Warum sich Gewerkschaften so schwer tun, der „unternehmerischen Hochschule“ ein fortschrittliches Leitbild entgegenzusetzen

Ein Artikel von:

Referat von Wolfgang Lieb auf einem Workshop der Hans-Böckler-Stiftung, „Die Hochschule demokratisch und sozial gestalten“. Am 21. Januar in Berlin.

Einleitend und vor allem einschränkend muss ich ein gravierendes Defizit meines Referats vorausschicken:
Ich bin zwar seit 40 Jahren Gewerkschafter, aber ich bewege mich nicht mehr innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationen und Netzwerke. Ich begleite die Hochschulpolitik journalistisch und aus dieser journalistischen Tätigkeit ergeben sich Einladungen zu Vorträgen und Diskussionen an vielen Hochschulen.

Ich bin also kein authentischer Zeuge dafür, was innerhalb der Gewerkschaften geschehen ist, um das „Leitbild einer demokratischen und sozialen Hochschule“ [PDF – 788 KB] zu kommunizieren und welche Aktivitäten dafür entfaltet worden sind. Da gibt es sicherlich recht viel Engagement, deswegen tue ich vermutlich mit dem, was ich beschreiben werde, vielen Anwesenden schrecklich unrecht und dafür bitte ich schon jetzt um Entschuldigung.

Wenn man heute etwas zu einem Thema sucht, dann bedient man sich zunächst einmal einer Suchmaschine. Und wenn ich etwa bei Google die Begriffe „demokratische soziale Hochschule“ eingebe, dann fand ich diese Woche 86.000 Einträge. Das hört sich ganz beachtlich an. Wenn ich aber die Quellen anschaue, die dieses Thema aufgreifen, dann finde ich auf den ersten 5 Seiten der Google-Einträge die Hans-Böckler-Stiftung, den DGB, verschiedene Einzelgewerkschaften, natürlich die NachDenkSeiten und ein paar Kooperationsstellen oder studentische Websites.
Macht man den Vergleichstest mit dem Stichwort „unternehmerische Hochschule“ so findet man in 0,24 Sekunden über 200.000 Einträge. Noch mehr fällt aber auf, wie vielfältig die Quellen sind, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Natürlich vor allem Websites von Hochschulen oder Hochschulorganisationen oder von Studierenden, aber auch Beiträge zu diesem Thema von vielen ganz unterschiedlichen Autoren.

Das ist ein erstes Indiz, dass das Leitbild der Gewerkschaften noch nicht weit über die innergewerkschaftliche Darstellung und Debatte hinausstrahlt und es leider noch ziemlich wenige Autoren gibt, die dieses Leitbild sei es kritisch, sei es befürwortenden aufgegriffen haben.

Dieses Bild entspricht auch meinen Erfahrungen vor Ort. Ich habe im Jahre 2010 an vielen Veranstaltungen in Hochschulen teilgenommen und habe dabei natürlich immer auf das Leitbild hingewiesen oder darüber vorgetragen. In den sich meist anschließenden Diskussionen oder Einzelgesprächen habe ich nicht den Eindruck gewinnen können, als sei dieses Leitbild in die Köpfe Publikums vorgedrungen oder gar schon als Paradigma aufgegriffen oder verstanden.

Nun kann man natürlich sagen, kein Wunder, denn das „Leitbild“ ist erst vor nicht einmal einem Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt worden.

Das Buch von Detlef Müller-Böling, des früheren Leiters des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), unter dem Titel „Die entfesselte Hochschule“ – sozusagen das Brevier der „unternehmerischen Hochschule“ – feierte dieser Tage hingegen schon sein 10-jähriges Jubiläum. Und das Centrum für Hochschulentwicklung, der Think-Tank für die neoliberal geprägten Hochschulreformen, arbeitet schon seit Mai 1994 – hat also einen 16-jährigen Vorlauf, bevor sich die Gewerkschaften eines neuen alternativen Leitbildes für die Hochschulen angenommen haben.

Hinzu kommt, dass das CHE ein Gesamtbudget von 3 Millionen Euro pro Jahr hat, also eine ganz andere Man- und Woman-Power im Rücken hat, um das Leitbild der unternehmerischen Hochschule in vielen Facetten öffentlich voranzutreiben. Das CHE hat das nötige Geld, um zahllose Publikationen herauszugeben und jährlich mehrere Großveranstaltungen zu finanzieren. Und es hat die nötigen Mittel und das Personal Hochschulen und Politik „professionell“ zu beraten.

Und was man überhaupt nicht unterschätzen darf, das CHE hat klugerweise die vorher ohne jeden Apparat und ohne großen institutionellen Einfluss auf die Hochschulpolitik agierende Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ins Boot genommen. So veröffentlichten das CHE und die HRK ihre hochschulreformerischen Lösungskonzepte unter einem gemeinsamen Kopfbogen und so verschaffte sich Bertelsmann ein einigermaßen unverdächtiges Entree in die Hochschulen vor allem über die Hochschulleitungen.

Darüber hinaus hat das CHE ein vielfältiges Netzwerk finanzstarker Unterstützer. Der GEW Privatisierungsreport Nr. 6 [PDF – 340 KB] hat nur die wichtigsten aufgezählt: Da ist etwa der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der Aktionsrat Bildung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw), die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) oder etwa auch die McKinsey & Company Inc. Und viele andere mehr.

Das CHE hat es auch geschafft mit Namen und Köpfen in der Öffentlichkeit präsent zu sein, also vor allem mit Detlef Müller-Böling, mit Frank Ziegele, mit dem ehemaligen Hamburger Wissenschaftssenator und jetzigen Geschäftsführer des Zentrums, Jörg Dräger und vielen anderen inzwischen zu Experten avancierten Mitarbeitern.

Und schließlich und vor allem auch: Hinter dem CHE steht der Bertelsmann-Konzern und seine geballte Medienmacht vom Spiegel (Unispiegel), über den stern, die Financial Times Deutschland bis hin zu RTL. Und mit seinem Hochschulranking hat das das CHE dazu noch die bürgerliche „Zeit“ als Medienpartner gewonnen.

Zum Trost an die Gewerkschaften könnte man also sagen, dass die Propagandisten der „unternehmerischen Hochschule“ gegenüber dem gewerkschaftlichen Gegenentwurf eines „Leitbildes für einer demokratische und soziale Hochschule“ einen über ein Jahrzehnt langen Vorsprung, erheblich mehr finanzielle Mittel und ökonomisch starke Netzwerke und PR-Agenturen haben.

Dagegen werden die Gewerkschaften, selbst wenn sich alle Einzelgewerkschaften zusammentun (wenn sie es denn tun), nie „anstinken“ können. Es besteht da keine Waffengleichheit.

Sollte man also die Flinte besser gleich ins Korn werfen?

Ich meine, Nein!

Es gibt ein wichtiges Potential für die Idee einer demokratischen und sozialen Hochschule:

Nämlich den Frust, der sich inzwischen über die sog. „Reformen“ der letzten Jahre vor allem bei Studierenden, aber auch bei vielen anderen Hochschulangehörigen angesammelt hat.
Der Bildungsstreik des letzten Jahres hat es geschafft, bis in die höchsten Etagen der Hochschulpolitik in Deutschland vorzudringen. Und an der Basis der Professoren und Mitarbeiter der Hochschulen hat sich erheblicher Unmut angestaut.

Beim Bologna-Prozess wurden angefangen von Bundesbildungsministerin Schavan, über den Wissenschaftsrat, ja sogar bis zur HRK „Korrekturbedarf“ anerkannt.
Ganze Fakultätentage lehnen eine Teilnahme an den CHE-Rankings ab, es gibt Resolutionen von Fachbereichen gegen das unternehmerische Hochschulmanagement.

Leider rekrutiert sich der Widerstand – wie etwa vom Hochschulverband – vielfach aus der konservativen Seite, die eine Rückkehr zur alten Ordinarien-Universität erträumt. Doch es gibt auch fortschrittliches Denken. Ein solches Denken ist aber außer innerhalb der Studierendenschaft nicht organisiert. Die GEW als an der Hochschule vertretene gewerkschaftliche Organisation ist angesichts des relativ geringen Organisationsgrads der Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht präsent genug. Die sog. nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter sind bei ver.di oder der GEW organisiert, doch diese Statusgruppe kann leider nicht als Träger der Idee eines neuen Leitbildes dienen. Sie hat zu wenig mitzureden und die Personalräte haben schließlich auch genug andere Probleme.

Der Unmut einzelner Hochschulangehörigen dringt jedoch nur wenig an die Öffentlichkeit, denn Ansprechpartner für die Öffentlichkeit sind eben die Hochschulleitungen oder die Präsidenten der Hochschulen. Und diese sind halt wiederum durch ihre Hochschulrektorenkonferenzen eingenordet. Außerdem: Warum sollten gerade sie sich gegen eine Reform wenden, die ihnen viel Macht eingeräumt hat? Warum sollten sie für eine Reform eintreten, die vor hat die Hochschulleitungen wieder demokratisch einzubinden?

Was also tun um den Frust und den Unmut, der an den Hochschulen ohne Zweifel herrscht, aufzufangen und auf ein alternatives Leitbild zu kanalisieren und damit politisch virulent zu machen?

Das ist eine schwierige Herausforderung: Hochschullehrer sind Einzelkämpfer, die Erfahrung von solidarischer Kraft ist ihnen historisch unbekannt. Die Hochschulen waren politisch leider schon immer eine leichte Verfügungsmasse der politisch Mächtigen oder des Zeitgeistes. Außerdem hat sich an den Hochschulen eine „Froschperspektive“ des politischen Denkens breit gemacht. Selbst fortschrittlichere Hochschullehrer und schon gar die Hochschulleitungen greifen z.B. in ihrer finanziellen Not nur allzu gern nach dem Strohhalm der Studiengebühren oder privater Drittmittel. Sie haben vor der nunmehr seit den 70 Jahren mit dem sog. Öffnungsbeschluss beginnenden staatlichen „Unterfinanzierung“ resigniert und ihre Hoffnungen auf eine angemessene staatliche Finanzierung weitgehend aufgegeben. Das Politikum, dass nämlich die knappen öffentlichen Kassen auch etwas mit dem Steuersenkungswahn und der Aushungerung des Staates der letzten Dekaden zu tun hat, wird gar nicht mehr gesehen. „Starve the beast“ war ja der Kampfruf der Chicago Boys, also der Reaganomics und des Thatcherismus.

Unverkennbar ist auch die überwiegende Mehrheit der Hochschulangehörigen auf den neoliberalen Mainstream eingeschwenkt. Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten, wo diese Lehre nahezu unisono verkündet wird, haben da ganze Arbeit geleistet. Vor allem die „visible Scientists“ haben sich schon eingerichtet als Unternehmensführer auf dem Wissenschaftsmarkt; sie holen Geld ab, wo es auch immer zu holen ist. Über die soziale Auslese-Funktion von Studiengebühren und ihre bildungspolitische Bedeutung wird so z.B. kaum noch nachgedacht. Die Hochschulen sind ja ohnehin überfüllt, warum sollte man sich da auch noch Sorgen machen, um diejenigen, die wegen dieser Geldbarriere vor den Hörsälen bleiben.

Die Hochschulen als alleiniger Adressat und Träger für einen Leitbildwechsel werden also nicht ausreichen.

Das kann man am Beispiel der Einführung und der Abschaffung von Studiengebühren studieren:
Wäre es allein nach den Hochschulen gegangen, so hätten sie dieses „Doping“ niemals absetzen wollen. Nachdem Regierungswechsel in NRW mosern bis heute die Landesrektorenkonferenz und mit ihr die meisten Rektoren an dem Vorhaben der dortigen Landesregierung herum, die Studiengebühren wieder abzuschaffen, obwohl eine weitgehende Kompensation der Mittel zugesagt wurde.

Ich höre auch, dass die Präsidenten der Hochschulen z.B. Widerstand gegen eine demokratische Eingrenzung der Machtbefugnisse der den unternehmerischen Aufsichtsräten nachgebildeten Hochschulräte leisten. Und das, obwohl die Regelung in § 17 Abs. 3 Satz 2 des NRW-„Hochschulfreiheitsgesetzes“ wonach die Hochschulräte ein Präsidium durchboxen können, das nicht das Vertrauen des Senats genießt, nach einem 200-seitigen Rechtsgutachten als Verstoß gegen die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG angesehen wird. Und obwohl die Besetzung der Hochschulräte zur Hälfte mit hochschulexternen Persönlichkeiten und einem Stichentscheid des externen Vorsitzenden gegen Art. 16 Abs. 1 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung verstoßen.

Warum sollten die Hochschulpräsidien – oder die Vorstandsvorsitzenden, wie sie in Baden-Württemberg bezeichnenderweise genannt werden – auch freiwillig wieder etwas von der ihnen einmal zugestandenen Macht preisgeben. Können sie doch mit den Hochschulräten im Rücken und ihrer ohnehin massiv gestärkte Durchgriffsgewalt praktisch jeden lästigen Widerstand der Hochschulgremien gegen ihre Top-Down-Entscheidungen brechen.

Zu einem wirklichen Leitbildwechsel im Hochschulsystem wird es letztlich erst dann kommen, wenn wir gleichzeitig auch einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel schaffen. Der Paradigmenwechsel weg vom humboldtschen Bildungsideal hin zum hayekschen Glauben an die Überlegenheit der Markt- und Wettbewerbssteuerung ist ja keineswegs ein Spezifikum der Hochschulreformen der letzten Jahre. Dieser Umbruch ist Ausfluss des zur Vorherrschaft gelangten gesellschaftlichen Denkens, das mit den Schlagworten Deregulierung, Privatisierung, Wettbewerb und einer dramatischen Zurückdrängung des Staates zusammengefasst werden kann. Dieses Weltbild hat ja nicht nur die Wirtschaft durchdrungen, sondern es hat sich auch in nahezu allen anderen gesellschaftlichen Bereichen von der Sozialpolitik (z.B. der kapitalgedeckten privaten Vorsorge) über die Kulturpolitik bis hinein eben auch in die Bildungspolitik durchgesetzt. Wir erleben es bei der Privatisierung von Leistungen der Daseinsvorsorge oder bei der finanziellen Ausblutung des Staates.

Ohne einen gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel, weg vom mit „neoliberal“ nur unzulänglich umschriebenen Weltbild, wird es auch keinen erfolgreichen Leitbildwechsel an den Hochschulen geben. Und wie die politischen Mehrheitsverhältnisse – übrigens auch in der SPD – derzeit noch aussehen, liegt für einen solchen Wechsel noch ein längerer Weg vor uns.

Aber immerhin ein Anfang ist geschafft: Die Studiengebühren z.B. sind durch die Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse in Hessen und im Saarland wieder abgeschafft. Und in NRW sollen sie ab dem kommenden Wintersemester abgeschafft werden, wenn es nach dem Willen der derzeitigen Minderheitsregierung geht und das Landesverfassungsgericht keinen Strich durch die Rechnung macht.

Wir können allerdings von dem verstorbenen Bertelsmann-Patriarchen Reinhard Mohn eine wichtige Erkenntnis lernen: Mohn hat sich mit seiner Stiftung gerade deshalb so stark auf dem Feld der Hochschulpolitik engagierte, weil er der festen Überzeugung war, dass die Hochschulen – wie er vielfach hervorhob – ein „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“ sind. Deshalb hat er die erste deutsche private Hochschule Witten-Herdecke finanziert und als er erkannt hat, dass dieser in einen Paradigmenwechsel nicht gangbar ist, hat er eben die staatlichen Hochschulen „funktionell“ privatisiert.

Wir sollten also nicht abwarten, bis sich der politische Wind gedreht hat, auch wir sollten die Hochschulen als einen Schlüssel betrachten, den Wandel sowohl an den Hochschulen als auch in der Gesellschaft voranzutreiben.

Dabei sollte man vom politischen Gegner lernen und abschauen, was ihm zum Erfolg an den Hochschulen geholfen hat. Ironisch gesagt: Von Bertelsmann lernen, heißt siegen lernen.

Ich habe eingangs, als ich die Gründe für den Erfolg des CHE skizzierte, schon einige wichtige Elemente für eine solche Strategie zur Veränderung eines Leitbildes für die Hochschulen genannt.

1. Das Erste ist, Geduld und Beharrlichkeit.

Das CHE und sein Netzwerk hat Jahre gebraucht, bis es etwa den politischen und gesellschaftlichen Konsens, dass Bildung und ein Studium ein gemeinnütziges Gut zu sein haben, durchbrochen hat. Seit 1994 propagierte das CHE die Studiengebühr und noch bis ins Jahr 2000 verständigten sich die Kultusminister im thüringischen Meiningen einstimmig darauf, dass ein Erststudium gebührenfrei sein soll. Noch 2002 fand sich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag für eine Novelle des Hochschulrahmengesetzes, mit der die Studiengebührenfreiheit bundesweit gewährleistet bleiben sollte. Erst als das Bundesverfassungsgericht diese Regelung kassierte, brachen die Dämme. Bis dahin galt ein weitgehender gesellschaftlicher Konsens, dass Bildung ein öffentliches, gemeinnütziges Gut ist, dessen Förderung ein allgemeines Anliegen ist und eine öffentliche Aufgabe zu sein hat. Selbst die FDP sprach damals von einem „Bürgerrecht auf Bildung“. Erst allmählich hat sich durch Wühl- und Propagandaarbeit und auf der Basis von Kohls „geistig-moralischer Wende“ die Auffassung breit gemacht, dass ein Studium ein „privates Investment“ in das persönliche „Humankapital“ zu sein habe.

Wir können und dürfen nicht hoffen, dass sich mit der Vorlage eines noch so guten und überzeugenden dreißig Seiten starken Papiers – selbst wenn es vom Gewerkschaftstag des DGB beschlossen würde – die Welt verändern würde.
Wir können auch nicht erwarten, dass mit 14 im Internet verschütteten Expertisen, die zum Leitbild geführt haben, eine hochschulinterne oder gar eine öffentliche Debatte angestoßen wird.

Da höhlt nur steter Tropfen den Stein.

Das Mindeste wäre, dass diese Expertisen – sei es in einer Schriftenreihe einzeln oder sei es gesammelt in Buchform – aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt würden. Aber vielleicht ist das inzwischen schon zu weit zurückliegend.

Aber auch eine solche Veröffentlichungspraxis bliebe nur eine Eintagsfliege, die noch nicht genügend Eier für einen neuen Schwarm gelegt hätte.

Es müsste – ähnlich wie das mit Gustav Horns Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gelungen ist – eine gewerkschaftliche oder ein gewerkschaftsnahes Zentrum für Hochschulentwicklung geben. Das IMK hat es immerhin geschafft, dass es wieder eine hörbare Stimme einer nachfrageorientierten ökonomischen Schule gegen den mächtigen Chor für eine „marktgöttliche Weltordnung“ und für die „Vertriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens“ (Heribert Prantl) gibt.

Wodurch ist das gelungen: Das IMK mischt sich regelmäßig in die Debatte ein, es stellt häufig Gutachten und Analysen gegen den Mainstream und es bietet mit Gustav Horn und anderen inzwischen bekannter gewordene Ansprechpartner für solche Medien, die wenigstens ein bisschen auf Meinungsvielfalt achten.

Diese regelmäßige Einmischung auch zu aktuellen Themen und öffentlich sichtbare Köpfe, die von den Medien angerufen werden, wenn sie darüber berichten wollen, fehlen uns auf dem Feld der Hochschulpolitik weitgehend. Es gibt da nur einzelne mutige „Widerständler“ wie etwa Richard Münch, Michael Hartmann, Torsten Bultmann oder einige der Ersteller der Expertisen für das neue Leitbild.

2. Zusammenführung von Ressourcen

Anders als die Bertelsmann Stiftung, die dem CHE jährlich 3 Millionen zur Verfügung stellt, wird es den Gewerkschaften (auch allen zusammen) kaum gelingen vergleichbar große Ressourcen für einen Wandel der Wissenschafts- und Hochschulpolitik zu aktivieren. Selbst wenn die Gewerkschaften die Botschaft Reinhard Mohns ernst nähmen und die Hochschulen als „Schlüssel zur Gesellschaftsreform“ betrachten würden (– was ja noch bei weitem nicht alle begriffen haben).

Aber immerhin könnten sich die Einzelgewerkschaften stärker mit der an den Hochschulen vertretenen GEW und ver.di zusammentun und öfters einmal gemeinsam den einen oder anderen Kongress zur Bildungs- und Hochschulpolitik veranstalten und finanzieren. Eine solche Partnerschaft beruht natürlich auf Gegenseitigkeit und da ist auch noch Luft nach oben. Es bekäme schon ein anderes Gewicht, wenn man sich verbündet und als Organisation, die immerhin 6,2 Millionen Mitglieder hat, gemeinsam auftritt. Dazu müsste man allerdings bereit sein – auch bei einigen politischen Nuancen im Detail -, die Fünf einmal gerade sein zu lassen. Jedenfalls müsste man der GEW und ver.di an der Front den Rücken stärken.

3. Networking

Man müsste auch die Berührungsängste mit den studentischen Aktionsbewegungen, mit kirchlichen Gruppen, die an der Hochschule aktiv sind, oder – horribile dictu – mit dem Bund demokratischer Wissenschaftler (BdWi) zurückstellen.

Der Hochschulverband oder gar die HRK sind sicherlich als Organisationen derzeit keine Bündnispartner. Aber sicher gibt es auch in den Hochschulpräsidien oder in den Dekanaten viele einzelne Ansprechpartner, die man in ein Netzwerk einbeziehen könnte. Nicht zu vergessen natürlich die vielen Vertrauensdozenten der Hans-Böckler-, der Friedrich-Ebert, der Heinrich-Böll und nicht zuletzt auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Ich habe es sehr bedauert, dass die Gewerkschaften bei den Bildungsstreiks die Gelegenheit verpasst haben, sich den streikenden Studierenden öffentlich wahrnehmbarer zur Seite zu stellen. Haben es nicht gerade diese Protestierenden geschafft, bei der ersten der beiden Landtagswahlen in Hessen Roland Koch eine krachende Niederlage zuzufügen? Früher hat man gesagt, mit Bildungspolitik kann man keine Wahlen gewinnen, sondern nur verlieren. Das hat sich geändert. Die Schul- und die Hochschulpolitik steht bei den Wählerinnen und Wählern inzwischen ziemlich weit oben auf der Agenda. Und immer noch sind immerhin zwei Drittel der Bevölkerung der Meinung, dass es keine Studiengebühren geben sollte. Die Eltern und Großeltern erleben doch, wie ihr Nachwuchs durch G 8 und Paukstudien gequält wird und wie die Wartezeiten auf einen Studienplatz mit einem n.c. immer länger werden. Wer ärgert sich nicht über das Zulassungschaos, das entstanden ist, weil sich viele Hochschulrektoren wie Duodezfürsten aufspielen?

4. Anlaufstellen schaffen

Den Gewerkschaften wird es sicherlich nicht gelingen, die Hochschulrektorenkonferenz aus dem Boot des CHE zu locken. Aber wenigstens könnten sie dieses Boot ein wenig ins Schaukeln bringen. Solange man aber auch auf Gewerkschaftsseite noch den Fehler macht und die HRK als neutrale Interessenvertretung der Hochschulen betrachtet, wird das CHE weiter die Rektoren als Türöffner einsetzen bzw. umgekehrt werden sich die Rektoren gefahrlos des Schreibtischs in Gütersloh bedienen.

Die Gewerkschaften haben zwar kein Geld, aber sie haben immer noch viele kluge Köpfe auf ihrer Seite. Nicht zuletzt die 14 Expertisen für das Leitbild oder die Projektgruppe selbst haben das bewiesen.

Wie wäre es, wenn z.B. die Hans-Böckler-Stiftung oder der DGB eine Stelle schafft, die regelmäßig Kontakte zu Wissenschaftler/innen pflegt, von denen man erwarten kann, dass sie diesem Leitbild nahestehen. Wie wäre es, wenn man diese Wissenschaftler/innen bittet ihre wissenschaftlichen Arbeiten oder populäre (Kurz-) Fassungen dieser Arbeiten zur Verfügung zu stellen und diese in einer Schriftenreihe – etwa wie dem IMK-Report oder den GEW-Schriften – zu veröffentlichen?

Wie wäre es, wenn man sich mit den sog. „Zuschlägern“ (also den Menschen hinter den Großkopfeten) in den Hochschulen, in den Parteien, bei den Bundes- und Landtagsfraktionen zu einigermaßen regelmäßigen Gesprächen träfe?

Wie wäre es, wenn man öfters einmal mit Mitarbeitern der Wissenschaftsredaktionen der Medien diskutierte, damit diese Gewerkschafter überhaupt erst einmal kennen lernen und nicht als verknöcherte Ewiggestrige betrachten?

Wäre es nicht möglich, dass die Hans-Böckler-Stiftung oder andere gewerkschaftsnahe Stiftungen öfters einmal eine so verdienstvolle Studie fördern, wie etwa die von Klaus Dörre oder Matthias Neis zum Dilemma der unternehmerischen Universität?
Auch wir von den NachDenkSeiten würden dazu gerne unsere kleine Trommel rühren und wir wissen, dass wir von vielen Studierenden und Hochschullehrern zur Kenntnis genommen werden.

Wichtig wäre eine gewisse Regelmäßigkeit von Stellungnahmen, so dass man allmählich zu einer Anlaufstelle für Interessierte aus den Hochschulen, aber auch aus der Politik und aus den Medien wird. Und wichtig wäre die Vermittlung von kompetenten Gesprächspartnern zu bestimmten Themen für einschlägige Veranstaltungen.

Für viele verdiente Gewerkschaftsfunktionäre wäre der Gedanke sicherlich noch eine Zumutung, wenn man eine unabhängige Institution schüfe, die einige der genannten Aufgaben übernehmen würde. Aber auch an dieser Stelle erinnere ich an die Strategie der anderen Seite: Das CHE firmiert als unabhängige gemeinnützige Einrichtung, auch beim Stifterverband ist nicht jedem klar, wer dahinter steht, selbst die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gibt sich den Anstrich von Unabhängigkeit. Unter dem Tarnmantel der „Unabhängigkeit“ sind diese Organisationen aber – was die Beeinflussung der öffentlichen Meinung angeht – effizienter als die Unternehmerverbände, also etwa der BDI oder der BDA selbst. Verlautbaren sich die Arbeitgeberverbände, dann ist jedenfalls für Viele klar, dass hinter ihren hochschulpolitischen Positionen bestimmte Interessen stehen. Und so werden auch die Gewerkschaften oder ihre Stiftungen eben auch „NUR“ als Interessenvertreter wahrgenommen und nicht als quasi-neutrale Fach-„Experten“. Und so lange man als Interessenvertreter gilt, müssen Veranstalter oder die Medien immer darauf achten, dass man zur Wahrung der „heiligen“ Pluralität oder der „Ausgewogenheit“ immer einen Vertreter der Arbeitgeberseite dagegen stellt.

5. Problemorientiertes Vorgehen

Stuttgart 21, jüngst auch wieder Brockdorf oder auch andere Erscheinungen des zivilen Widerstandes haben gezeigt, dass die angeblich so politikverdrossenen Bürgerinnen und Bürger sich durchaus Gehör verschaffen können. Es scheint aber das Phänomen zu geben, dass sich die Menschen weniger bei allgemeinen Aufrufen von Parteien oder Gewerkschaften engagieren (siehe etwa das magere Engagement beim groß angekündigten „heißen Herbst“), sondern sich an konkreten Projekten reiben und wenn es sein muss, sogar Druck von der Straße machen.

Meine Erfahrung bei Veranstaltungen ist, dass es nur schwer ist, einen Hörsaal zu füllen, wenn man nur über ein allgemeines Thema vorträgt. Ist der Vortrag aber so plakatiert, dass eine aktuelles oder noch besser ein möglichst sogar noch vor Ort streitiges Thema benannt wird, dann ist viel mehr Interesse da.

„Studiengebühren müssen weg“ ist eben attraktiver als der Titel „Humboldts Begräbnis“.

Wenn also gewerkschaftsnahe Gruppen an den Hochschulen Veranstaltungen planen, sollten sie möglichst ein Zündstoff-Thema gerade an der betreffenden Hochschule aufgreifen – selbst wenn der eingeladene Referent später hauptsächlich über das Leitbild für eine soziale und demokratische Hochschule referiert – was meist ohne Schwierigkeiten möglich ist.

Und noch etwas ist mir aufgefallen, was gewerkschaftliche Position häufig verwässert. Ich habe zwar großes Verständnis für die parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften, aber muss es unbedingt sein, dass eine Gewerkschaftsveranstaltung sozusagen erst ihre höheren Weihen bekommt, wenn man einen reaktionären Wissenschaftsminister als Gegner mit aufs Podium setzt oder gar zu einem Koreferat einlädt.

Auch dabei könnte man vom CHE lernen. Während die Stiftung ansonsten das Wort „Wettbewerb“ nahezu in jedem zweiten Absatz im Munde führt, lässt sie bei sich selbst Wettbewerb gerade nicht zu. Sie arbeitet – wie sie das selbst nennt – ausschließlich „operativ“. Nicht nur indem sie lediglich ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und keine Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt, sondern in dem bei ihren Tagungen nahezu ausschließlich Referenten auftreten, die auf Linie liegen oder bestenfalls konstruktive Kritik an dieser Linie üben. Oder noch mehr, das CHE stellt nur schlicht seine meist schriftlich vorgegebenen Ergebnisse einem gewogenen Forum vor.

Die Netzwerkarbeit und Projektentwicklung der Bertelsmann Stiftung ist so angelegt, dass sich die Akteure gar nicht mehr mit Gegenmeinungen und Kritik auseinandersetzen, dass sie Kritik in einer Haltung der Selbstgewissheit an sich abprallen lassen können und so auftreten, als hätten sie die Richtigkeit und Wahrheit ihrer Konzepte von vorneherein und zweifelsfrei erkannt.

Dieses indoktrinäre Vorgehen würde ich mir von den Gewerkschaften zwar nicht wünschen, aber ein bisschen mehr Selbstbewusstsein wäre manchmal nicht schlecht.

6. Zuspitzung der Positionen

Wenn man, wie ich häufiger zu irgendwelchen Festveranstaltungen an Hochschulen eingeladen wird, dann hört man in jeder Rede der Promis bis zum Erbrechen folgende Stichworte aus dem Redenschreibgenerator:

Hundertmal „Wettbewerb“ und „Autonomie“, „Exzellenz“ „effektives Management“ und dann natürlich noch „Profilierung“, „Stärken stärken, Schwächen abbauen“, „Wirtschaftlichkeit“, „zusätzliche Finanzierungsquellen angesichts knapper öffentlicher Kassen“, „Internationalisierung“ und selbstverständlich darf „Marketing“ nicht fehlen und ganz modern, hört man dann vielleicht noch „Virtualisierung“.
(Mustergültig vorgetragen von Detelef Müller-Böling im November 2010 bei einer Veranstaltung unter dem bezeichnenden Titel „CampusInnovation“ an der Uni Hamburg)
Wenn ich Gelegenheit habe, frage ich dann immer, was die Redner unter diesen Stichworten verstehen. Meistens kommt da ziemliches Gestammel.

Was will ich damit sagen: Es ist den sog. „Reformern“ gelungen jedem oder jeder die etwas über Hochschule sagt, die zu ihrer Reform gehörenden Propagandaparolen einzuhämmern. Das hat schon fast Orwellsche Qualitäten.

Es ist diesen „Reformen“ gelungen positiv konnotierte Begriffe mit ihren Hintergedanken zu besetzen. Am besten ist das mit den Tarnwörtern „Freiheit“ oder „Autonomie“ gelungen. Das Hochschulgesetz in NRW heißt z.B. Hochschul-„Freiheits“-Gesetz. Gemeint ist die Freiheit von Staat und Gesellschaft und die Unterstellung unter die Zwänge des Wettbewerbs, der mit „unsichtbarer Hand“ die Hochschulen dahin lenkt, wo es auch privates Geld gibt. Aber natürlich bestimmt der die Musik, der die Kapelle bezahlt.

Genauso ist es gelungen, den für jeden Hochschulangehörigen sympathisch anmutenden Begriff „Autonomie“ zu besetzen. Die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz soll die Autonomie der Wissenschaft garantieren und zwar zum gesamten Wohl der Gesellschaft. Autonomie heißt aber gerade nicht Willkürherrschaft einer autokratischen Hochschulleitung, die eine Hochschule wie ein Großunternehmen nach Gutsherrenart führen kann und sich dabei mit dem Alibiargument der Wettbewerbsfähigkeit gegen alle Träger des Freiheitsrechts (und das gilt für Professorinnen und Professoren und auch für Studierend) durchsetzt.

Was heißt das für die Vertreter des Leitbilds für eine soziale und demokratische Hochschule?
Sie müssen eingängige Formeln finden, und sich nicht zu schade sein, sie auch ständig zu wiederholen, bis sie auch von Provinzjournalisten am jeweiligen Hochschulort gelernt werden. Sie müssen die Begriffe mit ihren Inhalten besetzen oder die Begriffe wieder zurückerobern. Sie müssen sympathieweckende Begriffe für ihre Ziele finden und Begriffe, die die Probleme beschreiben.

Nun weiß ich, dass man – wenn man von den gängigen und als selbstverständlich genommenen Argumentationsmustern abweicht – immer ein paar gute Argumente mehr braucht, als die Vertreter der herrschenden Lehre. Dennoch müssen wir noch viel Geistesschmalz darein setzen, dass wir ein neues Leitbild in griffige (allerdings auch zutreffende) Formeln fassen können.

Und ein Letztes sollten wir von den sog. „Reformern“ der letzten zwanzig Jahre lernen: Diesen Reformen ging eine jahrelange Kampagne der Miesmache des staatlichen Angebots voraus.

Manche der Älteren unter Ihnen werden sich bestimmt noch an die Schlagworte erinnern, mit denen im Wortsinne zugeschlagen wurde: Die Hochschulen seien „Mittelmaß“, im „Kern verrottet“ (so etwa der Sozialdemokrat Peter Glotz), „mit dem Latein am Ende“ (Spiegel) oder einfach nur „krank“. Das hatte durchaus Methode: Mit diesem Schlechtreden des „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ wurden ja auch die ganzen sog. „Strukturreformen“ und das Lohndumping durchgesetzt.

Um die Leute in Fragen der Bildungspolitik wach zu rütteln bedarf es offenbar eines gewissen Katastrophismus. Schon Georg Picht hat mit seinem Büchlein mit dem alarmierenden Titel die „Bildungskatastrophe“ 1964 eine der größten Bildungsoffensiven der Bundesrepublik angestoßen.

Man darf natürlich den an der Hochschule Tätigen nicht ihr persönliches Engagement und ihren besten Willen absprechen, aber man sollten sich auch nicht zurückhalten, das Paukstudium auch Paukstudium zu nennen oder zu sagen, dass an den staatlichen Hochschulen eine „funktionelle Privatisierung“ stattgefunden hat, die die gesellschaftliche Verantwortung (auch für die Mittel der Steuerzahler) der Hochschulen völlig aus den Augen verloren hat.

Es wäre noch viel zu sagen und man müsste tiefer ins Detail gehen, aber ich habe Ihren Gesprächsbedarf schon viel zu lange hingehalten.

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