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Titel: Wenn die Klapperstörche vor dem 1. April die Grenze zwischen Elsass und Südpfalz überfliegen, dann steigt die Geburtenrate in der Südpfalz im Januar des folgenden Jahres um 10 %.

Datum: 18. April 2013 um 9:18 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Schulden - Sparen, Strategien der Meinungsmache
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Jetzt ist diese für die Gestaltung des demographischen Wandels wichtige Erkenntnis der neoliberalen Theoretiker von Wissenschaftlern widerlegt worden. Sie haben nachgewiesen, dass die Theorie auf einem peinlichen Excel-Fehler aufbaute. Der erkennbare Unsinn der These wie auch der erkennbare Unsinn der Korrektur ist direkt auf eine gestern ausgebrochene Debatte anzuwenden. Ich zitiere SpiegelOnline: „Schulden-Theorie: Excel-Panne stellt Europas Sparpolitik in Frage. – Die US-Forscher Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart lieferten den wissenschaftlichen Überbau für die weltweite Sparpolitik: Bei Staatschuldenquoten von mehr als 90 Prozent leide das Wachstum.“ Jetzt hätten drei Forscher von der Universität Massachusetts die wissenschaftliche Grundlage des politischen Spardogmas ins Wanken gebracht. Sie seien zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Darüber wird nun in den Medien und zwischen den Wissenschaftlern feurig diskutiert. Eine absolute Unsinnsdebatte. Die Theorie war grotesk. Deshalb ist auch ihre Widerlegung grotesk. Zeitverschwendung. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Höhe der Staatsschuldenquote soll etwas sagen über die Wachstumschancen. Abstrus. Die Staatsschuldenquote besteht aus zwei Komponenten: dem Schuldenstand eines Staates und dem Bruttoinlandsprodukt. An einem solchen Quotienten die Chancen einer Entwicklung und einer möglichen Wirtschaftpolitik festzumachen, ist schon per se komisch. Und dann auch noch festzustellen, dass bei einer bestimmten Zahl (=90 %) der Bruch stattfinde, auch das ist grotesk. Warum nicht 95% oder 60 oder 160%. Hier haben zwei als Wissenschaftler getarnte Ideologen eine Regel erfunden, die ihrem Wunsch entsprach.
Hinzu kommt, dass der Schuldenstand nicht die maßgebliche Größe zur Beurteilung der Möglichkeiten einer beschäftigungsorientierten Wirtschaftspolitik ist. Dafür sprechen auch empirische Daten. Belgien und Italien lagen schon in den ganzen neunziger Jahren über 90 %, Japan ab 1996. Ich füge als Anhang die Tabelle A3 aus meinem Buch „Reformlüge“ an. Sie zeigt, wie grotesk insgesamt die Theorie des Herrn Rogoff ist. Zum Beispiel gab es in den neunziger Jahren in einigen Ländern hohe Wachstumsraten und gleichzeitig einen Anstieg der Staatsschuldenquote. Zum Beispiel in Schweden. Meist ist die Korrelation von BIP-Wachstum und Staatsschuldenquote nicht signifikant.
So unsinnig wie die Theorie war, so unsinnig ist auch die Widerlegung. Wenn ich den angeblichen Experten Rogoff und Reinhart Rechenfehler nachweise, dann akzeptiere ich das Prinzip ihrer seltsamen Herstellung von Relationen.

Nicht sonderlich erstaunlich ist das große Medienecho. (Ein Beispiel noch: die Süddeutsche Zeitung meldete: „Forscher attackieren goldene Schuldenregel“) Wer den neoliberalen Theorien glaubt, der muss sich auch öffentlich darüber wundern, wenn sie durch Nachweis von Rechenfehlern erschüttert werden. Und wenn der zuständige Kommissar in Brüssel, Herr Rehn, den Theorien geglaubt hat, dann muss man ihn wohl auch auf Rechenfehler in der Basis seines seltsamen Gedankengebäudes aufmerksam machen. So grotesk das ist.
Der Vorgang ist ein guter Beleg dafür,

  • dass die ökonomische Wissenschaft unter Dogmatismus und dogmatisch orientierten schlechten Ökonomen leidet, und
  • dass die Medien ihrer Funktion als kritische Begleiter nicht gerecht werden. Mit großen Kinderaugen begleiten sie deshalb einen Vorgang wie die gestrige Offenbarung von Rechenfehlern.

Die wirklich schlimme Seite der gesamten Debatte ist die Tatsache, dass das Schicksal von Menschen in Europa von solchen Typen von Wissenschaftlern und der entsprechenden Ausrichtung von Kommissaren, Bundeskanzlern und Bundesfinanzministern abhängt. Und dass sie unter diesen Dogmatikern ganz konkret leiden.

Anlage: Auszug aus Albrecht Müller: Reformlüge (2004), Seite 408

Tabelle A3: Staatsschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in vergleichbaren Ländern

Quelle: OECD (Hrsg.): Economic Outlook 2003, Paris 2003, S. 227

P.S.: Jens Berger schreibt mir als Anmerkung zu dem obigen Artikel:

Ich stimme Deinem Artikel voll und ganz zu. Nur ein Satz stört mich ein wenig:
“Meist ist die Korrelation von BIP-Wachstum und Staatsschuldenquote nicht signifikant.”
Ich weiß ja, wie Du das meinst, aber das könnte auch in der Form missverstanden werden, dass es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Werten gibt. Das BIP-Wachstum hat freilich eine große Bedeutung für die Staatsschuldenquote, schließlich steht es ja im Nenner. Umgekehrt hat die Staatsschuldenquote jedoch keinen signifikanten Einfluss auf das BIP-Wachstum. So hätte man das m.E. auch schreiben sollen. Einige Leser, die den Begriff “Korrelation” nicht genau definieren können, könnten hier zu einem falschen Urteil kommen.

AM: Jens Berger hat recht. Deshalb diese Ergänzung.


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