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Titel: Fachkräftemangel – Ein Beitrag über die Lage vor Ort

Datum: 21. Juli 2011 um 9:00 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Demografische Entwicklung, Fachkräftemangel
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Erfahrungen aus der „Provinz“.
Das Thema Fachkräftemangel hat für Südniedersachsen zwar keine akute, aber dennoch eine reale und vor allem zunehmende Bedeutung, wobei das Thema sehr komplex ist. Von Sven Grünewald

Die Gegend hier hat einen Einzugsbereich von 4 Landkreisen mit etwa 500.000 Menschen. Das Oberzentrum Göttingen stellt praktisch das Gravitationszentrum dar, darum herum sehr ländlicher und z.B. im Harz relativ strukturschwacher Raum. Damit ist Südniedersachsen vermutlich für viele Gegenden jenseits der Ballungsräume repräsentativ. Während Göttingen durch die Universität keine schwerwiegenden demografischen oder wirtschaftlichen Probleme hat, stellt sich das in der Fläche doch deutlich anders dar, dort ist ein Bevölkerungsrückgang um bis zu 25% bis 2030 absehbar (die gewissen Unwägbarkeiten von Prognosen mal außen vor gelassen). Göttingen selbst konkurriert mit den “Ballungsräumen” Hannover/Braunschweig im Norden und Kassel im Süden; der ländliche Raum in der Umgebung muss zudem das starke Gefälle gegenüber Göttingen verkraften. Entsprechend haben es Unternehmen in diesen ländlichen Regionen schon einmal deutlich schwerer, auf dem Arbeitsmarkt überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Hinzu kommt die fehlende Attraktivität für Arbeitnehmer, da der Wohn- und Lebenstrend deutlich zu den Zentren/Ballungsgebieten geht.

Den Mangel sieht man bei Ingenieuren, sehr extrem im Pflege- und medizinischen Bereich und zunehmend auch im Handwerksbereich, wobei die Ursachen jeweils sehr verschieden sind. Die fehlenden Anreize für Allgemeinmediziner, aufs Land zu ziehen, sind hinlänglich bekannt (etwa in Uslar, einer 14.000-Einwohner-Stadt, gibt es meines Wissens nur noch 3 Allgemeinmediziner, die alle kurz vor dem Ruhestand stehen, ohne dass Nachfolger in Sicht wären); im Handwerk macht sich der demografische Wandel immer stärker bemerkbar, da es an den Berufsschulen feste Mindest-Klassengrößen gibt – wird die notwendige Schülerzahl unterschritten, werden diese Klassen/Fächer in der Regel nicht mehr angeboten mit dem Ergebnis, dass potenzielle Auszubildende dann immer weiter in die Zentren pendeln müssten. Da der Ausbildungsbetrieb nicht verpflichtet ist, diese Kosten zu übernehmen und die Vergütung für Azubis ohnehin schon sehr niedrig ist, heißt das letztlich, dass viele Betriebe in der ländlichen Fläche gar keine Auszubildenden mehr finden/einstellen. Hier verschärft sich parallel zur Verödung und Vergreisung der Dörfer und Kleinstädte auch die Grundversorgung mit Dienstleistungen. Dass es auch insgesamt auf dem Markt weniger geeignete Kandidaten gibt, trägt zu dem Problem Fachkräftemangel gerade im ländlichen Bereich verstärkt bei.

Zu den “geeigneten” Arbeitslosen wäre noch zu sagen, dass etwa in der Industrie durch die gestiegene Differenzierung der Branchen und Ausbildungs- sowie (technischen) Studiengänge ohnehin Ingenieur nicht mehr gleich Ingenieur ist, um das klassische Beispiel zu nehmen. In Göttingen z.B. sind im Unternehmens-Netzwerk Measurement Valley zahlreiche hochspezialisierte Messtechnikfirmen zusammengeschlossen, die oftmals internationale Schlüsselpositionen einnehmen. Während sie sich auf Produktebene nicht unbedingt Konkurrenz machen, werben sie jedoch auf Mitarbeiterebene um den gleichen, sehr kleinen Pool an hochqualifizierten Bewerbern. Da macht sich ein geringfügiger Bewerberschwund schon deutlich bemerkbar.  

Und auch gerade bei den Langzeitarbeitslosen, die gerne als nachqualifizierbare Reserve ins Feld geführt werden, sieht es in der Praxis nicht so einfach aus. Diese Leute sind, nach Erfahrungen von Vermittlern, erst durch umfangreiche und langwierige Heranführung an das Arbeitsleben und Nachschulungen wieder in den Arbeitsmarkt integrierbar – wofür allerdings nicht ausreichend und 2011 auch nur drastisch gekürzte (25%) Bundesmittel zur Verfügung stehen. Der Niedriglohnsektor, Lohndumping sowie eine Unterbeschäftigung von Arbeitnehmern spielen, so weit mir bekannt, dabei nur eine wenn überhaupt marginale Rolle.

Auf der Angebotsseite der Arbeitskräfte kann man festhalten, dass es eine abnehmende Zahl an Bewerbern gibt sowie es an geeigneten Arbeitssuchenden fehlt – sei es, weil sie nicht existieren oder nicht in die Fläche kommen. Alles in allem ist das Problem aber quantitativ in der Breite der Branchen noch(!) nicht akut, sondern ist wenn überhaupt, dann in spezialisierten Bereichen spürbar. Deshalb wäre es angemessener, von einem sich abzeichnenden Fachkräftemangel zu sprechen, da der Trend erkennbar ist. Die mediale Panikmache geht aber weit an dem Problem vorbei.

Auf der anderen Seite steht die Nachfrage der Unternehmen und da scheint es mir derzeit noch größere Unflexibilitäten zu geben, die das vermeintliche Problem, also den Trend zum Mangel, verschärfen. Die Crux liegt dabei unter anderem im Label “geeigneter Bewerber”. Dem Spezialisierungstrend folgend ist auch der Fokus sehr eng: Es muss der und der Bewerber sein, mit diesen und jenen Qualifikationen etc. Werden die weniger, wird auch der Mangel naheliegenderweise akut. Gleichzeitig ist man auf Unternehmerseite aber nur bedingt bereit, die vorhandenen “zweitbesten” Bewerber zu nehmen, da man bei diesen noch zusätzlich in Qualifizierung investieren müsste. Von daher wird auch der Ruf nach Zuwanderung Hochqualifizierter verständlich, da Unternehmen das perfekte Potenzial nicht mehr ausreichend vorfinden. Gleichwohl existiert ein Bewerberfeld, mit dem man arbeiten könnte – zwar verbunden mit gestiegenem Aufwand im Vergleich zu früher, aber absolut machbar.

Ebenso liegt ein großes Potenzial in der Weiterqualifizierung der bestehenden Belegschaft und natürlich auch im verstärkten Einsatz und der Nutzung der Erfahrungen von älteren Mitarbeitern oder Bewerbern, die bisher systematisch diskriminiert werden. Wenn Unternehmen also wollten, dann könnten Sie dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel durchaus begegnen, ohne dass er sich zu einem ernsten Problem auswächst – man müsste eben “nur” die bequeme Erwartungshaltung hinter sich lassen, dass man ein Überangebot an Bewerbern zur Verfügung hat.

Kurzum: Aktuell wäre ein Fachkräftemangel nur sehr bedingt auf einen tatsächlichen numerischen Mangel an qualifiziertem Personal zurückzuführen (auch wenn dieser Trend sich weiter ausprägt). Stattdessen spielen andere Faktoren eine viel größere Rolle:

  1. die unterschiedliche räumliche Verteilung der Arbeitskräfte
  2. die unterschiedliche Konkurrenzfähigkeit/Attraktivität der Regionen
  3. die fehlende Investition in bestehende Mitarbeiter
  4. die fehlende Horizonterweiterung bei der Bewerberauswahl seitens der Unternehmen
  5. fehlende Wiedereingliederungsmittel für Langzeitarbeitslose

So zumindest stellt sich das Problem Fachkräftemangel aus der regionalen Perspektive dar.

Die ausführliche Reportage zum Thema Fachkräftemangel im südlichen Niedersachsen erschien im RegJo Südniedersachsen 4/2010 [PDF – 881 KB].


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