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Titel: Sozialarbeit à la Roland Berger

Datum: 24. Januar 2007 um 9:20 Uhr
Rubrik: Familienpolitik, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft
Verantwortlich:

Der Untersuchungsausschuss der Bremischen Bürgerschaft, der den Tod von Kevin aufklären soll, fragt nach Hintergründen für das Versagen des Jugendamtes. Die “Ökonomisierung” des Jugendamtes nach den Vorschlägen der Unternehmensberater von Roland Berger habe in den letzten Jahren zu einer “Reduzierung des fachlichen Selbstbewusstsein” der Mitarbeiter geführt, zu einer “Schere im Kopf”, sagte der Zeuge Oberregierungsrat Tersteegen, damals Mitarbeiter im Sozialressort, in der taz: Wer “mit viel Papieraufwand um vergleichsweise kleine Summen für die Finanzierung von Unterstützungsmaßnahmen streitet” und Fremdunterbringungen vor einer “Plausibilitätsüberprüfung” rechtfertigen muss, der gerät in Versuchung, solche unangenehmen Situationen eher zu vermeiden. Tersteegen: “Der Amtsleiter fungierte als Sparkommissar und sah sich beauftragt, die Sanierung des Haushaltes zu unterstützen.” In die Führungsetage seien Leute “aus anderen Gründen als ihrer fachlichen Qualifikation” gekommen. Gerhard Tersteegen hat uns sein Eingangsstatement vor dem Untersuchungsausschuss „Kindeswohl“ zur Verfügung gestellt.

Sozialarbeit à la Roland Berger gescheitert

Untersuchungsausschuss „Kindeswohl“ der Bremischen Bürgerschaft
Eingangsstatement des Zeugen Gerhard Tersteegen

Ich habe mich gegenüber dem Untersuchungsausschuss mit den Thesen zur Entfachlichung und Ökonomisierung des Jugendamtes zu Wort gemeldet, weil ich die Sorge hatte – und mit dieser Sorge war ich nicht allein in der Fachöffentlichkeit –, der tragische Tod des kleinen Kevin könnte einzig auf eklatantes Fehlverhalten des fallführenden Sozialarbeiters zurückgeführt werden.

Ich wollte ihre Aufmerksamkeit auf institutionelle, atmosphärische und fachliche Rahmenbedingungen lenken, innerhalb derer das Fehlverhalten möglich war und zugelassen wurde. Für die Arbeit im AfSD wäre auch ohne den tragischen Tod des kleinen Kevin eine Zäsur dringlich angezeigt gewesen, damit notwendige fachliche Weichenstellungen vorgenommen würden. Der Maßnahmenkatalog der neuen Senatorin zu beabsichtigten Veränderungen im AfSD macht unübersehbar deutlich, welche Mängel es gab und gibt, die erst jetzt mit der Aufarbeitung des Kevin-Falles offen angesprochen werden.

Zum institutionellen Kontext, über den ich in den ihnen zugesandten Thesen Aussagen gemacht habe, gehören in erster Linie die Umorganisationen und Umorientierungen im AfSD seit 1999, die „Neujustierungen“ genannt wurden.

Ich möchte mit ihrer Erlaubnis mit einem Selbstzitat beginnen. 1999 habe ich in einer Entgegnung zum Gesamtkonzept für die ambulanten Dienste in einem internen Papier formuliert:

Die Praxis der Jugendhilfe gerät in Gefahr, dass die von ihr erbrachten und zu erbringenden Leistungen künftig nur noch unter monetären Gesichtspunkten betrachtet werden. (…) Zu warnen ist davor, dass sozial benachteiligende Lebenslagen der Adressaten aus dem Blickfeld geraten und die Sicht öffentlicher Verantwortung und Aufgabenwahrnehmung verschwindet.

Der Fall Kevin ist ein krasses und tragisches Beispiel dafür, dass die Warnungen ihre Berechtigung hatten. Die Kritik an dem Konzept wurde auch in ausführlichen Fachartikeln mit den Überschriften „Zur Tyrannei des Wegschauens“ und „Neue Steuerung und Systemik – eine verhängnisvolle Affäre“ publiziert. Eine offene Diskussion darüber hat die Amtsleitung nicht zugelassen, sondern als `Energievergeudung` diffamiert.

In den Jahren der Umsetzung dieses Konzeptes ist im AfSD ein Kostendruck-Regime errichtet worden. Eine kleine Gruppe von Leitungskräften, die nicht alle nach fachlicher Eignung und Erfahrung ausgewählt wurden, hat – durch die Weitergabe des Drucks an die Mitarbeiter – daran mitgewirkt, dass es bei einem Teil der Fachkräfte zu einer Deformation des fachlichen Selbstbewusstseins gekommen ist.

Meine Analyse des Prozesses will ich in drei Punkten knapp zusammenfassen, bevor ich auf Fragen ihrerseits eingehe:

  1. Die Umsteuerung des Amtes zielte darauf, die Sparvorgaben von Senat und Bürgerschaft zu realisieren durch Personalreduzierungen und Herabsenkung der Jugendhilfefallzahlen, insbesondere bei den Fremdplatzierungen. Die Umstellungen wurden von der – unrealistischen – Botschaft begleitet, sie würden die Arbeitsqualität verbessern und die quantitative Ausdünnung des Personals im ambulanten Dienst – er wurde nach Angaben des Personalrates um 40 von 150 Stellen reduziert – könne qualitativ kompensiert werden. Die dafür vorgesehene Instrumente waren u.a.:
    • Zusammenlegung von bislang getrennten Fachdiensten, im Jugendhilfebereich: Kinder und deren Familien – Jug .u.d. F.
    • Paradigmenwechsel im Sinne systemischer Denkweise und Umsteuerung zum Fallmanagement mit entsprechender Schulung und Qualifizierung
    • Die Einrichtung von erst 12, später – wegen der Hartz- Gesetzgebung – 6 Sozialzentren, Übertragung der Fach- und Ressourcen-Verantwortung an die SZ-Leitungen
    • Auslagerung von Spezialdiensten – Übertragung an freie Träger

    Sie können sich bei den Fachkräften selbst erkundigen, ob die angekündigte Kompensation über diese Instrumente eingetreten ist. Sie werden ganz sicher erfahren, dass die Arbeit sich ungeheuer verdichtet hat und wenig Zeit geblieben ist für die gründliche fachliche Abwägung von Einzelfällen. Ein Mitarbeiter berichtete mir, dass seine Fallzahl von 40 auf 75-80 angestiegen ist. Vorgesehen waren für die Beratung uneindeutiger Fälle in einer Fachlichen Weisung die sog. kollegialen Beratungen. Es ist erstens zu fragen, ob und wie häufig insgesamt diese Methode zur Qualitätssicherung in der ambulanten Arbeit generell angewandt wurde und zweitens, mit welchem Ergebnis im Fall Kevin eine solche kollegiale Beratung stattgefunden hat. Wichtig ist darüber hinaus die Frage, welche Instanz im AfSD die Verantwortung für das Prüfen trug, ob und wie fachliche Weisungen in der Alltagspraxis umgesetzt wurden. Eine Geschäftsordnung, in der dies normalerweise geregelt wird, ist nach Auflösung der NOSD-Strukturen nach meiner Kenntnis nicht in Kraft gesetzt worden. Ein Fach-Controlling, das diesen Namen verdient, und eine Jugendhilfe-Planung gibt es im Amt ebenfalls nicht. (Sie merken, ich spreche hier Punkte an, die im Maßnahmenkatalaog enthalten sind).

  2. Neben der Personal-Einsparung haben die Zusammenführung von Fach- und Ressourcen-Verantwortung bei den regionalen Leitungskräften zusammen mit den Kontrakt- und Controlling-Verfahren eine so eminente Rolle gespielt, das es m.E. zutreffend ist, von einer Ökonomisierung des Amtes zu sprechen. Der Prozess der Übertragung betriebswirtschaftlicher Instrumente auf diesen sensiblen Teil des öffentlichen Dienstes hat eine so starke Bedeutung erlangt, dass dadurch das sorgfältige Erörtern und Abwägen von fachlichen Fragen der Hilfegewährung in den Hintergrund gedrängt wurde Zu dieser Einschätzung bin ich gekommen nach etlichen Gesprächen mit Sozialarbeitern des ambulanten Dienstes, aber auch mit PraktikantInnen, die die Amtsatmosphäre während ihrer Ausbildung erlebten. Ich empfehle dem Ausschuss, sich kundig zu machen über Themen, Abläufe und Ergebnisse der Controlling-Gremien. Wie mir berichtet wurde, haben die Controlling-Gremien sich vorrangig mit Zahlen und nur am Rande mit den fachlichen Fragen der Hilfeleistungen und den Hilfeprozessen selbst befasst.

    Die regionalen Leitungen mussten den über die Spar-Kontrakte zwischen Amtsleitung und Regionalleitungen erzeugten Druck an die Fachkräfte weitergeben. Dieser Umstand hat, so bin ich informiert worden, zu einem dauerhaften Rechtfertigungszwang geführt und insgesamt auch eine Misstrauensatmosphäre im Amt erzeugt. Es ist nicht übertrieben, die Wirkung dieser Druck- und Rechtfertigungsatmosphäre auf die Fachkräfte als Reduzierung ihres fachlichen Selbstbewusstsein zu kennzeichnen, Ein weiterer Hinweis dafür, dass der fachlichen Kompetenz der Sozialarbeiter im ambulanten Dienst keine große Wertschätzung entgegengebracht wurde, ist, dass die Amtsleitung den Fachkräften gegenüber zum Ausdruck brachte, dass eine fachliche Kommunikation mit ihnen für sie nicht infrage komme – sie setze sich nur mit ihren Vorgesetzten auseinander. Die These, die Entscheidungen seien von der Schere im Kopf – stets ging es um Budgeteinhaltung versus adäquater Hilfemaßnahmen – beeinflusst worden, ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich könnte ihnen Beispiele dafür liefern, dass Mitarbeiter sich mit viel Papieraufwand um vergleichsweise kleine Summen für die Finanzierung von Unterstützungsmaßnahmen streiten mussten und dann auch noch in Misskredit gerieten, wenn sie ablehnende Entscheidungen nicht mittragen konnten.

  3. Die Umsteuerung des Amtes nach dem Muster des Neuen Steuerungsmodells wurde flankierend ideologisch gestützt durch eine mit dem Begriff „Systemik“ zu kennzeichnende psychologische Denkrichtung, die kostengünstige Kurzzeit-Maßnahmen prinzipiell für angemessen hält. Die dem Gesamtkonzept für die Umsteuerung des ambulanten Dienstes zugrunde liegende Variante des systemischen Denkens gilt in Fachkreisen als einseitig. Ihre biologistisch ausgerichtete Grundannahme ist, dass Familien-Systeme sich stets selbst regulieren und es nur geringer Anstöße bedarf, um ihre Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Mit Verwahrlosungs-Phänomenen und dramatischen materiellen und pädagogischen Defiziten, die in sozial benachteiligten Schichten verstärkt festzustellen sind, mag diese Denkrichtung sich nicht befassen. Dabei ist besonders wichtig die generelle Ablehnung und Abkehr von zeitintensiven Maßnahmen, in denen auf Vertrauen basierende Beziehungsarbeit eine Rolle spielt.

Ich komme zum FAZIT:

Das Fazit meiner Analyse ist, dass bei den Veränderungen im AfSD betriebswirtschaftliche Denk- und Handlungsmuster eine die Fachlichkeit überlagernde Eigendynamik entfaltet haben, die zu Lasten gründlicher fachlicher Abwägungen in der Alltagspraxis des Amtes ging. Das AfSD hat sich zu einem Exerzierfeld zur Einführung des neoliberal ausgerichteten „Neuen Steuerungsmodells“ entwickelt. Der Amtsleitung fungierte als Sparkommissar und sah sich beauftragt, die Sanierung des Bremischen Haushaltes zu unterstützen. Sie hat diesen Auftrag in unerträglich autoritärer und auch m.E. den gesetzlichen Aufträgen widersprechender Weise umgesetzt.

Mit dem Inkrafttreten des neuen Jugendhilfegesetzes wurde in der bundesrepublikanischen Fachdiskussion das „lebendige Jugendamt“ beschworen und für eine „Offensive Jugendhilfe“ mit solidarischer Grundhaltung gegenüber den anvertrauten Kindern und Jugendlichen votiert – auch in Bremen. Von dieser Tradition hat sich das Bremer Jugendamt im vergangenen halben Jahrzehnt in einem für mich erschreckenden Maß losgesagt. Dies ist der Kern dessen, was ich ihnen im Zusammenhang mit dem Fall Kevin vermitteln möchte. Damit verbinde ich die Hoffnung und Erwartung, dass die begonnene Neubesinnung nicht im Ankündigungsstadium verbleibt.

Gerhard Tersteegen – im Januar 2007

 

Siehe dazu auch taz: „Gescheiterte Logik“


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