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Titel: Auf dem richtigen Weg? PISA 2012 und die Migranten

Datum: 11. Februar 2014 um 7:48 Uhr
Rubrik: Bildung, Bildungspolitik, Chancengerechtigkeit
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Migrantenkinder machen zwar einen rasch anwachsenden Anteil der Schülerschaft aus (in Köln schon insgesamt 50%), es gibt aber nur wenige Überlegungen, was das heißen könnte für schulisches Lehren und Lernen. In der Grundschuldidaktik wird vielfach übersehen, dass ein wachsender Anteil an Schülern nicht mehr Deutsch als Muttersprache spricht. PISA macht bei aller berechtigten Kritik immerhin auf die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus soziökonomisch benachteiligten Familien aufmerksam. Aber die richtigen Konsequenzen werden nicht gezogen, vielleicht auch deshalb, weil Pädagogen zwar Aufgaben für das sprachliche Lernen formulieren, während die eigentlich zuständige Didaktik für das sprachliche Lernen aber höflich schweigt.
Eine fortschrittliche Schulpolitik muss sich Gedanken über diese Situation machen. Additive Maßnahmen bei Weiterbestehen der Regelsysteme helfen nicht mehr, wenn es um eine langfristige Trendwende gehen soll. Ein Kommentar zu PISA 2012 und daraus abzuleitende Schlussfolgerungen für Migrantenkinder von Thomas Jaitner [*]

Vorweg eine Anmerkung der Redaktion: Die NachDenkSeiten nehmen eine kritische Position zu PISA ein. Siehe etwa:

Thomas Jaitner begründet in seinem Anschreiben, warum er für seine Vorschläge zur Überwindung der Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund auf die PISA-Tests – die er selbst auch kritisiert – zurückgreift. Schließlich wird die Schulpolitik von PISA-Gläubigen bestimmt und die PISA-Tests beherrschen die öffentliche Debatte. Die in dem nachfolgenden Beitrag skizzierten Handlungs- und Reformvorschlägen für ein weiteres Vorankommen auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei hohen Leistungen decken sich mit den PISA-Resultaten. Auch die PISA-Anhänger können sich also der Auseinandersetzung diesen Anstößen kaum verweigern.


  1. Die Fakten sind bekannt: Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in Deutschland schneiden in PISA 2012 besser ab.

    Vor allem ein Vergleich mit der ersten, schockierenden Untersuchung aus dem Jahr 2000 macht dies deutlich. Die Schülerleistungen in Mathematik, Lesekompetenz und Naturwissenschaften liegen 2012 über dem Durchschnitt der beteiligten Staaten:

    • In Mathematik erreichten die Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt 514 Punkte, das sind deutlich mehr als die 490 aus dem Jahr 2000.
    • Im Bereich Lesekompetenz waren es 2012 508 Punkte gegenüber 484 aus dem Jahr 2000.

    Diese Ergebnisse sind hauptsächlich zurückzuführen auf Leistungssteigerungen unter den leistungsschwächeren und sozioökonomisch benachteiligten Schülerinnen und Schülern, während sich der Anteil der Jugendlichen in den höchsten Kompetenzstufen kaum geändert hat:

    • Der Anteil der besonders Leistungsschwachen in Mathematik (unterhalb von Kompetenzstufe II) sank seit 2003 um 4 Punkte. „Außerdem erzielten die leistungsschwächsten 10% der Schülerinnen und Schüler in PISA 2012 über 20 Punkte mehr als die entsprechende Gruppe in PISA 2003.“ (Ländernotiz Deutschland, S. 2).
    • Ähnliches gilt für die Lesekompetenz: „Zwischen 2000 und 2012 ist es Deutschland gelungen, den Anteil der besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler im Bereich Lesekompetenz um 8 Prozentpunkte zu reduzieren; außerdem erzielten die leistungsschwächsten 10% der Schülerinnen und Schüler … fast 50 Punkte mehr als die entsprechende Gruppe in PISA 2000.“ (S. 3) Es gibt also einen „erfreulichen Rückgang schwacher Leserinnen und Leser.“ (Langfassung der Studie, S. 237)

    Besser waren auch die Ergebnisse der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die 2000 besonders schlecht abgeschnitten hatten:

    • „2003 erzielten Schüler mit Migrationshintergrund in Mathematik durchschnittlich 81 Punkte weniger als Schüler ohne Migrationshintergrund; 2012 hatte sich dieser Leistungs-abstand auf 54 Punkte verringert.“ (S. 6)

    Auch der Einfluss sozioökonomischer Faktoren auf die Schülerleistungen ist schwächer geworden (S. 5).

  2. Wie sind die verbesserten Ergebnisse zu bewerten?

    Kann man dem Kommentar der Kultusministerkonferenz vom 3.12.2013 zustimmen: „Die eingeschlagenen Wege sind erfolgreich und müssen konsequent fortgesetzt werden.“? 
    Zunächst einmal muss man die Fortschritte anerkennen, sie sind vor allem dem Engagement und der Arbeit vor Ort zu verdanken. Sie zeigen, dass man ungleiche Bildungschancen nicht einfach hinnehmen muss, dass sie verändert werden können.

    Zum PISA-Verfahren ist in der Vergangenheit viel berechtigte Kritik vorgetragen worden, auch auf den NachDenkSeiten. Aber immerhin hat PISA auf die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und aus sozioökonomisch benachteiligten Familien hingewiesen. Deshalb sollte PISA 2012 gerade auch für diejenigen, die sich ständig auf die Ergebnisse dieses Tests berufen, Anlass sein, über den bisher eingeschlagenen Weg und seine Fortsetzung nachzudenken.

  3. Alte Probleme weiterhin ungelöst

    Bei der Bewertung muss man bedenken, dass die Ergebnisse von 2000 besonders schlecht waren, Deutschland war damals Schlusslicht bei der sozialen Gerechtigkeit in der Bildung. Bei einem so vielfältigen und erfahrenen Bildungssystem wie dem deutschen konnte man durchaus rasche Verbesserungen erwarten. Allerdings zeigt auch PISA 2012, dass alte Probleme weiterhin ungelöst bleiben. Dies gilt vor allem für die Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die immer noch deutlich zurückbleiben hinter den durchschnittlichen Schülerleistungen. So erreichten 31% von ihnen in Mathematik nur maximal die Kompetenzstufe I, können also nur einfachste Aufgaben lösen. Bei den Jugendlichen ohne Migrationshintergrund sind es dagegen 14%, also die Hälfte. Die Abhängigkeit der Leistung vom sozioökonomischen Hintergrund der Schülerinnen und Schüler liegt weiterhin über dem Durchschnitt der OECD. Zusätzlich gibt es offensichtlich auch neue Probleme, die mit dem Unterricht zu tun haben:

    • „Die Schuldisziplin hat sich in Deutschland zwischen 2003 und 2012 verschlechtert… Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in Deutschland angaben, dass es bei ihnen im Unterricht ‘drunter und drüber geht’, ist zwischen 2003 und 2012 um 4 Prozentpunkte von 25% auf 29% gestiegen… Auch der Anteil der Schüler, in deren Klasse ‘es lange dauert, bis die Schüler mit dem Arbeiten anfangen’, hat sich von 26% auf 29% erhöht.“ (Ländernotiz Deutschland, S. 8)
    • „Während im OECD-Durchschnitt 82% der Schülerinnen und Schüler der Aussage ‘Wenn ich zusätzliche Hilfe brauche, bekomme ich sie von meinen Lehrerinnen und Lehrern’ ‘völlig’ oder ‘eher’ zustimmten, war dies in Deutschland nur bei 66% der Fall. Ähnliches gilt für die Aussage ‘Die meisten meiner Lehrerinnen und Lehrer interessieren sich für das, was ich zu sagen habe’, der im OECD-Schnitt 74% der Schülerinnen und Schüler ‘völlig’ oder ‘eher’ zustimmten, während in Deutschland mindestens ein Drittel der Schülerinnen und Schüler anders antwortete.“ (S. 8)

    Diese Befunde hängen sicherlich mit einer wachsenden Überforderung aller Beteiligten mit der zunehmenden Heterogenität in den Klassenzimmern zusammen. Diese wird vor allem als Belastung empfunden, es mangelt an effektiven Strategien des Umgehens damit.

  4. Ergänzungen zum Regelbetrieb reichen nicht

    Das Hauptproblem bei dem bisher eingeschlagenen Weg besteht darin, dass die nach 2000 neu ergriffenen Maßnahmen in der Regel additive, zusätzliche Ergänzungen zum Bestehenden sind, dass der Regelbetrieb aber, und hier vor allem der Regelunterricht, wenig einbezogen sind. Dadurch wurde auf der einen Seite ein höheres Maß an Aufmerksamkeit für das jeweilige Problem erreicht, was bereits zu einer Verbesserung der Schülerleistungen ausreichte. Auf der anderen Seite wird aber auch viel Verwirrung gestiftet, widersprüchliche Maßnahmen stehen unverbunden nebeneinander. Für ein weiteres Vorankommen auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei hohen Leistungen wird dies nicht ausreichen. An drei Beispielen aus dem Bundesland NRW soll dies gezeigt werden.

    1. Die Integrationsstellen

      Seit den 80er Jahren stehen den Schulen aller Schulformen zusätzlich zur normalen Lehrerversorgung Lehrerstellen zur Verfügung, die der Verbesserung der Deutschkenntnisse von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund dienen sollen. Aktuell geht es dabei landesweit um ca. 3000 Stellen. Hier stecken also erhebliche Ressourcen. In den 90er Jahren setzte sich allgemein die Tendenz durch, dass diese Stellen zweckentfremdet für die Behebung von Lehrerausfall im Regelunterricht eingesetzt wurden, z.B. für den fehlenden Mathekollegen. Hintergrund war die damals vertretene Auffassung, dass nach Abschaffung aller separaten Beschulungsformen für Migranten Ende der 80er Jahre Ali und Ayşe nun automatisch Deutsch lernen, weil sie neben Lena und Benjamin sitzen und gemeinsam unterrichtet werden. Gezielte Sprachbildungsmaßnahmen erschienen nicht mehr notwendig. Dementsprechend wurden auch umfangreiche landesweite Lehrerfortbildungsprogramme beendet. Durch den PISA-Schock 2000 wurde klar, dass hier etwas schief gelaufen war. Ali und Ayşe hatten zwar unter dem Zwang, die deutsche Sprache benutzen zu müssen, mündliche Sprachfähigkeiten in konkreten Alltagssituationen erlernt, besser als dies jeder Fremdsprachenunterricht könnte (sog. konzeptionelle Mündlichkeit), sie scheiterten aber an den Anforderungen der Schriftsprache und komplexer Texte (konzeptionelle Schriftlichkeit). Das gemeinsame Lernen von Kindern und Jugendlichen war eine pädagogische Entscheidung gewesen, der aber keine didaktischen Schlussfolgerungen für das sprachliche Lernen gefolgt waren. 

      Nach 2000 gab es mehrere Versuche, die Stellen wieder ihrem ursprünglichen Zweck zuzuführen. Sie mündeten 2012 in einem neuen Erlass, der die Stellen nicht nur neu benannte (aus den alten „Integrationshilfestellen“ wurden jetzt „Integrationsstellen“), sondern auch ein umfangreiches Antragsverfahren, Verwendungsnachweise und eine Beratung der Schulen durch die neu geschaffenen Kommunalen Integrationszentren einführte. Die alles entscheidende Frage blieb aber ungeklärt: Was soll eigentlich mit den Stellenanteilen im Unterricht gemacht werden, was genau ist unter Sprachförderung zu verstehen? In dieser Frage gibt es viel Unsicherheit, sehr verbreitet (auch in Schulbüchern) sind immer noch die einschlägigen, aber völlig wirkungslosen Grammatikübungen mit Lückentexten, in die man die richtigen Lösungen einzusetzen hat. Viele Schulen führten zusätzliche Förderstunden ein. Wenn allerdings der Regelunterricht unverändert am „Normalfall“ von Kindern und Jugendlichen festhält, die Deutsch als Muttersprache erlernt haben, dann werden ständig die sprachlichen Fähigkeiten vorausgesetzt, die den Schülerinnen und Schülern mit einer anderen Muttersprache zuvor hätten vermittelt werden müssen. Man könnte auch sagen, dass der Regelunterricht überhaupt erst den Förderbedarf schafft, der dann in den Förderstunden aufgearbeitet werden soll. 

      Immerhin hat man erreicht, dass sich die Schulen intensiv mit der Sprachförderung auseinandersetzen, aber die Frage der Unterrichtsqualität bleibt umstritten.

    2. Die Leseförderung

      In den letzten Jahren tauchten an den Schulen viele motivierte Lesepaten, Lesemütter oder Mentoren auf, die das Vorlesen wieder pflegen. Viele Bundesländer legten spezielle Programme auf, in der PISA-Studie 2012 wird z.B. die Aktion „Bücherwurm NRW“ beispielhaft erwähnt. Natürlich mag man all diese Aktivitäten nicht mehr missen, die Frage ist nur: Welchen Bezug haben sie zum Regelunterricht? Vor einigen Jahren wurde im Rahmen von „Bücherwurm“ zu einem Wettbewerb aufgerufen, in dem eine Geschichte mit einem offenen Ende von Peter Härtling, extra für diesen Wettbewerb verfasst, weiter geschrieben werden sollte. Wie aber können auch Kinder, die die deutsche Sprache noch nicht richtig beherrschen, nicht nur eine spannende und anrührende Geschichte schreiben, sondern auch eine sprachlich richtige? Wer ist dafür zuständig? Diese Aufgabe kann nur der Unterricht übernehmen, aber der war in diese Aktivitäten nicht eingeplant…

    3. Sprache im Fachunterricht

      PISA 2000 öffnete die Augen dafür, dass sprachliche Fähigkeiten eine Schlüsselkompetenz sind, die auch Auswirkungen auf den Erfolg im Fachunterricht hat. In der jüngsten Zeit wurden spezielle Studienmodule und Materialien für Fachlehrkräfte entwickelt, die ihren Unterricht in Mathematik oder Geschichte mit der gezielten funktionalen Sprachförderung verbinden sollen. Dabei geht es vor allem um die Vermittlung komplexer schriftsprachlicher Strukturen, die für das Verständnis fachsprachlicher Texte unerlässlich sind. Das ist sicherlich sinnvoll, löst aber nicht die Frage, wer denn zuständig ist für die Vermittlung grundlegender sprachlicher Strukturen wie des so komplexen deutschen Deklinationssystems mit seinen Artikeln, Fällen, Präpositionen und Personalpronomen. Ohne genaue Kenntnisse in diesem Bereich sind aber auch Fachtexte nicht zu verstehen, auch nicht die neuen Aufgabenformate in Mathematik. Die Sprachförderung im Fachunterricht allein hilft nicht weiter. Notwendig ist vielmehr ein Gesamtkonzept für das sprachliche Lernen in mehrsprachigen Klassen, das auch die Rolle des Deutschunterrichts einbezieht.

      Die Rolle der Literatur bei Vermittlung und Erwerb der deutschen Sprache gerät allerdings zunehmend ins Hintertreffen. Gerade poetische Texte aus Kinderliedern, Reimen, Sprachspielen oder Bilderbüchern eignen sich für die implizite Vermittlung sprachlicher Strukturen. „Im Gegensatz zur funktionalen Alltagssprache, die sich auf den Erfolg der sprachlichen Handlung konzentriert, nicht auf sprachliche Korrektheit und Vollständigkeit, lenken poetische Texte die Aufmerksamkeit auf die Sprache als solche. Reim und Rhythmus erfordern eine exakte Reproduktion der vorgegebenen Textmuster. Funktionswörter und Endungen können nicht einfach weggelassen werden. Im Gegensatz zu alltagssprachlichen Äußerungen können poetisch-sprachspielerische Texte beliebig oft wiederholt werden. Gerade bei jüngeren Kindern zeigt sich diese Urlust an der Wiederholung. Sie wollen die gleichen Bilderbücher, Märchen, Kinderlieder und Kinderreime immer wieder hören, bis sie sie korrekt reproduzieren und gezielt abwandeln können.“ (Gerlind Belke, Elementare Literatur als Medium sprachlicher Bildung im Kontext einer Didaktik der Mehrsprachigkeit, S. 5).

      Auch in der Sekundarstufe eignen sich Literatur und Poesie in besonderem Maße für den Spracherwerb. Umso bedenklicher ist es, wenn die Literatur aus dem Unterrichtsalltag und den Richtlinien immer mehr verschwindet zugunsten von Fachtexten oder „Textsorten“. Dies gilt auch für die in PISA 2012 beispielhaft erwähnte Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift BISS“. Betrachtet man die aktuellen Sprachfördermaßnahmen, „so stellt man mit Erschrecken fest, dass der Gegenstand ihrer Bemühungen, die Sprache selbst und die Freude am kreativen Umgang mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen verloren zu gehen droht. Die Publikationen erschöpfen sich in der Diskussion von Begrifflichkeiten, Konzepten, ‘Problemen’ und ‘Maßnahmen’, Test- und Diagnoseinstrumenten, Erhebungsverfahren und Evaluation. Dabei bleiben die Kinder und ihre Freude am Spiel  mit ihren Sprache(n) außer Betracht.“ (Belke, ebda., S. 12). Für die Literatur bleiben dann wieder zusätzliche Maßnahmen zur Leseförderung, siehe oben.

  5. Notwendig ist eine Didaktik des Sprachunterrichts in mehrsprachigen Klassen

    Sicherlich hat der „eingeschlagene Weg“ mit seiner Ausweitung des Ganztages, Sprachförderprogrammen in den Kitas, Rechtschreibprogrammen in den Grundschulen oder den beschriebenen Maßnahmen eine höhere Aufmerksamkeit für tatsächliche Probleme erzeugt. Nicht geklärt sind aber die Qualität und die Frage, wie denn alles zusammenpasst.

    Der Regelbetrieb und vor allem der schulische Regelunterricht sind in die Reformüberlegungen zu wenig eingebunden. Notwendig ist vor allem eine Didaktik des Sprachunterrichts in mehrsprachigen Klassen, insbesondere für die Sprachfächer, die auf den Regelunterricht abzielt und Konzepte für Deutsch als Muttersprache, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache miteinander verknüpft. Es reicht nicht, wenn eine der PISA-Verantwortlichen, Petra Stanat, eine verstärkte Beschäftigung mit Deutsch als Zweitsprache fordert, weil dies wiederum die Auslagerung der sprachlichen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund aus dem Regelunterricht in spezifische Fördergruppen bedeutet. Grundzüge einer Didaktik für das sprachliche Lernen in mehrsprachigen Regelklassen, die die Bedürfnisse aller Kinder berücksichtigt, hat die Hagener Didaktikerin Gerlind Belke vorgelegt. (Vgl. G. Belke, Mehr Sprache(n) für alle. Sprachunterricht in einer vielsprachigen Gesellschaft, Baltmannsweiler 2012) Leider ist sie noch immer eine Außenseiterin in der didaktischen Debatte, wenn auch ihre Überlegungen und Anregungen von den Lehrkräften mit großem Interesse angenommen werden. Immerhin hat die Bezirksregierung Köln das auf ihren Anregungen basierende Programm „Deutschlernen in mehrsprachigen Klassen DemeK“ entwickelt, das ein umfangreiches Fortbildungsprogramm und ausführliche Materialien für die Primar- und Sekundarstufe anbietet und auf große Zustimmung bei einer rasch anwachsenden Anzahl von Schulen trifft.

  6. Natürliche Mehrsprachigkeit in ein Konzept des schulischen Sprachenlernens einbeziehen

    Wenn man über Leistungen und Schulerfolge von Schülerinnen und Schülern mit Migrations-hintergrund spricht, dann muss man auch ihren großen Reichtum, nämlich ihre natürliche Mehrsprachigkeit einbeziehen. Dieses Thema wird allerdings in den PISA-Studien ausgeklammert. Stattdessen wird ausführlich untersucht, wie viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund die Sprache des Einwanderungslandes, also Deutsch, zu Hause sprechen (Langfassung PISA 2012, S. 284). Welche Erkenntnisse kann man aus diesen Tabellen gewinnen? Sie sagen etwas aus über den Grad der kulturellen Assimilation. Es wäre allerdings ein Irrweg darauf zu hoffen, dass die Herkunftssprachen zugunsten der deutschen Sprache allmählich aussterben. Die moderne Welt mit ihren billigen Reisemöglichkeiten, Internet, Skype, eMail-Verkehr oder Satellitenfernsehen ermöglicht das Aufrechterhalten von vielfältigen, eben auch sprachlichen Verbindungen mit dem Herkunftsland über Generationen hinweg. Die Mehrsprachigkeit wird ein dauerhaftes Phänomen auch in Deutschland. Die moderne Migration unterscheidet sich darin entscheidend von der traditionellen, wie sie noch von dem Soziologen S.N. Eisenstadt untersucht worden war und die auf dem endgültigen Bruch mit dem Herkunftsland basierte. 

    Über mögliche Schülerleistungen in Mathematik oder im Bereich der Lesekompetenz kann man aus den Tabellen keine Erkenntnisse gewinnen. Wenn die Schülerinnen und Schüler zu Hause Deutsch sprechen, aber auf dem Niveau der konzeptionellen Mündlichkeit, dann werden sie nicht automatisch Verstehensleistungen erbringen, die Fähigkeiten der konzeptionellen Schriftlichkeit voraussetzen. Wenn sie zu Hause ihre nichtdeutsche Muttersprache sprechen auf dem Niveau der konzeptionellen Schriftlichkeit, dann ist damit zu rechnen, dass ihnen das Erlernen der deutschen Sprache auf diesem Niveau leichter fallen wird. 

    Das Problem ist also komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint. Es ist deshalb wichtig, die natürliche Mehrsprachigkeit einzubeziehen in ein Konzept des schulischen Sprachenlernens. 

    1. Die Hirnforschung belegt, dass Mehrsprachigkeit intelligenter macht. Die Münchener Linguistin Claudia Maria Riehl unterscheidet dabei fünf Aspekte: 
      • „Den psychologischen Aspekt: Bei Mehrsprachigen fungiert die Herkunftssprache als Träger der Identität, die Zielsprache ermöglicht Integration in eine andere Sprachgemeinschaft.
      • Den sozialen Aspekt: Sprache befähigt Individuen, einander zu „lesen“. Mehrsprachige können eine größere Bandbreite an Sprechern auf diese Weise „verstehen“.
      • Den kognitiven Aspekt: Mehrsprachige besitzen ein differenziertes Bewusstsein von Sprache und haben eine andere Art des Sprachzugangs, der weniger regelorientiert und natürlicher ist als der Einsprachiger. Sie besitzen ein starkes metasprachliches Bewusstsein und andere Fertigkeiten, die ihnen auch das Erlernen weiterer Sprachen erleichtern.
      • Den pragmatischen Aspekt: Mehrsprachige haben eine differenziertere Sicht auf die Welt. Sie lernen durch die Brille der anderen Sprache andere Sichtweisen kennen und sind daher flexibler im Handeln.
      • Den kulturellen Aspekt: Mehrsprachige, besonders Angehörige von Sprachminderheiten, haben eine Brückenfunktion als Vermittler zwischen verschiedenen Kulturen.“

      (Claudia Maria Riehl, Die Bedeutung von Mehrsprachigkeit [PDF – 110 KB])

      Wenn man bedenkt, dass PISA 2012 zu dem Ergebnis kommt, dass die besonders guten Leistungen nicht zunehmen, dann sollte man bedenken, dass es hier ein großes Potential gibt. Bilinguale Unterrichtsgänge, Angebote in den Herkunftssprachen, die koordiniert werden mit dem Regelunterricht sollten ausgeweitet werden, in der Primarstufe, aber auch in der Sekundarstufe bis zum Abitur.

    2. Es ist einfacher für Kinder mit einer nichtdeutschen Muttersprache, die Schriftsprache in ihrer eigenen Sprache zu erwerben. Es spricht deshalb viel dafür, die Alphabetisierung in der Grundschule zweisprachig und koordiniert auf Deutsch und der Herkunftssprache durchzuführen. Entsprechende Konzepte in NRW wie KOALA haben sich in der Praxis bewährt und sind als erfolgversprechend evaluiert worden, etwa durch die Untersuchung von Prof. Hans H. Reich „Schriftsprachliche Fähigkeiten türkisch-deutscher Grundschülerinnen und Grundschüler in Köln“ (Köln 2011).
    3. Die natürliche Mehrsprachigkeit schafft auch völlig neue Chancen für das Erlernen einer Fremdsprache für die nur deutschsprachigen Kinder und Jugendlichen. Sie können eine weitere Sprache gemeinsam mit „native speakern“ erlernen. Bilinguale Programme schon in der Grundschule haben sich bewährt, sie sind attraktiver und effektiver als ein Englischunterricht ab der Klasse 1, der wenig mit der Lebenswelt der Kinder zu tun hat. 

      Man sollte auch nicht vergessen, dass die schulische Aufwertung der Migrantensprachen und damit auch deren Sprecherinnen und Sprecher eine wichtige politische Funktion hat. Sie ist eine wichtige Waffe gegen den in der Gesellschaft festzustellenden Rassismus. Aufklärung, Mahnmale oder Feste sind unerlässliche Beiträge in der Auseinandersetzung mit dem Rassismus. Dazu muss aber über Einzelereignisse hinaus eine strukturelle Veränderung des Alltags in den Institutionen kommen. Schulische Angebote zur Mehrsprachigkeit eignen sich dazu in besonderem Maße, weil sie für alle einen Gewinn darstellen. Die zusammenwachsende „Eine Welt“ erfordert Mehrsprachigkeit von allen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Die Bildungspolitik wäre gut beraten, die natürliche Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund nicht zu ignorieren, sondern als große Chance zu betrachten. Natürlich bedeutet das auch, dass Lehrerstellen für einen modernen Muttersprachlichen Unterricht zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Argument, der Muttersprachliche Unterricht sei überlebt, weil die Gründe für seine Einführung entfallen seien, nämlich die Vorbereitung der Migrantinnen und Migranten auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland, überzeugt nicht. Statt einer Abschaffung des Muttersprachlichen Unterrichts (so geschehen bis auf die Bundesländer NRW und Rheinland-Pfalz) steht seine Reform an, als ein wichtiger Beitrag für das vielfältige Sprachenlernen in einer mehrsprachigen Gesellschaft.

  7. Zu einer Zuwanderungsgesellschaft gehört auch ein längeres gemeinsames Lernen

    Auch die Ländernotiz PISA 2012 weist darauf hin, dass in Deutschland bereits die Zehnjährigen auf unterschiedliche Schultypen in der Sekundarstufe verteilt werden. 62% der Schülerinnen und Schüler in Deutschland besuchen selektive Schulen, im OECD-Durchschnitt sind es nur 43%. Mit dem Trend zum 2-Säulen-Modell der letzten Jahre geht gleichzeitig die Entwicklung einher, innerhalb der Schulen zu separieren:

    „Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die Schulen besuchen, die keine Einteilung in Leistungsgruppen vornehmen, ist in Deutschland zwischen 2003 und 2012 von 54% auf 32% zurückgegangen, und ein größerer Anteil der Schüler gab an, dass in ihrer Schule in einigen oder allen Unterrichtsstunden eine Einteilung der Schüler entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit erfolgt.“ (Ländernotiz, S. 9)

    Es ist schon oft begründet worden, dass ein mehrgliedriges Schulsystem nicht in eine demokratische Gesellschaft passt und zu wenig leistungsfähig ist. In einer mehrsprachigen Gesellschaft ergeben sich zusätzliche Argumente.

    • Die internationale Forschung und die alltägliche Praxis belegen, dass viele Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund 5 – 7 Jahre brauchen, bis sie einen Sprachstand in der deutschen Sprache (konzeptionelle Schriftlichkeit) erreichen, der dem der einsprachig Aufwachsenden entspricht. Das Ende der Primarstufe unterbricht oft wichtige Lernprozesse und führt zu Schulzuweisungen, die dem Leistungsvermögen der Kinder nicht angemessen sind.
    • Das mehrgliedrige Schulsystem ist zu teuer und unflexibel. Mehrsprachige Programme in der Primarstufe sind in ihren Möglichkeiten begrenzt, weil sie in der Sekundarstufe kaum fortgesetzt werden können und wichtige Lernprozesse allzu früh abbrechen. So zerstreuen sich die Kinder aus einer bilingualen Grundschulklasse auf viele weiterführende Schulen und machen eine Fortführung unmöglich.
    • Vor allem in den städtischen Ballungsgebieten hat sich die Hauptschule als Sackgasse erwiesen. Sie ist zu einem Ghetto von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund aus schwierigen familiären Bedingungen geworden. Hier sind regelrechte Parallelgesellschaften entstanden, die an anderer Stelle als Schreckgespenst an die Wand gemalt werden und unbedingt verhindert werden sollen. Die aktuelle Abstimmung mit den Füßen gegen die Hauptschule ist sinnvoll.

    Zu einer Zuwanderungsgesellschaft gehört auch ein längeres gemeinsames Lernen aller Kinder und Jugendlichen. Dass Schulen mit einer heterogenen Schülerschaft durchaus mit hohen Leistungen vereinbar sind, zeigt interessanterweise auch das Gymnasium. Über die Lesekompetenz heißt es: „Bei PISA 2000 erreichten die Schülerinnen und Schüler an Gymnasien einen Mittelwert von 582 Punkten; bei PISA 2009 lag der Kennwert bei 575 Punkten, und 2012 bei 579 Punkten. Die durchschnittliche Leseleistung an den Gymnasien ist damit seit PISA 2000 ziemlich genau auf dem gleichen Niveau geblieben. Allerdings hat sich die Bildungsbeteiligung seit PISA 2000 deutlich geändert, von 28.3 Prozent auf 33.5 Prozent (PISA 2009) und schließlich auf 36.0 Prozent (PISA 2012). Die (um knapp 8 Prozent) gestiegene Bildungsbeteiligung am Gymnasium hat zu keinem Niveauverlust geführt.“ (Langfassung der Studie, S. 241)

  8. Inklusion als Umgang mit Heterogenität

    In den letzten Jahren hat sich eine neue Aufmerksamkeit für benachteiligte Schülerinnen und
    Schüler entwickelt, auch unter den Lehrkräften. Der neuseeländische Pädagoge John Hattie hat in seinem Buch „Visible Learning“, das auch hierzulande eine große Resonanz erreichte, die Bedeutung dieser Aufmerksamkeit unterstrichen. Er sieht die Lehrkräfte nicht beschränkt auf die Rolle der Lernbegleiter, die auf die Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ihrer Schülerinnen und Schüler setzen und sie dabei vielleicht auch alleine lassen. Er plädiert für eine Schule, die jedes Kind so akzeptiert, wie es ist, und für es die Verantwortung übernimmt, ohne Abschieben und Ausgrenzen.

    Damit diese Aufmerksamkeit aber ausgebaut werden kann, ist statt isolierter Einzelmaßnahmen, die im Zweifelsfall wenig miteinander zu tun haben, ein Gesamtkonzept notwendig. Der Landesintegrationsrat NRW hat dafür den Begriff „interkulturelle Schule“ in die Diskussion gebracht. Insbesondere steht ein didaktisches Konzept für das sprachliche Lernen unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit an. Ohne ein solches Konzept bleiben Leseförderung, Stellenvergabe oder unterstützende Maßnahmen aus den Kommunen in ihrer Wirksamkeit begrenzt. Die aktuelle Politik der Landesregierung ist dabei insofern wenig hilfreich, als mit ihrem einseitigen, auf Defiziten orientierten Ansatz von Inklusion die Arbeit an der Integration nur noch als Einladungspolitik verstanden wird und dadurch in den Hintergrund gerät. Die Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund werden sich aber langfristig nur verbessern lassen, wenn Inklusion als Umgehen mit Heterogenität insgesamt verstanden wird und alle Kinder und Jugendlichen mit einbezieht.

 


[«*] Thomas Jaitner ist seit vielen Jahren Bildungsreferent des Landesintegrationsrates und hat bis zur Pensionierung im Sommer 2013 an der Bezirksregierung Köln als Fachberater für Migration in der Schulabteilung gearbeitet.


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