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Titel: Nachdenken über „Denkfehler“. Zurück in die Siebziger?

Datum: 30. Dezember 2004 um 12:29 Uhr
Rubrik: Rezensionen
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Von Erhard Eppler. Der Autor lebt in Schwäbisch Hall. Er war von 1968 bis 1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und langjähriger Vorsitzender von Grundwerte- und Programmkommissionen der SPD. Unvergessen sein Auftritt auf dem SPD-Parteitag 2003.

Der Sozialdemokrat Erhard Eppler bespricht für uns das neue Buch „Reformlüge“ von Albrecht Müller, SPD. Sein Fazit: „Ich fürchte, die Überwindung der neoliberalen Dominanz ist viel schwieriger, sie wird länger dauern und anders verlaufen, als Albrecht Müller uns glauben machen will“.

Wer hat sich nicht schon geärgert, wenn die fünf mehr oder minder Weisen unserer Regierung mit gewichtiger Miene und als Ausfluss unanfechtbarer Wissenschaft immer dieselben Rezepte verschreiben?

Wer hat nicht schon den Wirtschaftsteil einer Zeitung resigniert beiseite gelegt, weil er nach Lektüre der Überschrift schon genau wissen konnte, was im Meinungsartikel steht? Wer hat nicht schon gefragt, warum die Neoliberalen – übrigens wie die Marxisten-Leninisten – ihre Ideologie als reine Wissenschaft verkaufen dürfen? Wem geht es nicht auf die Nerven, wenn das Thema soziale Gerechtigkeit auf den Satz verkürzt wird: „Sozial gerecht ist, was Arbeitsplätze schafft“, zumal durchaus im Streit bleibt, was dies denn wäre. Wer wittert nicht eine perfide Strategie, wenn keine Steuersenkung und kein Vergleich mit anderen Ländern unsere Unternehmerverbände von der These abbringen kann, die deutsche Wirtschaft stöhne unter viel zu hohen Steuern? Wem kommt nicht die Galle hoch, wenn ein „Bund der Steuerzahler“ den – durch Beispiele gar nicht belegten – Eindruck erweckt, als sei unser demokratischer Rechts- und Sozialstaat nur ein fettes Ungeheuer, das die sauer verdienten Cents der Bürger verschlingt? Oder wenn Peter Glotz Universitäten privatisieren und an die Börse bringen will?

Wer solche Gefühle kennt, ist mit Albrecht Müllers „Reformlüge“ erst einmal glänzend bedient. Da wird vieles aufs Korn genommen, was nicht nur dem Autor missfällt. Müller redet dann von „Denkfehlern“, „Mythen“ und „Legenden“, und er listet ganze vierzig auf. Vieles ist plausibel, aber keineswegs alles. Wenn wir täglich hören und lesen müssen, wir seien ein Gewerkschaftsstaat (Denkfehler Nr. 26) oder wir seien eben nicht wettbewerbsfähig (Denkfehler Nr. 13), so hat dies doch wohl nicht denselben Gehalt an Wahrheit und Unwahrheit wie die Aussage: „Wir sind überschuldet.“ (Denkfehler Nr. 30) oder „Wir werden immer älter.“ (Denkfehler Nr. 6). Aber da Müller immer seine Gründe angibt, ließe sich über all dies reden.

Schwierig wird es, wenn wir nach der Grundüberzeugung suchen, die hinter der herben, eingängig formulierten Kritik steht. Und da beginnt das Staunen, auch bei einem Sozialdemokraten, der zur selben Zeit wie Müller Verantwortung trug. Albrecht Müller, Redenschreiber für Karl Schiller und Leiter der Planungsabteilung im Kanzleramt von 1973 – 82, also vor allem bei Helmut Schmidt, findet, eigentlich habe sich seit den Siebzigern nichts grundlegend verändert – außer der herrschenden Ideologie und wohl auch der Kompetenz und dem Mut der (sozialdemokratischen) Regierenden. Deshalb gehe alles schief.

Globalisierung? Ein alter Hut! Konjunkturprogramme? Nach wie vor empfehlenswert. Überalterung der Gesellschaft? Schon damals erkennbar, nur eben – weil man klüger war – nicht dramatisiert. Lohnnebenkosten? Quantité beinahe negligeable. Betriebsverlagerungen ins Ausland? Auch nicht neu, neu sind allenfalls die reuigen Rückkehrer. Und so fort. Müller legt zwar kein eigenes Kontrastprogramm vor. Aber man kann es aus dem Text ohne Mühe erschließen: Macht es so, wie wir es in den siebziger Jahren gemacht haben!

Wer dieses Buch aus der Hand legt und zur Tageszeitung greift, fragt sich verblüfft, ob er im falschen Film sei. Was passiert da bei Opel, VW, Siemens, Daimler? Sind die Betriebsräte, die Verantwortlichen der IG Metall, die da an schmerzhaften Konzessionen nicht vorbeikommen, auch entweder dumm oder opportunistisch oder gar korrupt? War Ähnliches in den siebziger Jahren auch nur von ferne denkbar? Oder hat die Beweglichkeit und Erpressungsmacht des Kapitals eben doch eine neue Qualität erreicht, der weder Gewerkschaften noch Regierung Gleichwertiges entgegenzusetzen haben? Wissen die Herren von VW alle nicht, was Albrecht Müller – und nicht nur er – so plausibel darlegt: Dass Löhne nicht nur Kosten, sondern auch Kaufkraft sind? Oder interessiert sie das nicht, weil sie Angst haben, im globalen Wettbewerb eines entfesselten Kapitalismus unterzugehen?

Es stimmt ja: Wo der Shareholder-Value zum obersten Wert wird, beginnt das Jammern der Bosse nicht erst, wenn rote Zahlen geschrieben werden. Oft geht es nur um die Steigerung der Umsatzrendite und damit um den Aktienkurs. Auch die Manager haben Angst, und zwar vor einem niedrigen Aktienkurs, der zur feindlichen Übernahme einladen könnte. Nur: Das globalisierte Kapital sitzt am längeren Hebel, wo immer es die Kräfte misst mit nationalen Regierungen oder Gewerkschaften. Die Kapitalbesitzer kennen ihre Macht und nützen sie. Jeder Systemkonkurrenz ledig, sticht manche der Hafer. Das wird ihnen längerfristig nicht gut tun, aber jetzt, im Jahr 2004, fällt das kaum auf. Es gibt sogar Applaus.

Und die Regierungen? Solange der weltweite Wettbewerb um die niedrigsten Unternehmenssteuern andauert, kann kein Finanzminister sich dem ganz entziehen. Der Staat wird arm und die Konzerne reich. Beim Spitzensatz der Einkommensteuer wird nicht gefragt, ob er gerecht sei im Blick auf Millionen Sozialhilfeempfänger, sondern ob er international konkurrenzfähig ist, also ob er Kapitalflucht fördert oder nicht. Für die Haushalte europäischer Staaten sind die Maastricht-Kriterien wichtiger als John Maynard Keynes, ganz gleich, was ein Finanzminister vom einen oder anderen hält. Und was die Überalterung angeht: Wenn eine Regierung immer wieder vor der Entscheidung steht, entweder die Rentenbeiträge zu erhöhen oder die Renten zu kürzen, dann hilft ihr wenig, wenn Albrecht Müller sie ermahnt, die demographischen Verwerfungen nicht zu dramatisieren. Dass Müller die Staatsverschuldung leichter nimmt als andere, hilft einem Finanzminister nichts, dem der seit 1974 rapide expandierende Titel „Bundesschuld“ jeden Spielraum für politisches Handeln nimmt. Sicher, man muss die Zinspolitik der europäischen Zentralbank nicht zum Tabu erklären. Aber kein Minister wird vergessen, wie der Zwist zwischen dem Finanzminister Oskar Lafontaine und dem Zentralbankpräsidenten Wim Duisenberg ablief und ausging. Nachdem Duisenberg damals auf die Frage, ob er Lafontaines neuestes Buch gelesen habe, die Antwort gab: „Ich habe dieses Buch nicht gelesen und werde es auch nicht lesen“, konnte man das Ende ahnen.

Was mich an Albrecht Müllers Argumentation wundert, ist auch sein unerschütterlicher Glaube an die Machbarkeit von Konjunktur. Auch der stammt noch aus der Zeit Karl Schillers. Denn die Konjunkturprogramme der Regierung Schmidt, mit denen der Marsch in die Verschuldung begann, konnten den Abschwung etwas mildern, aber weder verhindern noch verkürzen. Bald darauf machten die französischen Sozialisten noch schlimmere Erfahrungen. Und heute? Eichels Steuersenkungen sollten die Konjunktur anheizen. Und doch ging es genau dann bergab, als die Steuersenkungen hätten wirken sollen.

Ich bin kein Volkswirt, und ich kann auch die Wahrheit, die einzige und unanfechtbare Wahrheit nicht aus der Tasche ziehen und alles andere zur Lüge oder bestenfalls zum Denkfehler erklären. Aber ich fürchte, die Überwindung der neoliberalen Dominanz ist viel schwieriger, sie wird länger dauern und anders verlaufen, als Albrecht Müller uns glauben machen will.

Wahrscheinlich wird erst die Privatisierung der Gewalt, die auf dem ganzen Globus im Gang ist, nur mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, sogar den Bossen klarmachen, dass der Staat mehr ist als ein Markthindernis.

Die Finanznot der Staaten wird nicht die Rückkehr zu Keynes bewirken, wohl aber den Ruf: „Finanzminister aller Länder vereinigt euch! Und wenn ihr dies nicht könnt, so einigt euch wenigstens, zuerst in der EU.“ Wenn die national gesetzten Rahmen, die sozialen und ökologischen, gegenüber der globalisierten Ökonomie wie lächerliche Attrappen erscheinen, dann wird irgendwann – und darüber kann man heute mit den wichtigsten lateinamerikanischen Präsidenten bereits reden – der Ruf nach internationaler Rahmensetzung unüberhörbar.

Wenn das herrschende Menschenbild des homo oeconomicus sich als ebenso flach und schief erweist wie das der Marxisten-Leninisten, könnte sich international eine breite neue Linke bilden, die bis weit in die Kirchen, gerade auch die katholische, hineinreicht. Beginnen müsste dies wohl in der Europäischen Union.

Und heute? Heute käme es darauf an, zum einen die Gefäße zu retten, in die neue Kräfte einfließen könnten. Das sind vor allem die Gewerkschaften und die demokratischen Linksparteien. Wenn sie sich gegenseitig zerreiben, schwindet die Hoffnung. Sie müssten sich auch darauf verständigen, was am Sozialstaat unter allen Umständen zu verteidigen ist.

Die Hegemonie des Neoliberalismus lässt sich nicht brechen ohne eine Staatsdebatte: Wozu haben wir den demokratischen Rechtsstaat geschaffen? Was kann man ihm abnehmen, was nicht? Was können wir tun, damit die Citoyens und Citoyennes ihren Staat nicht als seelenlosen Apparat oder gar als Instrument der Repression, sondern als Kleid der Gesellschaft erfahren und annehmen, ein Kleid, das Bewegung nicht hemmen, nicht einengen darf, aber gegen Wind und Wetter schützt und im Winter auch wärmt? Ein Kleid, das sogar so hübsch sein kann, dass andere nach dem Schneider fragen.

Der Blick zurück, auch der verklärende, kostet weniger Kraft als der nach vorn, bei dem sich das Risiko des Irrtums nie ausschalten lässt. Aber der hat mehr Verheißung.

Albrecht Müller:

Die Reformlüge

40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren

Droemer Verlag, 416 Seiten, € 19.90
ISBN 3-426-27344-6

Wer dieses Buch aus der Hand legt und zur Tageszeitung greift, fragt sich verblüfft, ob er im falschen Film sei.

Die Finanznot der Staaten wird nicht die Rückkehr zu Keynes bewirken, wohl aber den Ruf: „Finanzminister aller Länder vereinigt Euch!“

Wenn sich die Gewerkschaften und die demokratischen Linksparteien gegenseitig zerreiben, schwindet die Hoffnung.


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