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Titel: Warum die Mindestlohn-Wende von Merkel? Zwei Erklärungen für einen Schwenk, der die Union nicht viel kostet und ihr viel bringt.

Datum: 31. Oktober 2011 um 16:48 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Strategien der Meinungsmache, Wahlen, Wettbewerbsfähigkeit
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Ein Freund, der die deutsche und die internationale Szene beobachtet, vermutet, Merkel habe in Brüssel beim letzten Gipfel-Deal die Zusage gemacht, in Deutschland eine Lohnuntergrenze einzuführen bzw. dies zu versuchen. Diese Erklärung ist schlüssig. Sie passt zur zweiten Erklärung des Schwenks: Merkel bereitet die nächsten Wahlen einschließlich der Bundestagswahl vor. Sie frischt damit ein Imageelement auf: die angebliche Sozialdemokratisierung der Union. Damit stößt sie weit hinein in das Lager der potentiellen SPD-Wähler und macht sogar die Gewerkschaften zu ihren Wahlhelfern. Albrecht Müller.

Die Einführung einer Lohnuntergrenze ist der Ersatz für die von europäischen Partnern und Fachleuten geforderte Anhebung der Löhne und Lohnstückkosten in Deutschland

Damit die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit in den Ländern der Euro Gruppe nicht weiter auseinander bricht, wäre eine Anhebung der Lohnstückkosten in Deutschland dringend notwendig. Angela Merkel hat dies sogar schon einmal eingesehen, vor Monaten hier z.B. . Aber dann ist dieser notwendige Schritt wieder vergessen worden und jetzt bei den letzten Vereinbarungen zum Rettungsschirm auch nicht neu belebt worden. Es spricht einiges für die These, dass die Einführung einer Lohnuntergrenze in Brüssel ersatzweise gefordert und von Merkel zugesagt worden ist.

Die Behauptung von der Sozialdemokratisierung als wichtige Wahlkampfstütze der Union

Die NachDenkSeiten haben immer wieder davon berichtet, wie die These von der Sozialdemokratisierung der Union – auch jenseits der Fakten – in die öffentliche Debatte eingeführt und sogar von Journalisten aufgenommen wurde, die sich ansonsten als kritische Geister empfinden. Wenn Sie in unsere Suchfunktion „Sozialdemokratisierung“ eingeben, finden Sie eine Reihe dieser Beiträge, hier.
Diese These war immer unglaubwürdig. Sie wurde in der letzten Zeit sichtbar unglaubwürdig: die Löhne stagnieren, die Einkommens- und Vermögensverteilung ist unerträglich ungerecht, die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme und die Folgen der Privatisierung werden für viele Menschen spürbar, die Banken und Spekulanten werden auf Kosten der hart Arbeitenden gerettet, die Bundeskanzlerin und ihr Kabinett sind sichtbar im Einflussbereich der Finanzwirtschaft, etc. Da ist es angebracht, die These von der Sozialdemokratisierung neu zu beleben. Die Lohnuntergrenze ist ein höchst geeignetes Mittel zur Wiederbelebung eines sozialen Images der Union. Mehr ist es nicht.

Die Imagebildung funktioniert

„Genossin Merkel“ stand am 30.10. über dem Artikel des Spiegel-online- und PR-Journalisten Veit Medick. Der Artikel ist illustriert mit einem passenden Foto von Angela Merkel und dem DGB-Vorsitzenden Sommer. Ein tiefer Blick in die Augen. Sommer wirkt glücklich, Merkel lässt erkennen, dass sie ihn in der Tasche hat.
Der heutige Artikel bei Spiegel online lautet so:
CDU-Initiative. Gewerkschaften loben Merkels Mindestlohn-Wende.“. Wunderbar für die Union und für die Befürworter einer Großen Koalition, wie wir das von Steinbrück vor der letzten Wahl kennen.

Merkel und die hinter ihr stehenden Interessen kostet der Vorstoß in der jetzigen Situation vermutlich nicht sehr viel

Solange die Konjunktur bei uns nicht massiv anspringt, solange es Millionen Arbeitslose und ein Reservoir von Menschen gibt, die mit Niedriglöhnen abgespeist werden, solange wird eine Lohnuntergrenze ihre Wirkung auch nicht entfalten können. Das gilt auch für den Mindestlohn. In vielen Fällen wird bei schlechter Konjunktur diese Grenze umgangen, indem die Arbeitenden zur informellen Ausweitung ihrer Arbeitszeit gezwungen werden. Das ist vor allem in kleineren Betrieben gängiger Usus. Die rechtliche Verpflichtung einer Untergrenze alleine hilft den Arbeitenden und Arbeit suchenden Menschen nicht viel. Sie nutzt dann, wenn die Nachfrager nach Arbeit Alternativen haben.
Da die Reallöhne in Deutschland praktisch seit 15 Jahren stagnieren und dies mit hoher Wahrscheinlichkeit die Folge einer dauerhaft schlechten Konjunktur ist, müssten die Gewerkschaften eigentlich wissen, welche Bedeutung die Anhebung der Massenkaufkraft und die damit zu erreichende wirtschaftliche Belebung für ihre Verhandlungsmacht in Tarifauseinandersetzungen hat. Umso erstaunlicher ist es, dass sie – im konkreten Fall der DGB Vorsitzende – den Vorstoß der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden loben.

Die Union kann die zweifelhafte Lohnuntergrenze-Strategie fahren, weil die Mehrheit der Medien jeden dieser Winkelzüge unkritisch bis dankbar nachvollzieht

Die unglaublich begeisterten Kommentare und medialen Feiern von Merkels letztem Gipfel-Auftritt als großen Erfolg haben schlagartig sichtbar gemacht, dass Angela Merkel und die Union die Mehrheit der Medien in der Tasche haben. Es ist kein Wunder, dass der Winkelzug zur Lohnuntergrenze kaum negativ bewertet wird. Und es ist absehbar, dass demnächst mit Berufung auf die Lohnuntergrenze wieder Artikel zur angeblichen Sozialdemokratisierung der Union erscheinen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.


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