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Titel: Wie hoch ist die Belastung der Sozialversicherungen durch die deutsche Einheit?

Datum: 26. Februar 2007 um 16:58 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Sozialstaat, Steuern und Abgaben, Wichtige Wirtschaftsdaten
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Die deutsche Einheit sei zu einem viel zu hohen Anteil durch die deutschen Sozialkassen finanziert – das habe die Sozialbeiträge und die gesetzlichen Lohnnebenkosten hoch getrieben, und damit über zu hohe Arbeitskosten auch die Arbeitslosenquote in Deutschland. Karl Mai ist dieser weit verbreiteten Behauptung an Hand einschlägiger Daten nachgegangen. Mai zeigt, dass bei den Sozialleistungen pro Kopf unser Land im EU-15-Vergleich an siebter und bei der BIP-Quote der Sozialschutzleistungen an vierter Stelle liegt. Von 1975 bis 2005 habe sich die deutsche Sozialleistungsquote von anfänglich 30,7% auf letztlich 31,0% am BIP kaum erhöht. Zwischen 1975 und 2005 sei die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland auf die Anfangshöhe von 1975 (ca. 35% am BIP) zurückgekehrt. Mais statistisch gestützten Aussagen bedeuten im Kern, dass der Mythos von der permanenten Überforderung der Sozialleistungen durch die deutsche Vereinigung zu beerdigen ist. Der deutsche Sozialstaat ist zwar durch die sozialen Transfers West-Ost nachweisbar belastet worden, aber erst zuletzt ansteigend bis 1,3% des BIP (2003).

„Die deutsche Einheit wurde zu einem viel zu hohen Anteil durch die deutschen Sozialkassen finanziert – das trieb die Sozialbeiträge und die gesetzlichen Lohnnebenkosten hoch, und damit über zu hohe Arbeitskosten auch die Arbeitslosenquote in Deutschland“, lautet das jahrelange Credo der Neoliberalen.
Kern der Aussage bilden „zu hohe Sozialkosten“ und ihre Finanzierung durch zu hohe Sozialbeiträge sowie die gesetzlichen Lohnnebenkosten, so dass es geboten erscheint, die zugehörigen Daten zu rekapitulieren und kritisch zu bewerten.

Anstoß dazu gibt auch das neue Buch „Der Preis der deutschen Einheit“ von Gerhard A. Ritter, das den Einfluss der Wiedervereinigung auf die Krise des Sozialstaates wie folgt hervorhebt: „Die niedrige Beschäftigung war wesentlich mit verursacht durch die hohen Sozialversicherungsbeiträge und die relativ großzügigen sozialen Transferleistungen… Diese Teufelsspirale zwischen hohen Sozialabgaben und abnehmender Beschäftigung hängt mit der im internationalen Vergleich besonders engen Bindung des deutschen Systems der sozialen Sicherung an die Erwerbstätigkeit zusammen.“[1] Von seiner Klischee-Argumentation abgesehen, reicht Ritter jedoch in seinen Datenangaben zumeist nicht über die Mitte der 90er Jahre hinaus.

1. Wie hoch sind die Sozialleistungsquote und der Anteil der Sozialabgaben am BIP?

Der kürzlich neu herausgebrachte „Sozial-Kompass Europa“ gibt die Höhe der Sozialleistungen je Einwohner für Deutschland für 2003 mit 7.911 Euro an, dagegen für die EU-15 nur mit durchschnittlich 6.925 Euro. Innerhalb der EU liegt damit Deutschland an siebenter Stelle nach Luxemburg, Dänemark, Schweden, Niederlanden Österreich und nach Frankreich. Über 7.000 Euro je Einwohner erreichen ebenfalls noch Belgien, Großbritannien und Finnland. Dies deutet bereits auf keine überzogenen oder unüblichen Sozialleistungen je Einwohner in Deutschland hin.

Die BIP-Quote der Sozialschutzleistungen beträgt für Deutschland (2003) 30,2% und liegt damit an vierter Stelle in der EU nach Schweden, Dänemark und Frankreich.[2] Die BIP-Quote für die Altersrenten beträgt für Deutschland (2003) 12,0%.[3] Der Anteil der Sozialleistungen für das Alter (und Hinterbliebene) liegt in Deutschland bei 42,9% aller Sozialleistungen und damit noch niedriger als in Österreich, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien.[4] Auch dies deutet darauf hin, dass Deutschland derzeit keine volkswirtschaftlich extrem hohen Soziallasten innerhalb der EU-Länder zu tragen hat.

Innerhalb des 30-jährigen Zeitraums von 1975 bis 2005 hat sich die deutsche Sozialleistungsquote nur von anfänglich 30,7% auf letztlich 31,0% am BIP verändert, mit geringfügigen Schwankungen dazwischen.[5] Selbst in den ersten Jahren der deutschen Vereinigung, zwischen 1991 und 1995, lag die deutsche Sozialleistungsquote durchschnittlich nicht über dem Stand von 1981 bis 1985 in der alten BRD.

Daher wäre es abwegig, der deutschen Vereinigung einen starken Effekt hinsichtlich des Anstiegs der gesamten Sozialleistungsquote nachzusagen. Das BIP-Wachstum hat hierbei einen absoluten Anstieg der sozialen Leistungen einschließlich der Transfers jedenfalls relativiert und statistisch kompensiert.

Der deutsche Anteil der Sozialabgaben am BIP wird vom BMF[6] wie folgt angegeben:

Tabelle 1: Steuern und Sozialabgaben 2005 in (% vom BIP)

Land Steuern und Sozialabgaben Steuern Sozialabgaben
Deutschland 34,7 20,8 13,9
Belgien 45,4 31,5 13,9
Dänemark 49,7 48,6 1,1
Finnland 44,5 32,4 12,1
Frankreich 44,3 28,0 16,3
Italien 41,0 28,4 12,6
Norwegen 45,0 36,0 9,0
Österreich 41,9 27,5 14,4
Schweden 51,1 36,8 14,3

Hiernach liegt Deutschland 2005 bei Sozialabgaben nur an vierter Stelle nach solchen entwickelten Ländern wie Frankreich, Österreich und Schweden. Deutschland zeigt – entgegen manchen Suggestionen – keine außerordentlich hohe Belastung mit Sozialabgaben am BIP, dafür aber eine extrem niedrige Belastung mit Steuern. Der deutschen Sozialpolitik bliebe also vergleichsweise die reale Möglichkeit, durch international angleichend höhere Steuerfinanzierung sogar die Sozialabgaben noch relativ abzusenken.

Im Zeitablauf der letzten 30 Jahre zwischen 1975 und 2005 ist die Steuer- und Abgabenquote in Deutschland auf die Anfangshöhe von 1975 (ca. 35% am BIP) zurückgekehrt, während sie in Frankreich und Italien in dieser Zeit um ca. 15%-Punkte angestiegen ist.[7] Selbst im Zeitraum seit der Vereinigung (1990 bis 2005) stieg die Steuer- und Abgabenquote in wichtigen EU- Ländern (Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, Österreich) deutlich an, mit Ausnahme von Deutschland, wo sie bereits seit 2000 rückläufig war.[8]
Der deutsche Sozialstaat hat also in den letzten 30 Jahren keine „Entfesselung“ erfahren und bedarf daher bei weiterem BIP-Wachstum und konstanter Steuerquote auch aus volkswirtschaftlicher Gesamtsicht keiner tiefen fiskalischen Einschnitte. Der Druck auf eine Senkung der Sozialleistungen erfolgt vielmehr vorgeblich im Interesse der Senkung von gesetzlichen Lohnnebenkosten im direkten Kapitalinteresse. Dahinter verbirgt sich das Streben nach einer Erhöhung der Gewinnquote am Volkseinkommen, die bereits eine einmalige Höhe von 37% in der jüngeren Geschichte Deutschlands erreicht hat und damit
ca. 2% über dem Durchschnitt der EU-12 liegt.[9]

2. Wie hoch ist der West-Ost-Transfer der Sozialkassen nach der Vereinigung?

Für die neuen Bundesländer gibt es allerdings nach der folgenschweren Strukturkrise der Vereinigungsökonomie eine unterschiedliche Lage gegenüber Westdeutschland. In den NBL betrug die Sozialleistungsquote 1991 immerhin 47,8% des ostdeutschen BIP und noch für 2003p erreicht sie 48,5% des BIP, worin sich permanent eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und hohe Sozialtransfers spiegeln.[10] Die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung trugen ab 1991 einen Hauptanteil der sozialen Transferleistungen West-Ost im Rahmen der Sozialversicherungskassen.
Gleichzeitig wurden aus Bundeszuschüssen (aus Steuern) fast ebenso hohe Beträge zusätzlich für soziale Versicherungsausgaben transferiert.

Tabelle 2: Transferleistungen der SV-Kassen und Bundeszuschüsse

(in Mrd. DM) 1991 1993 1995 1997 1999
SV-Träger 18,7 23,0 33,3 34,7 36,0
Bundeszuschüsse 15,4 35,4 32,4 27,8 34,5
Insgesamt 34,1 58,4 65,7 62,5 70,5

Quelle: U. Busch, „Am Tropf“, S. 196 (Auszug)

Die Bundesregierung ist nach aktuellen Verlautbarungen gegenüber dem Bundestag nicht in der Lage, diese Angaben für die Jahre nach 1998 statistisch fortzuschreiben. Sie gibt als letzte verfügbare Daten für 1998 lediglich an: Transfers der Rentenversicherung in Höhe von 18 Mrd. DM und der Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 28 Mrd. DM,[11] insgesamt also 23,5 Mrd. Euro.

Demgegenüber führte das BMAS bereits im „Sozialbericht 2005“[12] folgendes an:

Tabelle 3: West-Ost-Transfers der Sozialversicherungen (Mrd. Euro)

1991 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003
12,6 20,4 23,0 22,8 23,4 23,1 25,8 27,4 28,4 28,6

Die durchschnittliche Höhe der West-Ost-Sozialtransfers erreichte zwischen 2000 und 2003 jährlich 27,6 Mrd. Euro.
Für 2003p sind 28,6 Mrd. Euro (oder 56,0 Mrd. DM) als West-Ost-Transfer für Sozialleistungen geflossen sind, was rechnerisch 3,14% aller deutschen Bruttolöhne[13] oder 6,72% aller deutschen Sozialbeiträge (einschl. Arbeitgeberbeiträge) im gleichen Jahr entspricht.
Im Jahre 1995, nach Abschluss der THA-Ära in der Transformationsperiode, betrug dieser Anteil erst 5,55% an den gesamten Sozialbeiträgen und lag demnach sogar niedriger als für 2003 nachgewiesen.

Die West-Ost-Transfers für Sozialleistungen in Höhe von zuletzt ausgewiesenen 28,6 Mrd. Euro erreichten 1,32% des BIP von 2003. Zuvor lagen diese BIP-Anteile noch darunter, und zwar 1995 1,1% und 2000 1,25%. Daraus lässt sich keine exorbitante Belastung der deutschen Endverwendung des BIP infolge dieser Sozialtransfers erkennen.

Für ganz Deutschland erreichte 2003 der Anteil des Staates an den gesamten Sozialleistungen 34,6% und lag damit im Mittelfeld der EU-25. Ein beachtlicher Staatsanteil an den Ausgaben der Sozialkassen diente auch zur Finanzierung der versicherungsfremden Leistungen“.
Der Anteil der Arbeitgeber an den gesamten Sozialleistungen betrug in Deutschland 36,3% und belegte damit den niedrigen Platz 16 innerhalb der EU-25.
Der Arbeitnehmeranteil betrug hingegen nur 27,5%, lag aber damit an dritthöchster Stelle in der EU-25. Dies ist die Folge der sehr niedrigen relativen Anteile von Arbeitgebern und Staat an der Finanzierung aller Sozialleistungen in Deutschland.[14]
Auch der Anstieg der SV-Beitragssätze am Bruttoverdienst für Arbeitnehmer in Westdeutschland zwischen 1990 und 2004 verlief mit 2,2 % moderat, wenn man den Beitragssatz für die nachträglich eingeführte Pflegeversicherung (1998) von 0,85 % ausklammert. Allein der Anstieg der Beiträge für die SV-Rentenversicherung betrug für die Arbeitnehmer nach der Vereinigung zwischen 1990 und 2004 nur 0,4 % vom Bruttolohn.

3. Wie hoch ist die Belastung der Arbeitskosten durch die Sozialtransfers West-Ost?

Die absoluten Arbeitskosten in Deutschland je Arbeitsstunde stiegen zwischen 1996 und 2004 in Deutschland geringer an als im Durchschnitt der EU-15.[15] Sie stiegen auch langsamer als in Großbritannien, den Niederlanden und Frankreich. Innerhalb der Arbeitskosten stehen die „Lohnnebenkosten“ für diverse „soziale Zuschläge“ auf die Bruttolöhne. Innerhalb der Lohnnebenkosten wird zwischen den gesetzlichen Arbeitgeberbeiträgen (als Hauptbestandteil) sowie den tariflichen und den sonstigen Lohnnebenkosten der Unternehmen unterschieden.

Für die relative und absolute Höhe der Lohnnebenkosten liegen neueste Angaben von Destatis vor.[16] Hieraus zitiert:
„Deutsche Arbeitgeber des Produzierenden Gewerbes und der marktbestimmten Dienstleistungsbereiche – kurz der Privatwirtschaft – zahlten auf 100 Euro Bruttolohn und -gehalt zusätzlich gut 33 Euro Lohnnebenkosten. Das waren rund 3 Euro weniger als im Durchschnitt der Europäischen Union (36 Euro)…
Pro 100 Euro Bruttolohn und -gehalt zahlten im Jahr 2004 schwedische Arbeitgeber mit zusätzlich über 51 Euro die höchsten Lohnnebenkosten, gefolgt von Frankreich mit über 50 Euro.“ Danach folgten Belgien (46,3), Italien (46,1) Griechenland (40,4) und Spanien (36,3).
„Während ein Arbeitgeber in Deutschland 28,17 Euro für eine geleistete Arbeitsstunde zahlte, betrug der Durchschnittswert für die Europäische Union 20,66 Euro. Deutschland lag damit hinter Dänemark (31,98 Euro), Schweden (31,15 Euro), Belgien (30,36 Euro), Luxemburg (30,09 Euro) und Frankreich (28,85 Euro) auf Rang sechs in der Europäischen Union.“
Danach befindet sich Deutschland bei den Lohnnebenkosten – entgegen der lange üblichen neoliberalen Suggestion – keineswegs an der Spitze der EU-Staaten.
Zur inneren Struktur der deutschen Lohnnebenkosten von 33 Euro pro Hundert Euro Bruttolohn wird von Destatis[17] angegeben:
„Davon entfielen 20 Euro auf die Arbeitgeberpflichtbeiträge zur Sozialversicherung, 6 Euro auf die betriebliche Altersversorgung, knapp 3 Euro auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und im Mutterschutz, rund 2 Euro auf Kosten des Personalabbaus sowie fast 3 Euro auf sonstige Lohnnebenkosten.“
Innerhalb der gesetzlichen Arbeitgeberpflichtbeiträge belegt Deutschland mit 20% Höhe am Bruttolohn oder 60,6% aller Lohnnebenkosten ebenfalls keinen Spitzenplatz, sondern nur den niedrigen 17. Platz in der EU-27.[18]

Im Vergleich zu den in Deutschland 2003 gezahlten gesamten Sozialbeiträgen in Höhe von 395 Mrd. Euro entfielen statistisch „nur“ 28,6 Mrd. Euro auf soziale West-Ost-Transfers im Rahmen der Sozialversicherungen, d.h. 7,24%. Bezogen auf die gesamten Sozialbeiträge der Arbeitgeber in Höhe von 222 Mrd. Euro (lt. VGR) entfielen anteilig nur 10,3 Mrd. Euro auf die sozialen West-Ost-Transfers insgesamt für 2003. Von diesen 10,3 Mrd. Euro bilden lediglich etwa 60,6% oder 6,24 Mrd. Euro die eigentlichen Arbeitgeberpflichtbeiträge. Beachtet man den o. g. niedrigen Stand der gesetzlichen Lohnnebenkosten in Deutschland von nur 20% der Bruttolöhne so wird vollends erkennbar, dass die sozialen Transfers West-
Ost mit ihrem speziellen Arbeitgeberpflichtanteil von ca. 6,24 Mrd. Euro keine Gefährdung der deutschen Wettbewerbs- und Wachstumspotenziale darstellen können.
An dieser Stelle ist generell zu den deutschen Arbeitskosten klarzustellen: „Ein Vergleich der absoluten Arbeitskosten ist für die Beurteilung des ‚Standortes Deutschland’ und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ungeeignet und irreführend“ distanziert sich das Bundesfinanzministerium offiziell von der neoliberalen Arbeitskosten-Demagogie.[19]
Arbeitskosten berücksichtigen nicht den Stand der nationalen Arbeitsproduktivitäten und sind daher erst im relativierten Ausdruck von „Lohnstückkosten“ (gleichsam also exakt „produktivitätsbereinigt“) international vergleichbar.

Folglich sind die gesamten Arbeitskosten selbst – im Rahmen der deutschen Lohnstückkostenentwicklung – entgegen dem öffentlichen Geschrei der Unternehmerlobby nicht kritisch zu bewerten. Zwischen 2000 und 2005 haben sich die deutschen Lohnstückkosten nominell nur um 1,6% erhöht, während vergleichsweise in der gesamten Euro-Zone der Anstieg 8,9% betrug. In Spanien, Frankreich, Großbritannien und Italien erreichte der Anstieg der Lohnstückkosten nominell 10% und mehr.[20]

Speziell in Ostdeutschland haben sich die Lohnstückkosten (Westdeutschland = 100) in den letzten 10 Jahren kontinuierlich abwärts entwickelt und erreichten 2005 im Produzierenden Gewerbe bereits -12,3% und im Verarbeitenden Gewerbe -8,7% im Vergleich zu Westdeutschland und damit eine wettbewerbsmäßig Anreiz bildende Position der Ostregion in Gesamtdeutschland.[21] Wären die Lohnstückkosten Ost der vorrangige Regulator für Investitionen, müssten inzwischen die privaten Investitionen vorrangig nach Ostdeutschland fliessen.

Daraus wird ebenfalls klar erkennbar, wie gering die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands derzeit durch die nominellen Lohnstückkosten beeinträchtigt wird. Die Denunziation der sozialen West- Ost-Transfers letztlich auch in diesem Zusammenhang stellt im Kern eine üble Tatsachenfälschung dar, die u. a. auch einer Verketzerung der sozialen Transfers West-Ost dient.

Je weniger die neoliberale Wirtschaftspolitik den Angleichungsrückstand Ost zu West aufholen kann, umso beflissener bedient sie sich dieses falschen Arguments – wie vorstehend anhand von Daten nachgewiesen. Dies geschieht nicht zuletzt unter dem Aspekt, die westdeutschen Zahler von SV-Beiträgen politisch gegen die sozialen West-Ost-Transfers zu mobilisieren, um die Kapitalinteressen in ganz Deutschland weiter zu treiben.

4. Für ein Ende des Mythos von der Überforderung der Sozialleistungen durch die deutsche Einheit

Die vorstehenden statistisch gestützten Aussagen bedeuten im Kern, dass der Mythos von der permanenten Überforderung der Sozialleistungen durch die deutsche Vereinigung zu beerdigen ist. Der deutsche Sozialstaat ist zwar durch die sozialen Transfers West-Ost nachweisbar belastet worden, aber erst zuletzt ansteigend bis 1,3% des BIP (2003). Ebenso stiegen die SV-Beitragssätze der westdeutschen Arbeitnehmer seit 1990 moderat, darunter mit 0,4 %-Punkten bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Die deutsche Wirtschaft aber realisierte eine überdurchschnittliche Gewinnquote im EU-Vergleich.

Der Transfer von Sozialleistungen hatte bis jetzt zu keinem rabiaten Anstieg der Sozialquote in Deutschland, zu keiner extremen Höhe von Leistungsanteilen des Staates und der Arbeitgeber im EU-Vergleich geführt, während gleichzeitig die deutsche Steuerquote deutlich seit 1990 gesunken ist und in der EU-15 auf den niedrigsten Stand gelangte. Bei stärkerem Einsatz von Steuerpotenzialen zur Finanzierung z. B. auch von „versicherungsfremden“ Sozialleistungen wäre selbst ein Anstieg der arbeitsnehmerseitigen SV-Beiträge vermeidbar gewesen.


[«1] Gerhard A. Ritter, „Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates“, C. H. Beck 2006, S. 133

[«2] BMAS, „Sozial-Kompass Europa“, Stand 2006, S. 14/15/16

[«3] BMGS, „Sozialbericht 2005“, S. 196

[«4] BMAS, „Sozial-Kompass Europa“, 2006, S. 14/15

[«5] BMAS, „Sozialbudget 2005. Tabellenauszug“, S. 4

[«6] BMF, Monatsbericht Nr. 1/2007, S. 103/104

[«7] BMF, Monatsbericht 1/2007, S. 50 (Grafik)

[«8] BMF, Monatsbericht 1/2007, S. 104

[«9] EU-Kommission, Statistischer Anhang 2005 zum ECFIN/REP/50886/2005 – DE, S. 98 Tabelle 32 sowie WSI-Mitteilungen 11/2006, S. 583, Tabelle 1

[«10] BMGS, „Sozialbericht 2005“ S. 193

[«11] Bundesdrucksache 16/4304, S. 9

[«12] BMGS, „Sozialbericht 2005“, S. 202

[«13] BMGS, „Sozialbericht 2005“, S. 205

[«14] BMAS, „Sozial-Kompass Europa“ Stand 2006, S. 13

[«15] BMF, Monatsbericht November 2006, S. 68, Tabelle

[«16] Destatis, Pressemitteilung vom 9.2.2007, S. 1

[«17] Destatis, Pressemeldung vom 31.8.2006, S. 1

[«18] Destatis, Schaubild zu den Lohnnebenkosten in der EU-27, Februar 2007

[«19] BMF, Monatsbericht November 2006, S. 69

[«20] Quelle: Ameco-Datenbank, Zitiert nach www.memo.uni-bremen.de/docs/m-0607

[«21] Bundesregierung, „Jahresbericht 2006 zum Stand der deutschen Einheit“, S. 156


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