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Titel: Frustriert von Deutschland wandern so viele Deutsche aus wie seit 122 Jahren nicht mehr. Die heutige Nachrichtenlage macht diese Flucht aus unserem Lande nur allzu verständlich.

Datum: 23. Juni 2006 um 16:36 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Demografische Entwicklung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Da gibt es in Deutschland geradezu eine hysterische Debatte über die demografische Entwicklung, die vielleicht in ein paar Jahrzehnten zu Buche schlagen wird. Über eine ganz aktuelle Bevölkerungsentwicklung – das „manager-magazin“ spricht gar schon dramatisierend von einer „bevölkerungspolitischen Krise“ – wird bisher kaum geredet, nämlich dass nach Schätzungen im letzten Jahr 250.000 Deutsche ausgewandert sind.
Warum wohl?

Unter der Überschrift „Wir bluten aus“ berichtet das „manager-magazin“, dass die Zahl der Deutschen, die die ihre Heimat verlassen, im Vergleich zu den 90er Jahren um 60 Prozent gestiegen ist, dass nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2005 160.000 Deutsche sich „ordnungsgemäß“ abgemeldet hätten und dass die Zahl der Auswanderer tatsächlich eher bei einer viertel Million liegen dürfte.

Von „ausbluten“ kann man allenfalls dann sprechen, wenn man auf das deutsche „Blut“, das abfließt, abstellt und nicht die Zahl der Zuwanderer nach Deutschland dagegen rechnet. So sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Verlauf des Jahres 2004 rund 127.150 Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland eingebürgert worden. Die Zahl der eingebürgerten Ausländerinnen und Ausländer ist zwar seit 2002, wo noch 154.547 Menschen eingewandert sind, zurückgegangen, sie dürfte aber auch 2005 nur einige zehntausend unter der Zahl der ausgewanderten Deutschen liegen. Zählt man noch die sich hier dauerhaft aufhaltenden Migranten ohne Einbürgerungsstatus hinzu, so dürfte die Wanderungsbilanz ziemlich ausgeglichen, ja sogar eher positiv sein.

Die NachDenkSeiten sind weit davon entfernt aus diesen Abwanderungsbewegungen aus Deutschland nun gleich wieder eine der üblichen Katastrophenmeldungen zu machen, wie das offenbar der in den Magazinen ein als „führender“ Migrationsforscher apostrophierte Klaus Bade aus Osnabrück tut, der gleich von einer „migratorisch suizidalen Situation“ spricht.

Sowohl Bade, wie laut SPIEGEL auch einige Arbeitsmarktexperten schlagen vor allem deshalb die Alarmglocken, weil ihnen der hohe Anteil der Akademiker unter den deutschen Auswanderern Sorge macht. Wir hatten auf den NachDenkSeiten am 20.6.06 von einer McKinsey-Umfrage berichtet, dass unter dem akademischen Nachwuchs schon mehr als die Hälfte darüber nachdenkt, auszuwandern. Zuwandern, so ihre Warnung, würden vor allem gering Qualifizierte.
Ähnlich wie bei den Schreckensmeldungen über die angeblich weit überdurchschnittlich hohe Kinderlosigkeit von Akademikerinnen befürchten unsere „Bevölkerungsforscher“ ein „Ausbluten“ des intellektuellen „Erbgutes“ in Deutschland bei gleichzeitiger Zufuhr von weniger „Begabten“ Migranten. Dieser latente oder gar offene Rassismus ist ja bei vielen sog. Bevölkerungsexperten immer wieder anzutreffen.

Tatsache scheint aber auch zu sein, dass sich nicht nur deutsche Ärzte nach England oder sich deutsche Wissenschaftler in die USA absetzen, sondern dass auch deutsche Arbeitslose ins Ausland gehen. Allein in Österreich etwa gibt es mittlerweile mehr deutsche Gastarbeiter als türkische – nämlich insgesamt über fünfzig Tausend.

Die Angst vor Arbeitslosigkeit oder die Suche nach besseren Jobperspektiven treibe immer mehr Deutsche ins Ausland, schreibt der SPIEGEL. Über die Motive der Auswanderer gibt es allerdings bisher nur Spekulationen, aber auch in meinem ganz persönlichen Umfeld, höre ich immer öfter von Menschen, denen ich begegne, dass sie sagen, „am liebsten möchte man auswandern“.

Mich erstaunt das nicht. Man nehme nur einmal die aktuellen Nachrichten: Wüstenrot will jede vierte Stelle streichen. Der Joint Venture zwischen Siemens und Nokia soll 9.000 Stellen kosten. Bei VW stehen 20.000 Arbeitsplätze auf dem Spiel. Und dann die Allianz: „Aus einer Position der Stärke“, wie Allianz-Chef Michael Diekmann so schön formulierte, will der Versicherungskonzern trotz viereinhalb Milliarden Gewinn im letzten Jahr, zusammen mit seiner „Tochter“, der Dresdener Bank, 7.500, d.h. jede sechste Vollzeitstelle streichen, umgerechnet auf die davon betroffenen Arbeitnehmer sind das um die 10.000 Menschen. Gleichzeitig erklärt der Gesamtverband der Versicherungswirtschaft, dass etwa noch weitere 3% der 233.000, also noch weitere 7.000 Stellen auf diesem Sektor abgebaut würden.

Die Dresdener Bank will durch die Entlassung von 2500 Mitarbeitern das selbst gesetzte Ziel einer Eigenkapitalrendite von 12% erreichen.
Die Allianz verspricht sich von dem Kahlschlag Kosteneinsparungen von 500 bis 600 Millionen Euro und erwartet damit wohl ihren 4,5 Milliarden Gewinn entsprechend steigern zu können. Prompt stiegen die Allianzaktien um über 2%.

Und was hat eigentlich die herrschende Politik zu diesen Entlassungsorgien zu sagen: Sie redet schönfärberisch weiter über die „soziale Marktwirtschaft“. Unser Oberökonom, der Bundespräsident redet von „Vorfahrt für Arbeit“, während in der Wirtschaft absolute Vorfahrt für die Rendite herrscht.
Die Allianz und Konsorten können sich über die Plattitüden und Scheingefechte unserer Regierenden nur noch ins Fäustchen lachen.

Da hat die Politik von Rot-Grün und Großer Koalition mit ihrer Rentenpolitik auch der Allianz schon Milliarden für die private Altersvorsorge zugeschoben. Da hat haben Sozialdemokraten und Grüne schon die Unternehmenssteuern um Milliardenbeträge gesenkt. Da will die Große Koalition mit einer neuerlichen Unternehmenssteuerreform weitere 10 Milliarden Steuergeschenke verteilen. Da tun die Regierenden schon alles, um über die Mehrwertsteuererhöhung und mit einer neuerlichen Gesundheitsreform die sog. Lohnnebenkosten noch um ein paar Prozentpünktchen zu senken, als ob die Wirtschaft mit den dadurch gewonnenen Promille auch nur einen einzigen Arbeitsplatz erhalten würde.
Diese ausschließlich auf die Investitionsseite setzende Politik hat nur einen einzigen Effekt haben, nämlich dass die Renditeerwartungen der Manager und ihrer Shareholder nur noch weiter nach oben verschoben werden. Die Deutsche Bank hat da mit 25 Prozent die Meßlatte schon vorgegeben. Die anderen werden folgen.

Irgendwann müsste doch auch dem verbohrtesten Politiker klar werden, dass das Hinterherlaufen hinter all den Forderungen der Wirtschaft nur dazu führt, dass die unersättliche Gier nach der Steigerung der Rendite nur noch mehr gesteigert wird und dass die letzten Reste unternehmerischer Verantwortung auch gegenüber den Arbeitnehmern nur noch weiter abgestreift werden.

Aber nichts dergleichen. Im Gegenteil: Da betreibt unsere Regierung eine regelrechte Hatz auf die Ärmsten der Armen und beschimpft sie als Parasiten und Schmarotzer. Die Raffgier der Manager und der Shareholder ist hingegen unseren regierenden Politikern nicht einmal die kleinste moralische Rückendeckung für die betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften wert, geschweige denn dass Merkel oder Müntefering ihre Rolle als Nasenbären der Wirtschaft auch nur irgendwie peinlich würde.

Die ganze Energie von Regierung und Regierungsparteien konzentriert sich darauf, wie man die Garotte der Belastungen für die große Mehrheit der Bevölkerung noch ein wenig enger drehen könnte und wie man gleichzeitig die Wirtschaft und das große Geld noch ein Stückchen mehr entlasten könnte.

Wenn man diese Entwicklung zur Raffkegesellschaft tagtäglich vor Augen hat und erleben muss, dass unsere ach so große Koalition den Raffkes nicht nur nichts entgegen zu setzen hat, sondern auch noch ihrer Raffgier Tür und Tor weiter öffnet, dann kann man verstehen, warum immer mehr Menschen sagen: Am liebsten würde ich auswandern.


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