Politik nicht (mehr) sinnvoll verfolgen kann“. Wer jetzt erwartet hätte, an Hand welcher Kriterien der Bundespräsident geprüft hat oder welche sachlichen Indizien oder Argumente seine Prüfungsentscheidung tragen, bleibt ratlos zurück. Man wagt gar nicht daran zu denken, dass Köhler bei seiner Prüfung auch nur einen Gedanken daran verschwendet haben könnte, ob nicht der Bundeskanzler durch den Bruch von Wahlversprechen seiner SPD überwiegend selbst dazu beigetragen hat, dass die Zustimmung zu seiner Agenda-Politik für die nach wie vor vorhandene Mehrheit von Rot-Grün nur noch mühselig zustande kommt.

Dass der Bundespräsident bei seiner Prüfung „viele Gespräche mit den verantwortlichen Politikern und mit Rechtsexperten geführt hat“, dass will man ja gerne glauben, aber was hält er denjenigen Politikern und eher der Mehrzahl der Staatsrechtler entgegen, die Art. 68 GG verletzt sehen? Fehlanzeige!

Dass er die Argumente der Zweifler „gehört und ernsthaft gewogen“ hat, ist ja schön und gut, aber man hätte wenigstens einen einzigen Zweifel darüber ausgeräumt sehen wollen, warum er „keine andere Lagebeurteilung“ sieht, „die der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.“ Hat der Bundespräsident etwa gar nicht mitbekommen, dass noch wenige Tage vor seiner Entscheidung im Parlament noch mehrere Dutzend keineswegs unwichtige Gesetze mit Regierungsmehrheit verabschiedet wurden? Oder könnte der Bundeskanzler das SPD-Wahlmanifest etwa nicht mir einer rot-grünen Mehrheit durchsetzen?

Dass der Bundespräsident „davon überzeugt (ist), dass damit (womit eigentlich?) die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Auflösung des Bundestags gegeben sind“, das ergibt sich aus seiner Entscheidung, sonst hätte er sie ja anders getroffen. Aber was hat ihn zu der Überzeugung gebracht, welche Tatsachen, welche rechtlichen und vielleicht auch welche politischen Argumente haben ihn überzeugt und vor allem welche sollen uns überzeugen – und zwar davon, dass er die Verfassung einhält? Darüber schweigt sich der Bundespräsident aus. Oder will er gar, in dem er sich einfach der Beurteilung des Bundeskanzlers anschließt, bei einem anderslautenden Urteil des Bundesverfassungsgericht schon vorbeugend, die Verantwortung für einen Verfassungsverstoß auf den Bundeskanzler abschieben?

Dafür redet Köhler um so mehr über politische Sachverhalte, die erstens mit seiner Ermessensentscheidung, ob über den „Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen“ (Art. 68 GG) eine echte oder nur eine manipulierte Abstimmung der Mitglieder des Bundestages stattgefunden hat, überhaupt nichts zu tun haben.

Er malt zweitens das von allen Systemveränderern bemühte Katastrophengemälde über die „ernste Situation“ unseres Landes, wie es in den Wahlkampfpostillen des Konrad-Adenauer-Hauses oder den Bedrohungsszenarien aus dem „Haus der Wirtschaft“ nicht bedrohlicher gemalt werden könnte. So wenn Köhler etwa davon spricht, dass „unsere Zukunft und die unserer Kinder…auf dem Spiel“ stehe, wenn er beklagt, dass wir „zu wenige Kinder“ hätten und wir „immer älter“ würden, wenn er auf eine „nie da gewesene kritische Lage“ der öffentlichen Haushalte verweist (an der er nebenbei bemerkt als Finanzstaatsekretär durch die falsche Finanzierung der Einheit kräftig mitgewirkt hat). Wieder einmal hört man nichts vom Deutschland als Exportweltmeister, nichts vom Zurückbleiben der Nettoreallöhne, nichts von der Raffkementalität und der Korruption in den Vorstandsetagen, nichts vom Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich.
Das gehört wohl alles nicht zu den „gewaltigen Aufgaben“ vor denen unser Land steht.

Dass man dieses einseitig negative Bild, das Köhler zeichnet, auch ganz anders sehen kann, beweist Bundeskanzler Schröder wenige Minuten nach der spektakulär inszenierten Entscheidung des Bundespräsidenten in seiner Rückäußerung: „Deutschland ist auf einem guten Weg“ setzt das Verfassungsorgan Bundeskanzler dem Verfassungsorgan Bundespräsident als Urteil entgegen. Schon aus dieser unterschiedlichen Lagebeurteilung mag das dritte Verfassungsorgan Bundesverfassungsgericht erkennen, dass die politische Begründung Köhlers für Neuwahlen jedenfalls keine Tatsachenbewertung, sondern ein parteiliches Urteil darstellt. Dass das vierte und letztlich den Souverän vertretende Verfassungsorgan, nämlich Bundestagspräsident Thierse, die vom Bundespräsidenten eben gerade nicht begründete Entscheidung über seine eigene Ablösung und die Auflösung des Bundestags ausdrücklich als begründet hinnimmt und sich nur noch als Postzustellungsbehörde für die Abgeordneten begreift, sei hier nur noch als Randepisode dieses Trauerspiels erwähnt.

Der Bundespräsident fällt drittens politische Urteile, für die er qua Amt nicht kompetent ist und für die seine persönliche politische Meinung allenfalls aufschlussreich für seinen politischen Standort aber für eine demokratische Entscheidung unmaßgeblich ist. Über die wirkliche Crux des Bundesstaates, nämlich, dass die Union den Bundesrat als parteipolitisches Blockadeinstrument missbraucht, verliert Köhler kein Wort, dafür räumt er im Vorbeigehen das Grundgesetz ab und erklärt als oberstes Staatsorgan die gesamte „bestehende föderale Ordnung“ für „überholt“. Mit dem gleichen Recht hätte Köhler auch die Bestimmungen des Grundgesetzes über die Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten als „überholt“ erklären können und eine „Präsidialdemokratie“ fordern können. Denn wo es mit Deutschland lang gehen muss, das meint unser Präsident ohnehin am besten zu wissen, wie er uns in seinem Auftritt nach der Tagesschau einmal mehr aufgezeigt hat, nämlich die „Freiheit zu sichern und einen modernen Sozialstaat zu gestalten“. Was Köhler unter „Freiheit“ und „modernem Sozialstaat“ versteht, das hat er nicht zuletzt in seiner Rede vor dem Arbeitgeberforum am 15. März 2005 programmatisch ausgeführt, nämlich „Privateigentum, Wettbewerb und offene Märkte, freie Preisbildung und ein stabiles Geldwesen, eine Sicherung vor den großen Lebensrisiken für jeden und Haftung aller für ihr Tun und Lassen (siehe NachDenkSeiten vom 16.3.2005 ).

Der Bundespräsident hat sich einmal mehr als Parteigänger der neoliberalen „Reformer“ erwiesen – diese loben jetzt natürlich unisono die „weise“ Entscheidung. Horst Köhler mag sich mit seiner Entscheidung in der Gunst dieser allgemeinen Zustimmung sonnen, das enthebt ihn allerdings noch lange nicht von seiner Pflicht die Verfahrensregeln der Verfassung ernst nehmen zu müssen.

Welche „sorgsame“ Wahl er den „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern“ ans Herz legt, hat er kaum verhüllt auch schon kundgetan: Nämlich eine Regierung zu wählen „die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann“. Will sagen: Bloß keine knappen Mehrheiten mehr, die eine Regierung erneut durch einige wenige Abgeordnete politisch erpressbar machen könnte, sonst hätte man ja den gleichen Zustand wie jetzt, also dann doch besser eine große Koalition. Oder noch besser gleich ein „Durchregieren“ mit Angela Merkel, die dann (vielleicht) auch von der CDU-Mehrheit im Bundesrat nicht mehr blockiert werden würde.