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Titel: Sachverständigenrat: Mit Tunnelblick in die Rezession

Datum: 10. November 2011 um 9:15 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Schulden - Sparen, Wichtige Wirtschaftsdaten
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Der Sachverständigenrat tut so, als wäre ein Absacken des Wachstums auf 0,9% und im durchaus möglichen Fall sogar der Sturz in eine Rezession mit einem Minus von 0,5% im kommenden Jahr ein positives („die deutsche Wirtschaft ist gut aufgestellt“) oder wenigstens hinnehmbares Ergebnis. Statt auch nur einen einzigen Vorschlag zu machen, wie Wachstum und Beschäftigung angekurbelt werden könnten, leiden die „Wirtschaftsweisen“ wie Suchtkranke schon seit Jahren unter dem Tunnelblick ihres Konsolidierungsdogmas. Ihr Sichtfeld ist eingeschränkt auf die Schock-Therapie der „Chicago-Boys“: „Hungert den Staat aus!“.
Wie das Erzübel der Euro-Krise, nämlich die permanenten Leistungsungleichgewichte im Euro-Raum angegangen werden könnte oder wie die Binnennachfrage durch Aufholen des Lohnrückstandes der deutschen Arbeitnehmer angefacht werden könnte oder – ganz zu schweigen – wie der Staat dadurch, dass er – angesichts der im Gutachten selbst prognostizierten Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts – mit einer entsprechenden Wirtschaftspolitik einer drohenden Rezession entgegen wirken könnte, dazu fehlt den im Dunkeln ihrer neoliberalen (Spar-)Ideologie Gefangenen jeder Schimmer. Einen kleinen Lichtblick bietet die Mindermeinung von Peter Bofinger. Von Wolfgang Lieb

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung [PDF – 5 MB] (künftig SVR) einen Absturz des Wachstums von 3,0 % in diesem auf 0,9 % im kommenden Jahr voraus, es könne um ungünstigsten Fall sogar zu einem leichten Rückgang der Wirtschaftsleistung kommen (ein Minus von 0,5%, Ziff. 25), ja, er sieht sogar „die Gefahr einer systemischen Krise“ (Ziff. 7). Trotz dieser Dramatik fällt dem „Rat“ nichts Neues ein, als den nun seit Jahren bekannten Refrain zu wiederholen: „Konsolidierung (also den Sparkurs) konsequent fortzusetzen“ und die „notwendigen Strukturreformen (also Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, niedrige Löhne, kein Mindestlohn, private Vorsorge etc.) mutig in Angriff zu nehmen“.

Statt einer neuen Rezeptur wieder einmal nur die Erhöhung der Dosis der alten – und wenn es schief läuft, dann war nicht die Medizin falsch, sondern schuld sind „die allgemeine Verunsicherung der Investoren“ und „steigende Risikoprämien“. Mit diesen Schuldverlagerungen lässt sich dann die falsche Ideologie einmal mehr trefflich vor der Wirklichkeit immunisieren. Motto: Auch wenn alles schlechter wird, unser Kurs ist richtig und die Schuld, dass alles schlechter wird, liegt immer bei den anderen oder bei unkalkulierbaren äußeren Einflüssen.
Ganz auf der Linie der Kanzlerin, wonach am deutschen Wesen Europa genesen soll, schlagen die Sachverständigen vor, dass „die deutsche Wirtschaftspolitik … in Europa der Motor für zukunftsweisende Strategien sein“ müsse.

Eingangs (Ziff. 1) wird das katastrophale Bild gezeichnet, dass „die Situation auf dem Finanzmarkt…fatal an das Jahr 2008 nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers“ erinnert und dass sich „die Währungsunion in einem Teufelskreis aus Staatsschulden- und Bankenkrise befindet“. Verharmlosend wird dann hinzugefügt, dass die „erforderliche restriktive Finanzpolitik die Abschwächung der Konjunktur verstärken kann“; gerade so, als ob man nicht wahrnehmen will, dass die Konjunktur in Deutschland im kommenden Jahr und in dramatischer Weise schon in diesem Jahr in Griechenland, Italien, Frankreich, Großbritannien und in fast allen westeuropäischen Ländern nicht schon längst eingebrochen ist. Bei so viel Realitätsverlust schon in der Diagnose der Ausgangslage, braucht man sich über die Ignoranz, den eigenen Kurs in Frage zu stellen, nicht mehr zu wundern.

Die „Führungsrolle“ der deutschen Politik zur Eindämmung der Krise wird in höchsten Tönen gelobt. Sie habe sich ihrer „Verantwortung gestellt“. Dass nach dem Brüsseler Krisengipfel zur Rettung Griechenlands nun als nächstes schon die Rettung Italiens ansteht, hat dieses Lob schon am Datum der Übergabe des Gutachtens überholt und widerlegt. Aber außer „Konsolidierung“ auch in den Problemländern fällt den „Wirtschaftsweisen“ nichts ein – und wenn die Sparpolitik den „Finanzmärkten als nicht ausreichend“ erscheine, müsse halt ein europäischer „Schuldentilgungspakt“ mit „verbindlichen nationalen Schuldenbremsen“ und eine Art „Bad Bank“ für Staatsschulden her.
(Hinsichtlich der Schuldenbremse in den deutschen Bundesländern gehen die Sachverständigen sogar so weit, dass sie in allen Ländern zwingend in die Verfassung aufgenommen werden müsse und dass „dabei auf die Schaffung von Gestaltungsspielräume weitgehend zu verzichten“ sei. (Ziff. 40))

Als Gründe für den sich „abschwächenden Aufschwung“ (durch den das Bruttoinlandsprodukt aber nur auf das Niveau vor dem Ausbruch der Krise gewachsen ist (Ziff. 24) wird ein Rückgang der Exporte genannt, im Jahre 2012 dürften „allein die Komponenten der inländischen Nachfrage die Konjunktur tragen“. Woraus diese Komponenten allerdings gespeist werden könnten, darüber wird auf den 435 Seiten an Aussagen ziemlich „gespart“.

– Über eine erhöhte Nachfrage der privaten Verbraucher dürften nach den Vorschlägen der Mehrheit des Sachverständigenrats (Minderheitenmeinung Peter Bofinger siehe unten) ein solcher Stimulus kaum zu erwarten sein, denn wie seit ewigen Zeiten wird nach wie vor ein „beschäftigungsfreundlicher und nicht nur ein beschäftigungsneutraler Kurs der Tariflohnpolitik“ (Ziff. 48) gefordert. (Dagegen siehe unten Bofinger)
Geradezu ein Affront gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts, wonach die mit den Christlichen Gewerkschaften abgeschlossenen Dumpingtarifverträge für Zeitarbeit nichtig sind, ist die Forderung, dass diesen Unternehmen für die seinerzeit abgeschlossenen Tarifverträge ein „Vertrauensschutz gewährt werden“ solle (Ziff. 51).

– Auch vom Stabilisierungsfaktor der sozialen Sicherungssysteme können, wenn es nach den Vorstellungen des SVR ginge, keine Impulse ausgehen. Er rät z.B. strikt davon ab, angesichts der „positiven finanziellen Situation der Sozialversicherungen“ (Ziff. 53) „den Leistungskatalog der GRV (Gesetzliche Rentenversicherung (WL)) aus(zu)weiten und somit kurativ (zu) wirken.“
(Ziff. 54)
(Wie nicht anders zu erwarten springt der SVR (Ziff. 56) natürlich auch dem „Pflege-Bahr“ zur Seite.)

Bei den privaten Konsumausgaben erwartet der SVR denn auch im Jahr 2012 gerade eine Steigerung von 0,9% (also genau in Höhe des geschätzten Wachstums). Bei den Ausrüstungsinvestitionen jedoch ein Wachstum um 3,1%. Warum angesichts des prognostizierten Wachstumseinbruchs die Unternehmen investieren sollten, das ist angesichts des vorhergesagten Rückgangs des Wachstumsbeitrags der Exporte von 7,8 auf 3,2% das wohlgehütete Geheimnis der Wirtschaftsweisen. Vielleicht mögen ja die Unternehmen ihre Investitionen dadurch amortisieren, dass sie – jenseits – der realen Wirtschaft ihre Produkte an die Männlein vom Mars verkaufen können.

PS:
Doch halt, ein wenig Licht tut sich in dem (wie üblich mit zahlreichen durchaus interessanten Statistiken ausgestatteten (ein Lob den Mitarbeitern)) dicken Opus immerhin auf: Der Sachverständige Peter Bofinger hat an verschiedenen Stellen seine Mindermeinung unterbringen können. Weil ich in der bisherigen Medienberichterstattung (die wie gewohnt fast kritiklos das Gutachten nachplappert) bisher darüber keine Zeile gelesen habe, sollen hier einige Auszüge zur Lohnpolitik zitiert werden S. 301ff.:

503. Die Mehrheit sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen der günstigen Arbeitsmarktlage und einem „beschäftigungsfreundlichen Kurs“ der Lohnpolitik, dass also insgesamt gesehen die Tariflohnpolitik seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts einen beschäftigungsfreundlichen Kurs eingeschlagen habe, deren Früchte in Form einer robusten Beschäftigungsdynamik gerade auch die Arbeitnehmer ernten konnten. Erst wenn Vollbeschäftigung erreicht sein wird, könne der Verteilungsspielraum voll ausgeschöpft werden. Der Sachverständigenrat versteht mehrheitlich unter „beschäftigungsfreundlich“, dass die Lohnentwicklung den vor allem durch Produktivitätssteigerungen bestimmten Verteilungsspielraum nicht vollständig ausschöpft… die Lohnstückkosten liegen in der Gesamtwirtschaft sogar wieder deutlich über dem Niveau zu Beginn des letzten Jahrzehnts…

504. Wie die bis zum aktuellen Rand äußerst positive Entwicklung am Arbeitsmarkt verdeutlicht, sind von dieser „großzügigen Lohnpolitik“ offensichtlich nicht die von der Mehrheit des Rates davon befürchteten negativen Auswirkungen ausgegangen. Man könnte vielmehr durchaus geneigt sein, das Gegenteil zu unterstellen. Vergleicht man die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland und im Euro-Raum, so zeigen sich eindeutige deutsche Erfolge erst ab dem Jahr 2008 … Es spricht somit auch in Zukunft wenig dafür, bei Tariflohnerhöhungen den Verteilungsspielraum nicht voll auszuschöpfen.

505. Überschätzt wird von der Mehrheit der Beitrag der Arbeitsmarktreformen für die „robuste Beschäftigungsdynamik“ (Ziffern 458 ff.) der letzten Jahre. Die unerwartet widerstandsfähige Konstellation des Arbeitsmarkts in der schweren Wirtschaftskrise des Jahres 2009 ist größtenteils nicht auf die von den Arbeitsmarktreformen intendierte „externe Flexibilität“, sondern vielmehr auf ein hohes Maß an „interner Flexibilität“, insbesondere in der Form der Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen …
Sachverständigenrat – Jahresgutachten 2011/12

506. In Anbetracht der ungewöhnlich guten Verfassung des deutschen Arbeitsmarkts und insbesondere unter Berücksichtigung der äußerst flexiblen Reaktion auf die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 2009 ist nur schwer nachvollziehbar, wieso die Mehrheit des Rates weiterhin darauf drängt, den Kündigungsschutz zu flexibilisieren. Von „Rigiditäten auf den Arbeitsmärkten“ kann bei der hohen internen Flexibilität des deutschen Arbeitsmarkts, die international bewundert wird, ebenso wenig die Rede sein wie von einer Behinderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen durch einen inflexiblen Kündigungsschutz…

507. Außerdem gibt es keinerlei Veranlassung, die Bindungswirkung von Tarifverträgen durch Änderungen im Tarifvertragsrecht weiter zu schwächen (Ziffer 467). Wenn die deutsche Wirtschaft in einem zunehmend labileren globalen und europäischen Umfeld in den nächsten Jahren eine eigenständige Wachstumsdynamik entfalten soll, wird dies nur möglich sein, wenn die über ein Jahrzehnt zu beobachtende, im internationalen Vergleich ungewöhnliche Schwäche des privaten Verbrauchs… überwunden werden kann. Eine wichtige Voraussetzung hierfür besteht darin, den seit längerem zu beobachtenden Anstieg der Einkommensungleichheit, der vor allem aus einer Aufspreizung der Entlohnungsstruktur am unteren Ende resultiert, zu stoppen. Dass die Tarifbindung hierzu einen Beitrag leisten kann, lässt sich daraus schließen, dass die Ungleichheit in Ostdeutschland sehr viel ausgeprägter ist als in Westdeutschland…

508. Aus diesem Grund wäre auch für Deutschland ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn dringend geboten. Die Mehrheit rät hiervon weiterhin ab. Zu den von der Mehrheit behaupteten negativen Effekten eines solchen Instruments verweise ich auf mein Minderheitsvotum im Jahresgutachten 2006/07 (Ziffern 576 ff.) sowie auf aktuelle Studien zu den Beschäftigungswirkungen von branchenspezifischen Mindestlöhnen, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gegeben wurden…

509. Eine weniger starke Ungleichheit der Einkommen dürfte zudem einen wichtigen Beitrag für eine insgesamt stabilere Entwicklung der Weltwirtschaft leisten, da die Finanzkrise nicht allein durch Fehlentwicklungen innerhalb des Finanzbereichs, sondern nicht unerheblich durch weltweit ungewöhnlich stark wachsende Disparitäten bei der Einkommensverteilung verursacht worden ist. Diese haben auf der einen Seite zu hohen Geldvermögensbeständen bei den Vermögenden geführt, auf der anderen Seite ist insbesondere in den Vereinigten Staaten aufgrund der stagnierenden Realeinkommen bei der Mittelschicht zu einer wachsenden Verschuldungsneigung gekommen…


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