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Titel: Griechenland – Wenn marktkonformer Zynismus ein Land vor die Hunde gehen lässt

Datum: 7. November 2012 um 13:57 Uhr
Rubrik: Euro und Eurokrise, Europäische Union, Griechenland, Schulden - Sparen
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Die griechische Finanztragödie geht in die nächste Runde. Wieder einmal verlangt die Troika eine härtere Austeritätspolitik als Vorleistung für neue Kredite, wieder einmal muss die griechische Regierung neue Schreckenszahlen vermelden und wieder einmal ersticken Angela Merkel und Wolfgang Schäuble durch ihre Blockadehaltung jeden noch so kleinen Hoffnungsfunken im Keim. Europa lässt Griechenland am ausgestreckten Arm verhungern und eine Wende zum Besseren ist weit und breit nicht in Sicht. Statt ökonomischer Vernunft bestimmt blanker Zynismus die Debatte. Von Jens Berger

Die griechische Ökonomie befindet sich im freien Fall. Fast alle volkswirtschaftlichen Indikatoren gehen Jahr für Jahr im zweistelligen Prozentbereich zurück. Einzig und allein der Export zeigt sich überraschenderweise stabil. Dies hat jedoch nichts mit den „Reformen“ zu tun, da der „Exportboom“ sich vor allem auf die Sektoren Mineralöl und Schwerindustrie konzentriert – Sektoren, in denen der Lohnkostenanteil niedrig ist, die aber sehr kapitalintensiv sind. Vor allem bei dem wichtigsten Indikator, der Arbeitslosenquote, sieht es in Griechenland rabenschwarz aus. Jeder vierte Grieche im arbeitsfähigen Alter ist erwerbslos, eine Trendwende ist nicht in Sicht und bereits im nächsten Quartal wird Griechenland aller Voraussicht nach sogar Spanien als europäisches Schlusslicht in der Arbeitslosenstatistik abgelöst haben.

Nicht die Schulden, die Austeritätspolitik ist das Problem

Diese Entwicklung ist wohlgemerkt keine direkte Folge des finanzpolitischen Schlendrians, sondern eine Konsequenz der Austeritätspolitik, die Griechenland von der Troika aufgezwungen wird. Die volkswirtschaftlichen Folgen der Austeritätspolitik konterkarieren daher auch jegliche Hoffnung, dass Griechenland aus eigener Kraft seine Staatsverschuldung herunterfahren kann. Trotz des ersten Schuldenschnitts, der nur den privaten Sektor betraf, steigt die Staatschuldenquote unaufhörlich. In diesem Jahr wird sie 169,5% betragen, 2013 sogar auf 179,3% steigen. Von der angepeilten Zielmarke von 120%, die nach Vorstellungen des IWF bis 2020 erreicht werden soll, ist Griechenland meilenweit entfernt und die Entfernung nimmt mit jeder weiteren Kürzung der Staatsausgaben nicht ab, sondern zu.

Dabei weiß zumindest der IWF-Chefökonom Olivier Blanchard ganz genau, warum Ausgabenkürzungen in einer Rezessionsphase zu einer Steigerung des Haushaltsdefizits führen. Es ist erstaunlich, dass der IWF offenbar die korrekte Analyse anstellt, bei der praktischen Umsetzung jedoch das genaue Gegenteil propagiert. Der IWF gleicht hierbei einem Arzt, der vollkommen korrekt Hypotonie (niedriger Blutdruck) diagnostiziert und dem Patienten dennoch Antihypertonika (Blutdrucksenker) verschreibt.

Ohne eine Stabilisierung der griechischen Konjunktur sind sämtliche Gedanken zur Frage, ob und wie Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann, Schwimmübungen auf dem Trockenen – Gedankenspiele ohne Bezug zur Realität. Doch selbst wenn sich bei der Troika die Einsicht durchsetzen sollte, dass die verordnete Austeritätspolitik jegliche Hoffnung auf eine Konsolidierung der Staatsfinanzen ad absurdum führt, ist es keineswegs klar, dass Griechenland seinen Staatshaushalt stabilisieren und seine Schuldenquote senken kann. Momentan gehen (je nach Art der Berechnung) zwischen 10% und 25% der Steuereinnahmen direkt in die Bedienung der Zinsen für die bestehenden Altschulden. Für die Gläubiger, also vor allem die Troika selbst, ist dies eine reine Umbuchung von der rechte in die linke Tasche. Neue Kredite werden zur Verfügung gestellt um alte Kredite zu bedienen. Beim griechischen Volk bleibt von den Milliarden Euro an „Hilfsgeldern“ kein Cent hängen. Im Gegenteil – durch den Zinsdienst wird stetig das Geld aus der griechischen Volkswirtschaft herausgezogen, das eigentlich dringend notwendig wäre, um die Konjunktur und damit auch die Steuereinnahmen zu stabilisieren.

Die Debatte über einen zweiten Schuldenschnitt ist nicht zielführend

Um zumindest die Belastung durch die regelmäßig anfallenden Zinsen zu mindern, wird momentan auf europäischer Ebene über einen zweiten Schuldenschnitt diskutiert. Will man bei dieser Debatte mitreden können, sollte man zunächst einen Blick auf die Gläubigerstruktur werfen und die Frage stellen, welche Folgen ein Schuldenschnitt für die jeweiligen Gläubiger hätte. Seit dem ersten Schuldenschnitt, bei dem ein großer Teil der privaten Forderungen vom öffentlichen Sektor (hier konkret der EFSF) übernommen wurde, wird nur noch rund ein Drittel der ausstehenden Staatsschulden vom Privatsektor gehalten. Neben Hedge-Fonds, die darauf wetten, dass der öffentliche Sektor auch noch den Rest der ausstehenden Schulden in voller Höhe übernimmt, gehören hier vor allem griechische Banken und Pensionsfonds zu den Gläubigern. Ein Schuldenschnitt wäre hier nicht sinnvoll, da niemand ein Interesse daran haben kann, das griechische Bankensystem vollends kollabieren zu lassen. Um dies zu verhindern, müssten die griechischen Banken dann vom ESM „gerettet“ werden – linke Tasche, rechte Tasche.

Zwei Drittel der Gesamtforderungen (194 von 303 Milliarden Euro) an den griechischen Staat werden vom öffentlichen Sektor gehalten – 53 Milliarden durch bilaterale Kredite der Eurozonenmitglieder, 22 Milliarden durch den IWF, 74 Milliarden durch die EFSF und rund 45 Milliarden durch die EZB. Paradoxerweise sind die Anleihen, die von der EZB gehalten werden, einerseits die einzigen Anleihen, die ohne Kosten für den Steuerzahler abgeschrieben werden könnten und andererseits auch die einzigen Anleihen, die auf keinen Fall Bestandteil eines möglichen zweiten Schuldenschnitts sein können. Dies wäre – egal wie man es dreht oder wendet – eine Finanzierung des Staatssektors durch die EZB und daher laut EZB-Statut verboten. Daher sollte auch die höchste Priorität sein, das EZB-Statut zu ändern. Dieses EZB-Statut ist nicht in Stein gemeißelt und wurde den Bundesbankern nicht von Gott auf dem Berge Sinai überreicht. Wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag ist auch das EZB-Statut verhandelbar. Dies wird jedoch in Deutschland als absolutes Tabu angesehen und ist daher auch, aus realistischer Perspektive, (noch) sehr unwahrscheinlich.

Ähnlich verhält es sich mit den IWF-Krediten. Diese sind nach alter Väter Sitte stets bevorzugt zu behandeln und waren noch nie Bestandteil eines Schuldenschnitts. Ohne eine 180°-Wende des IWF, die ebenfalls auszuschließen ist, werden diese Kredite daher auch nicht Gegenstand eines zweiten Schuldenschnitts sein. Blieben die bilateralen Kredite und die EFSF-Kredite. Diese Forderungen wären – die Zustimmung der Gläubiger vorausgesetzt – verhandelbar, allerdings wäre selbst ein harter Schuldenschnitt von 50% hierbei auch nur Wasser auf einen heißen Stein, würde dies doch nur einem Schuldenerlass von rund 15% der gesamten griechischen Staatsschulden entsprechen. Damit wäre Griechenland im nächsten Jahr nicht mit 179,3%, sondern nur noch mit 152,4% seines BIP verschuldet und bliebe so immer noch weit über der Zielmarke von 120% und meilenweit über der Maastricht-Marke von 60%, die allgemein als nachhaltig angesehen wird.

Bei all dem sollte man auch nicht vergessen, dass ein zweiter Schuldenschnitt auch signifikante Nebenwirkungen auf andere Eurostaaten haben kann, wie die Forscher des IMK in ihrem Report „Quo vadis Krise?“ [PDF – 1.6 MB] eindrücklich belegen. Wenn die Politik es nicht schafft, Brandmauern zu ziehen, die diese Nebenwirkungen zumindest minimieren, ist jegliche Diskussion über einen zweiten Schuldenschnitt, zumal dann, wenn es nur um 15% der Schulden geht, kontraproduktiv. Da die Politik jedoch ohne eine Änderung des EZB-Statuts keine Brandmauern ziehen kann, sollte man diese Diskussion ohnehin ad acta legen, zumal sich auch Angela Merkel und Wolfgang Schäuble beharrlich weigern, auch nur diesem „Mini-Schuldenschnitt“ zuzustimmen. Deutschland, so heißt es, könne an Griechenland nach einem Schuldenschnitt keine neuen Kredite mehr vergeben oder garantieren, da diese Kredite dann „unsicher“ seien. Dies ist eine eigentümliche, ja einfältige Argumentation, da Griechenland ja bereits einen Schuldenschnitt vorgenommen hat. Würde man Merkel und Schäuble beim Wort nehmen, dann haben sie selbst im letzten Jahr bereits mehrfach gegen die Regel verstoßen, die sie nun als Ausrede ins Feld führen.

Es gäbe Alternativen, wenn man es denn nur wollte

Ist Griechenland denn überhaupt noch zu helfen? Theoretisch ja, praktisch nein. Gäbe es den politischen Willen, könnte man die griechische Tragödie bereits morgen stoppen, ohne die europäischen Steuerzahler über Gebühr zu belasten. Dafür müsste man „lediglich“ die ausstehenden Schulden umstrukturieren – z.B. in „Evergreen-Bonds“, die ausschließlich von der EZB gehalten werden, eine variable Verzinsung und eine sehr lange Laufzeit haben. Ein solcher Bond könnte beispielsweise über 99 Jahre laufen und die ersten zehn Jahre zinsfrei sein. Er könnte aber auch in Form einer Nullkuponanleihe aufgelegt werden, sodass Griechenland über lange Zeit keine laufenden Zinsen für seine Altschulden zahlen müsste. Dann – und nur dann – hätte Griechenland überhaupt erst den Spielraum, wieder eine aktive Konjunkturpolitik zu betreiben und neue Anleihen am Markt aufnehmen zu können. Laut den – nicht verlässlichen – Budgetprognosen des griechischen Finanzministeriums wird Griechenland im nächsten Jahr einen kleinen primären Haushaltsüberschuss (die Staatsausgaben unterschreiten die Steuereinnahmen vor Zinszahlungen) erzielen können. Ohne den Zinsdienst wäre Griechenland also wieder handlungsfähig.

Doch das wollen die Entscheider der Troika offenbar gar nicht. Es gibt daher leider auch nicht den politischen Willen, die Krise zu beenden. Fragt sich nur, wie lange die Griechen dieses zynische und überaus makabre Spiel noch mitmachen. Wann ist Schluss? Bei 30% Arbeitslosigkeit? Bei 50% Arbeitslosigkeit? Das beste Argument für die Griechen, im Euro zu bleiben, war stets, dass ein Euro-Ausstieg mit besonderen Härten verbunden wäre. Ab einem gewissen Zeitpunkt übersteigen die Härten der Troika-Vorgaben jedoch sogar die Härten eines Euro-Ausstiegs. Man kann den Griechen nur wünschen, dass Europas „politische Eliten“ bald aufwachen und sich auf eine konstruktiven Beendigung der Eurokrise besinnen. Wahrscheinlich ist das alles aber nicht.


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