NachDenkSeiten – Die kritische Website

Titel: Manipulations-Mechanismen in den transatlantischen Beziehungen

Datum: 22. September 2014 um 9:28 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Überwachung, Globalisierung, Manipulation des Monats
Verantwortlich:

Nach Irreführung der Öffentlichkeit durch Bundesregierung und Leitmedien seit über einem Jahr in der NSA/BND-Ausspähaffäre droht auch bei den im Geheimen laufenden transatlantischen Verhandlungen über ein Handelsabkommen (TTIP) eine Wiederholung von Desinformation und Verschleierung. Die ZEIT warnt bereits vor einer „Wahnsinnstat“, die Süddeutsche Zeitung vor einem „heimlichen Staatsstreich“.
Die Instrumentarien wiederholen sich. Insofern kann für eine kritische Gegenöffentlichkeit die folgende systematische Aufarbeitung der Kampagnen während der Ausspähaffäre auch bei der nächsten transatlantischen Auseinandersetzung nützlich sein. Die folgende kommentierte Dokumentation enthält viele nützliche Zitate. Sie wurde von Peter Munkelt verfasst. Er war Leiter des Politischen Archivs der SPD. Albrecht Müller.

Peter Munkelt

Dominanz statt Partnerschaft:
Deutschlands transatlantische Beziehungen unter Geheimdienst-Kontrolle

Kommentierte Dokumentation

Begrenzte Souveränität?

„Die transatlantische Partnerschaft ist neben der europäischen Integration der wichtigste Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Die USA sind Deutschlands engster Verbündeter außerhalb Europas.“ So postuliert das Auswärtige Amt in Berlin den „Grundpfeiler deutscher Außenpolitik“. Seit den Enthüllungen des amerikanischen Whistleblowers und ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden ab Juni 2013 aus den innersten Geheimfächern der USA (und Großbritanniens) muss daran gezweifelt werden, ob es sich wirklich um ein partnerschaftliches Verhältnis handelt. So ist vom Außenministerium als Aktualisierung nachgetragen worden: „Die sogenannte ‚NSA-Affäre‘ hat zu einem Vertrauensverlust vieler Deutscher in die Partnerschaft mit den USA geführt.“ (Website des Auswärtigen Amtes, angegebener Stand: 9.2.2013)

Inzwischen bezweifeln manche sogar, dass Deutschland mit der Vereinigung beider deutscher Staaten tatsächlich volle Souveränität erreicht hat. Letzte verbliebene Vorbehaltsrechte der Alliierten seien am 3. Oktober 1990 beendet worden, so die offizielle Version und allgemeine Annahme. Spekuliert wird jetzt über restliche Restriktionen: „Eingeschränkte Souveränität war Preis für die Wiedervereinigung, Die Alliierten haben der deutschen Wiedervereinigung nur zugestimmt, weil sich Deutschland verpflichtete, bestimmte Rechte seiner Souveränität nicht wahrzunehmen. Daher konnten die Geheimdienste der USA und Großbritanniens in Deutschland ungehindert und legal weiterspionieren.“ So z. B. der Geheimdienst-Experte und Buchautor Erich Schmidt-Eenboom. (Gegenüber den Deutschen Wirtschafts Nachrichten, 10.7.2013)

Historiker bestätigen nach Sichtung interner Akten: Seit Kriegsende habe sich an der ungleichen Partnerschaft kaum etwas verändert: „‘Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung‘, hieß es in einer Direktive der amerikanischen Militärs vom Oktober 1945, ‚sondern als besiegter Feindstaat.‘ Zumindest für die amerikanischen Geheimdienste hat sich daran offenbar in den vergangenen knapp sieben Jahrzehnten wenig geändert.“ (Gregor Schöllgen: Besetzt, beschützt, bevormundet, Für die deutsch-amerikanische Freundschaft hat der Kalte Krieg nie aufgehört, Süddeutsche Zeitung, 29.7.2014; Schöllgen ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Erlangen und Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes.)

Konkret ergaben Recherchen „in den Geheimarchiven der Regierung“: Die „geheimdienstlichen Rechte der drei Westmächte waren aber längst im Zusatztruppenvertrag zum Nato-Truppenstatut von 1959 dauerhaft gesichert. Die gelten bis heute.“ (Josef Foschepoth: „Die USA dürfen Merkel überwachen“, Die NSA hat deutsche Politiker schon immer ganz legal observiert, Interview mit Zeit Online, aktualisiert am 25.10.2013; Foschepoth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg.)

Zwölf Jahre nach der deutschen Vereinigung wurde wenigstens zugestanden: „Die NSA hatte im April 2002 in einem sogenannten Memorandum of Agreement schriftlich versichert, sich ‚an die deutschen Gesetze und Bestimmungen zu halten, die die Durchführung von Fernmelde- und elektronischer Aufklärung und Bearbeitung regeln‘.“ (Hans Leyendecker, Georg Mascolo: USA-Geheimdienst NSA täuschte die Bundesregierung, Süddeutsche.de, 25.1.2014)

Nicht allein die Souveränität Deutschlands wird angezweifelt. Bei Überlegungen, Snowden als Zeugen vor den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zu laden, gab es Einwände, die auch die Souveränität weiterer EU- und NATO-Partner betreffen: „In SPD-Kreisen wird das Szenario diskutiert, die USA könnten mit Kampfjets eine Snowden-Maschine, die auf dem Weg nach Deutschland sei, etwa über dem Gebiet Polens zur Landung zwingen.“ (Süddeutsche Zeitung, 17.4.2014)

Über die bilateralen Beziehungen hinaus sind selbst konstitutionell verankerte Grundrechte betroffen. Was ist die deutsche Verfassung noch wert? „Das Grundgesetz, auf das so viele Deutsche so stolz sind, ist nämlich in der Mitte hohl; der US-Geheimdienst NSA hat es ausgehöhlt. (…) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es im Grundgesetz – die US-Gewalt in und aus Deutschland ganz offensichtlich nicht; sie ist auch nicht an Recht, Gesetz und Verfassung gebunden.“ (Heribert Prantl: Das hohle Grundgesetz, Süddeutsche Zeitung, 4.4.2014)

Die Mitglieder der Bundesregierung sind auf das Grundgesetz vereidigt. Neuerdings beruft sich die Regierung aber auf das „Staatswohl“, um die Vernehmung Snowdens in Deutschland zu verhindern, gestützt auf die Argumentation von US-Anwälten, wonach auch „die Mitglieder des Untersuchungsausschusses in den USA strafrechtlich verfolgt werden“ können.
(Bericht der Bundesregierung zur Ausschussdrucksache 58 des 1. Untersuchungsausschusses der 18. Wahlperiode, VS – Nur für den Dienstgebrauch, 2. Mai 2014, S. 25; veröffentlicht von Netzpolitik, 5.5.2014)

Eine groteske Verdrehung, denn: „Danach gebietet das Staatswohl, die Totalausspähung der Bundesbürger durch den US-Geheimdienst NSA keinesfalls zu behindern, auf jegliche Aufklärung der Ausspähung zu verzichten und den Schutz betroffener Grundrechte der Bundesbürger aufzugeben, entsprechend verbietet das Staatswohl, den US-amerikanischen Freunden diesbezüglich weiterhin die Freundschaft störende Fragen zu stellen.“ (Christian Bommarius: Bundesregierung verdreht das „Staatswohl“, Berliner Zeitung, 2.5.2014)

Wenn Grundrechte missachtet werden, kann der Appell, wenigstens „die Ehre“ Deutschlands zu wahren, nur hilflos wirken: „Es ist eine Frage der Ehre für eine Demokratie, das souveräne Land nicht von der Westentasche bis zum Regierungsgeheimnis von einem fremden Staat durchleuchten zu lassen.“ (Rüdiger Scheidges: Eine Frage der Ehre, Handelsblatt, 21.3.2014)
In den Medien wird gespottet: über „die beleidigten Deutschen“ (Welt am Sonntag, 19.1.2014); „Die Kolonie jammert“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.1.2014); „Transatlantische Untertanen, Im Fall Snowden wandelt sich die Bundesregierung zur politischen Marionette Amerikas“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.5.2014).

Die Bundesregierung „beendet“ die NSA-Abhöraffäre schon nach zehn Wochen

Als nach und nach enthüllt wurde, wie umfassend und detailliert der amerikanische Geheimdienst National Security Agency (NSA) weltweit Kommunikationsdaten aus Telefongesprächen, Internetbesuchen, E-Mails einsammelt und auswertet, stand Deutschland im Wahlkampf zur Bundestagswahl am 22. September 2013 sowie zu Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Abwechslung in die kaum mobilisierende Kampagne brachten fast ausschließlich unterhaltsame Einlagen des Spitzenkandidaten der größten Oppositionspartei SPD, Peer Steinbrück. Deutsche Medien hatten ihren Spaß, die Wähler sicherlich andere Sorgen. In diese kuriose Kurzweil eines unfreiwilligen Alleinunterhalters mit immenser Presseresonanz platzten dann Snowdens Präsentationen geheimer Dokumente. Hoffnung kam auf im desaströsen Wahlkampf der SPD: Könnte dieses unerwartete Ereignis nicht die Wende bringen, wie im Bundestagswahlkampf 2002 der Konflikt zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und der amerikanischen Administration über den Irak-Krieg. Dank Snowden weiß man, auch Schröder wurde seitdem abgehört. (Süddeutsche Zeitung, 5.2.2014) „Die NSA-Affäre kam für die SPD wie vom Himmel gesandt: Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück schien endlich einen Hebel zu haben, Merkel, die Unangreifbare, ins Wanken zu bringen.“ (Deutsche Presse Agentur, 25.7.2013; hierzu: Lenz Jacobsen: Mischt Snowden den Wahlkampf auf?, Zeit Online, 3.7.2013; Martina Fietz: Spähaffäre im Wahlkampf 2013, Fünf Gründe, warum Snowden für Merkel zum Katastrophenfall werden könnte, Focus Online, 19.7.2013)

Doch dieser Versuch lief ins Leere. (Robert Leicht: Warum das Thema NSA im SPD-Wahlkampf floppt, Zeit Online, 19.8.2013) Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP unter Kanzlerin Merkel wiegelte ab. „Das Internet ist für uns alle Neuland“, tröstete Merkel sich und Barack Obama auf einer gemeinsamen Pressekonferenz am 19. Juni 2013 bei dessen Arbeitsbesuch in Berlin. „Die Kanzlerin und ihre Partei lassen den Späh-Skandal einfach an sich abperlen.“ (Deutsche Presse Agentur, 25.7.2013)

Knapp zwei Monate später erklärte das Kanzleramt die Affäre dann für beendet, so Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU). (handelsblatt.com, 12.8.2013; Zeit Online, 12.8.2013) Der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrichs (CSU) schloss sich an: „Alle Verdächtigungen, die erhoben wurden, sind ausgeräumt. Fest steht: Es gab keine ‚massenhaften Grundrechtsverletzungen‘ amerikanischer Geheimdienste auf deutschem Boden, wie behauptet wurde.“ (Interview, Rheinische Post online, Mitteilung des Bundesministeriums des Innern, 16.8.2013)

Die deutsche Regierung kündigte an, bald ein „No-Spy-Abkommen“ zum bilateralen Verzicht auf Spionage mit den USA abzuschließen. Erst nach der Bundestagswahl und nach Bildung der Regierung der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD wurde klar, dass die USA über ein solches Abkommen nicht verhandeln werden. „‘Das No-Spy-Abkommen mit den USA ist auf gutem Weg‘, sagte der damalige Kanzleramtsminister Pofalla noch im November. Das war falsch (…) so falsch wie Pofallas Beteuerung vom August, der Vorwurf der ‚Totalausspähung‘ sei ‚vom Tisch‘. Nichts ist vom Tisch: Dort liegt vielmehr die Frage, ob die schwarz-gelbe Regierung womöglich im Wahlkampf 2013 das Volk über den Ernst der Abhörlage getäuscht hat.“ (Heribert Prantl: Der Ernst der Abhörlage, Süddeutsche Zeitung, 14.1.2014)

Die Bundesregierung wird vom NSA-Skandal wieder eingeholt

Ende Oktober 2013 wurde bekannt, dass die NSA sogar das Handy der Bundeskanzlerin observiert hat. Merkels Reaktion: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht.“ (Spiegel Online, 24.10.2013)
Erst zwei Monate nach der Bundestagswahl, erst im November 2013, wurde die Kanzlerin endlich deutlich: “Das transatlantische Verhältnis und damit auch die Verhandlungen über ein transatlantisches Freihandelsabkommen werden gegenwärtig ganz ohne Zweifel durch die im Raum stehenden Vorwürfe gegen die USA um millionenfache Erfassung von Daten auf eine Probe gestellt. Die Vorwürfe sind gravierend; sie müssen aufgeklärt werden.” (Im Bundestag, Stenografischer Bericht, 18.11.2013, S. 24)
Im Januar verschärfte sie ihren Ton: „Vertrauen ist die Grundlage für Frieden und Freundschaft zwischen den Völkern (…) erst recht die Grundlage für die Zusammenarbeit verbündeter Staaten. Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch gemacht wird, verletzt Vertrauen, sät Misstrauen. Am Ende gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit.“ (Im Bundestag, Stenografischer Bericht, 29.1.2014, S. 569/570)
Der US-Geheimdienst behandelte Merkel also nicht privilegierter als die Bundesbürger sonst: „Entlarvend ist nur, dass Merkel erst jetzt, wo sie selber mutmaßlich betroffen ist, energisch reagiert und sich bei US-Präsident Barack Obama beschwert. Das wäre schon ihre Pflicht gewesen, als es um die millionenfachen Eingriffe der NSA in die Privatsphäre deutscher Bürger ging. Denn deren Grundrechte sind genauso viel wert wie die der Kanzlerin.“ (Ludwig Greven: Merkels Empörung kommt zu spät, Zeit Online, 24.10.2013) Inzwischen hat der amerikanische Präsident zugesagt, dass wenigstens die Kanzlerin künftig nicht weiter belauscht wird.

Der Koordinator für transatlantische Beziehungen der Bundesregierung, Philipp Mißfelder (CDU) bilanzierte zum Amtsantritt: „Durch die NSA-Spähaffäre (…) seien die beiderseitigen Beziehungen derzeit aber an einem Tiefpunkt angelangt. Das Vertrauen der Deutschen in die USA sei geringer als zu Beginn des Irak-Kriegs im Jahr 2003. Die Debatte um die NSA ‚beschäftigt die Menschen länger und intensiver als die Invasion im Irak‘ (…) Sein Eindruck: Die USA begegneten Deutschland offenbar mit ‚größtmöglichem Misstrauen‘, Berlin werde nicht als ‚loyaler Freund‘ gesehen” (Spiegel Online, 16.1.2014; am 3. April 2014 meldete DIE WELT seinen Rücktritt: „Merkel verliert überraschend Amerika-Beauftragten“, weil er „sich auf Aufgaben in der CDU konzentrieren“ will.)

Der neue Innenminister Thomas de Maizière schimpfte nun, lange nach dem Wahltag: „Wenn zwei Drittel dessen, was Edward Snowden vorträgt oder was unter Berufung auf ihn als Quelle vorgetragen wird, stimmen, dann komme ich zu dem Schluss: Die USA handeln ohne Maß.“ (Interview, Der Spiegel, Nr. 15, 7.4.2014)

Wiederholt, im Juni, August und im Oktober 2013, hatte das Bundesinnenministerium die US-Botschaft „um Auskunft zu dem Sachverhalt“ gebeten, ohne Erfolg. Auch die Briten antworteten nicht. Die Bundesjustizministerin wollte vom amerikanischen Amtskollegen im Juni 2013 Aufklärung. Auch ihre Erinnerung im Oktober 2013 blieb unbeantwortet. Das alles gab die Bundesregierung ebenfalls erst nach der Bundestagswahl bekannt. (welt.de, 9.4.2014; Die Welt, 25.3.2014)

Putin als Retter der transatlantischen Beziehungen

Worauf die SPD im Bundestagswahlkampf vergeblich gehofft hatte, nämlich auf Auftrieb durch unerwartete Ereignisse außerhalb innenpolitischer Arenen, entlastet unverhofft die gestörten Beziehungen zu den USA: die Krise in der Ukraine. „Dunkle Wolken schoben sich über das deutsch-amerikanische Verhältnis; schon wurde gemutmaßt, der massive Vertrauensbruch werde nicht leicht zu reparieren sein. Ist ausgerechnet Wladimir Putin bei der Reparatur behilflich?“
(Klaus-Dieter Frankenberger: Putins Werk, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2014)
„‘Es gibt jetzt wirklich Wichtigeres als die NSA-Geschichten‘, heißt es in Regierungskreisen.“ (War da was?, Der Spiegel, Nr. 18, 28. 4.2014 welt.de, 9.4.2014; Die Welt, 25.3.2014)

Absichernd sorgte sich die BILD-Zeitung noch zum Besuch Merkels bei Obama Anfang Mai 2014: „Treibt Putin einen Keil zwischen Deutschland und Amerika?“ (Bild.de, 2.5.2014)

Störend dabei ist allerdings, dass die Bürger in Deutschland skeptisch bleiben: „Deutsche Distanz zu den USA beunruhigt die Politik, 49 Prozent der Bürger favorisieren inzwischen eine ‚mittlere Position zwischen dem Westen und Russland‘. Dieser Wandel beunruhigt die Politik, die die Ursachen dafür auch in der NSA-Affäre sieht.“ (welt.de, 5.4.2014)
Mit den Ergebnissen einer Umfrage des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) im Januar 2014 zu den verschlechterten deutsch-amerikanischen Beziehungen war die BILD-Zeitung so unzufrieden, dass sie selbst demoskopisch aktiv wurde: „Umfrage, Finden wir die Amis auch so toll wie die uns? Stimmen Sie ab!“ (Bild.de, 31.1.2014)

Deutsche Leitmedien im Reparaturbetrieb der transatlantischen Beziehungen

Bei dieser Stimmungslage tut „Aufklärung“ not. Da ist auf dominierende Medien Verlass. Deren Interessen-Verquickung im Widerspruch zum journalistischen Ethos ist inzwischen durchleuchtet und analysiert worden.
Bei Journalisten für Außenpolitik wurden „dichte Netzwerke im US- und NATO-affinen Elitenmilieu“ nachgewiesen. (Uwe Krüger: Meinungsmacht, Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalismus – eine kritische Netzwerkanalyse, Köln, 2013, 378 S.; Ders.: Die Nähe zur Macht, in: Message, I/2013, S. 22-28)

Besonders aktiv als Netzwerk zur Abgleichung von Meinungen ist der Verein Atlantik-Brücke, „eine Brücke zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten (…) Zielgruppe sind deutsche und amerikanische Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, den Streitkräften, der Wissenschaft, den Medien und der Kultur, die bei der Atlantik-Brücke einen Rahmen für vertrauliche Gespräche finden“. (Website der Atlantik-Brücke) Nach Auswertung ihrer Jahresberichte von 2006 bis 2013 hat der Blog Spiegelkabinett rund 100 Namen von teilnehmenden Journalisten veröffentlicht, vertreten sind alle großen Medien. (Spiegelkabinett, 19.3.2013 und 23.1.2014)

Hier einige, leicht zu vermehrende Belege aus Leitmedien in Deutschland für Aktionen zur Hebung der Stimmung im transatlantischen Verhältnis:

  • Kampagne: Die „Putin-Versteher“

    Wer zur Interessenlage Russlands im Ukraine-Konflikt differenziert Stellung nimmt, wird als „Putin-Versteher“ vorgeführt. „Putin-Versteher zeichnen sich dadurch aus, dass sie Verständnis für Putin haben, nicht von Putin. Ihre These lautet: Putin fühlt sich eingeengt und wird wieder zur Vernunft kommen, wenn man ihm genug Luft zum Atmen lässt (…) Dieses Denken ist naiv und gefährlich (…) Wer dafür Verständnis zeigt, verrät, wofür der Westen steht.“ (Bild.de, 30.4.2014)
    DIE WELT diagnostiziert mit dem Historiker und Publizisten Gerd Koenen sogar einen „deutschen Russland-Komplex“, seit Ende des 17. Jahrhunderts, von Leibnitz, Nietzsche, Rilke, Thomas Mann, Oswald Spengler, Ernst Bloch, bis zu Männerfreundschaften der Kanzler Kohl mit Jelzin und Schröder mit Putin. (Jörg Himmelreich: Der verhängnisvolle deutsche Russland-Komplex, welt.de, 22.4.2014; Gerd Koenen: Der Russland-Komplex, Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München, 2005, 528 S.)

    Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder, als „Russland-Versteher“ abqualifiziert, erwiderte: „Verstehen heißt, sich in die Gedanken des anderen zu versetzen, herauszufinden, was ihn bewegt. Wer das nicht tut, ist nicht zu einer rationalen Politik fähig, zu einer rationalen Außenpolitik schon gar nicht.“ (Interview, Welt am Sonntag, 11.5.2014)

  • Kampagne: Die größte Gefahr lauert immer noch im Osten
    • Dabei seien die Russen nach wie vor schlimmer als die Amerikaner: „Totale Überwachung bei Olympia, So spionieren die Russen in Sotschi“. (Bild.de, 7.2.2014)
    • „Die deutschen Geheimdienste halten denn auch die Folgen der Ausspähung durch die Amerikaner für überschätzt, so ein Nachrichtendienstler. ‚Trotz der Enthüllungen über die NSA hat sich an der Einschätzung, dass von den Russen die größte Gefahr im Spionagebereich ausgeht, nichts geändert.‘“ (Dirk Banse, Florian Flade, Per Hinrichs, Julia Smimova: Russen spionieren Deutsche bei Eisernen Treffs aus, welt.de, 21.4.2014)
    • „Spionage im Internet, China gefährlicher als die NSA?“ (Bild.de, 1.2.2014)
  • Kampagne: „Antiamerikanismus“
    • So fasst die ZEIT in ihrem Vorspann den Inhalt eines Gastbeitrags zusammen: „Die NSA-Affäre und ihre Folgen: Die USA werden hierzulande immer verhasster. Hinter der vermeintlichen Kritik verbergen sich jedoch oft muffigste Ressentiments.“ Ein Ausschnitt aus diesem Beitrag: „Das alte dualistische Bild: Ein degeneriertes, materialistisches und bigottes Amerika auf der einen Seite – und das kulturvolle, zivilisierte Europa auf der anderen. Transformiert ins 21. Jahrhundert – der NSA-Skandal macht’s möglich. Das ist der neue Antiamerikanismus: Die moralische Supermacht Europa erhebt sich gegen den Koloss USA. Dieser Antiamerikanismus ist brandgefährlich“.(Tobias Jaecker: Der neue alte Antiamerikanismus, Zeit Online, 24.2.2014)
    • Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur NSA-Abhöraffäre „droht zu einer einzigen Peinlichkeit zu werden (…) die Lächerlichkeit der Berliner Hysterie liegt auch daran, dass sich eine ganze Schar deutscher Politiker von den Mächten, die sie täglich ausspionieren, ausgerechnet die vorknöpft, deren Interessen sie teilen sollte.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.4.2014)
    • „Und so quillt nach Obamas Erhöhung zum Weltenretter wieder viel Antiamerikanismus durch die Ritzen der deutschen Öffentlichkeit. Was zuletzt angesichts der Ukraine-Krise gegen Amerika abschätzig geäußert wurde, spottet jeder Beschreibung und gibt zu besorgten Fragen Anlass, wo die Deutschen eigentlich ihren Platz in der Welt sehen.“ (Klaus-Dieter Frankenberger: Freunde und Freunde, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.2014)
  • Kampagne: Nützliche NSA

    Hierzu eine nur kleine Auswahl von Schlagzeilen der BILD-Zeitung (Bild.de):

    • „Ausspähen ist notwendig! Sieben Thesen zum NSA-Skandal … über die sich jetzt viele aufregen werden“ (3.11.2013)
    • „Schnüffeln verhindert Terror, Überraschendes Lob für die NSA!“ (27.3.2014)
    • „Unsterblich im Netz? NSA warnt vor Cyber-Bin-Laden, Er könnte noch in hundert Jahren zu Terror aufrufen“ (12.1.2014)
  • Kampagne: NSA nicht allein unter den Daten-Giganten

    Auch hier sind Medien des Springer-Konzerns federführend:

    • „NSA-Abhörskandal, Wo bin ich im Internet noch sicher? Facebook, Google, Mails, Handy-Telefonate: Die Geheimdienste schnüffeln uns hinterher, wo sie nur können“ (Bild.de, 31.10.2013)
    • „Irrer Schaden, Cyber-Attacken kosten Firmen Milliarden“ (Bild.de, 2.11.2013)
    • „Geheimdienste und Cyber-Angriffe, So tobt der Daten-Krieg im Internet, BILD erklärt den Krieg im Netz und wer die Hauptakteure auf dem digitalen Schlachtfeld sind“ (Bild.de, 13.11.2013)
    • „Google ist überall, Von Smartphone und Tablet über Brille und Uhr bis hin zu Auto, Kühlschrank, Rauchmelder und Thermostat: Wie sich der Suchmaschinen-Konzern in unserem Leben breitmacht“ (Welt am Sonntag, 19.1.2014)
    • „Die beunruhigende Vision von der totalen Vernetzung der eigenen vier Wände hat das orwellsche Stadium längst hinter sich gelassen. Der virtuelle Raum des Internets bemächtigt sich nun ganz real der Gegenstände im Alltag. Für paranoide Geister brechen unruhige Zeiten an.“ (Beat Balzli, stellvertretender Chefredakteur, Welt am Sonntag, 19.1.2014)
    • „Nüchtern betrachtet ist das Netz also ein riesiges Ausforschungswerkzeug und die NSA nur eine nachgeordnete Auswertungsabteilung. Eine von vielen, die meisten sind kommerzieller Natur.“ (Urich Clauss: Netz-Junkies auf Entzug, Die Welt, 3.2.2014)
    • „Ist Google gefährlicher als der US-Super-Geheimdienst NSA, der seit Monaten wegen Datensammel-Wut unter Beschuss steht? BILD nennt 7 brisante Fakten über die größte Suchmaschine der Welt. (…) Google-Chef Schmidt: ‚Wir sind überzeugt, dass Portale wie Google, Facebook, Amazon und Apple weitaus mächtiger sind, als die meisten Menschen ahnen. (…) und dies verleiht auch ihren Machern, Eigentümern und Nutzern neue Macht.‘“ (Bild.de, 4.4.2014)

    Dabei weiß die NSA längst die Datenberge dieser Konzerne zu schätzen und für eigene Zwecke zu nutzen: „Dass die Trennung zwischen staatlichen und privaten Datenbanken durchlässig ist, zeigte die Zusammenarbeit von Google, Apple, Yahoo und Microsoft mit der NSA.“ (Katharina Nocun: Die neue soziale Frage, Gastbeitrag, Frankfurter Rundschau, 26.6.2014; Nocun leitet beim Netzwerk Campact die Aktion gegen Vorratsdatenspeicherung.)

  • Kampagne: Die Zukunft gehört dem transatlantischen Freihandelsabkommen

    Die NSA-Affäre schien auch die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) zwischen der EU und den USA zu belasten, die Kanzlerin sah diese „auf eine Probe gestellt“.22 Wenige Monate später waren solche Vorbehalte vergessen: „Es ist ein großartiges Projekt, für das es sich zu kämpfen lohnt“, so Merkel im Mai 2014. (Auf der Jahrestagung der amerikanischen Handelskammer AmCham Germany in Düsseldorf, dpa-AFX, 23.5.2014)

    Auch in den Leitmedien dominieren wieder die Befürworter dieses Projekts.

    Kritische Stimmen dagegen sehen mit dem Abkommen weiteren Abbau von Grundrechten voraus, ja sogar einen „der gefährlichsten Angriffe auf die demokratischen Rechts- und Sozialstaaten, die es je gegeben hat“.
    Ausländische Investoren sollen Sonder- und Schutzrechte erhalten: „Ein Grundrecht auf ungestörte Investitionsausübung.“ (Heribert Prantl: Ein heimlicher Staatsstreich, Süddeutsche Zeitung, 10.5.2014) Wenn sich Konzerne bei ihren Gewinnplanungen durch staatlich gesetzte Normen behindert sehen, etwa bei Umweltschutzauflagen, bei Gesundheitsschutz, Verbraucherrechten, der Sozial- und Wirtschaftspolitik eines Landes insgesamt, sollen sie Klagerecht mit Ansprüchen auf Schadensersatz erhalten – „schädlich für unseren demokratischen Rechtsstaat, weil es den Investoren durch Schutzklauseln unerhörte Sonderrechte einräumen soll“. (Daniel Haufler: Die Grenzen des Freihandels, Berliner Zeitung, 6.5.2014) Streitfälle werden dann nicht von der regulären Rechtsprechung entschieden, sondern von Schiedsgerichten mit internationalen Anwälten („in den letzten Jahren ein kleiner Zirkel von 15 Anwälten weltweit“; Süddeutsche Zeitung, 2.5.2014), zudem ohne Revisionsmöglichkeit. Staaten dagegen können Konzerne bei Verstößen z. B. gegen Umweltgesetze oder bei Menschenrechtsverletzungen nicht bei den Schiedsgerichten verklagen. Für sie „gilt weiter der reguläre, langwierige Klageweg“. (Daniel Haufler)
    Dieses Abkommen laufe „auf eine fast diktatorische Beschränkung demokratischer Selbstbestimmung“ hinaus. „Es handelt sich um keinen Vertrag, den die USA zulasten Europas durchdrücken wollen. Es handelt sich um einen Vertrag, den das internationale Kapital zulasten der nationalen Demokratien abschließen will.“ (Jens Jessen: Eine Wahnsinnstat, Der Skandal verbirgt sich in einem unhandlichen Kürzel: Mit TTIP, dem geplanten Transatlantischen Handelsabkommen zwischen der EU und den USA, werden Demokratie und Rechtsstaat ausgehebelt. Man sollte es verhindern!, Die Zeit, 5.6.2014)

    Bereits vor Abschluss eines Freihandelsabkommens gibt es Beispiele dafür, wie Investoren ihr Sonderrecht einklagen und ausnutzen wollen. So verklagt der Energiekonzern Vattenfall seit 2012 die Bundesregierung auf mehrere Milliarden Euro Entschädigung für die Abschaltung von Atomkraftwerken im Rahmen des deutschen Atomausstiegs nach der Reaktorkatastrophe in Japan. Ein Tabakkonzern klagt gegen Uruguay und Australien wegen Auflagen auf Zigarettenverpackungen. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele. (Pia Eberhardt: Investitionsschutz am Scheideweg, TTIP und die Zukunft des globalen Investitionsrechts, Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse, Mai 2014, Dokumentation, S. 7; Spiegel Online, 28.7.2014)

    Belastend für die transatlantischen Handelsbeziehungen ist nicht zuletzt, „dass staatliche Geheimdienste auch Wirtschaftsspionage betreiben“. „Jeder fünfte Spionageangriff auf deutsche Unternehmen kommt aus Nordamerika.“ Der deutschen Wirtschaft entstünde dadurch ein Schaden von fast 12 Mrd Euro, bei einem jährlichen Schaden von rund 50 Mrd Euro durch Wirtschaftsspionage insgesamt. (Jens Koenen, Ina Karabasz: Der unfreundliche Freund, Handelsblatt, 21.7.2014)
    Protest gegen die Auswirkungen des TTIP und auch dagegen, dass die laufenden Verhandlungen im Geheimen stattfinden, wird vor allem im Netz organisiert, so maßgeblich von den Initiativen Campact, ATTAC und Avaaz, mit inzwischen mehreren hunderttausend Unterschriften von Unterstützern.

Diskurs: „Big Data“ steht erst am Anfang

Die NSA-Spähaffäre gab den Anstoß zu einer grundsätzlichen Diskussion, vor allem durch eine Serie im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Die Digital-Debatte, FAZ.NET), über die immer umfassendere Erfassung und Vernetzung von Daten, inzwischen ohne technische Schranken. Der „gläserne Mensch“, samt Umgebung nahezu komplett gescannt und abgehört, wird rasant realisiert, perfekter als in kühnsten Science-Fiction-Phantasien vorausgeahnt. Cui bono, wem zum Nutzen? Gelingt es den Wirtschaftsgiganten, den Menschen komplett als Konsumenten zu berechnen, zu interpretieren und somit auch zu steuern? Oder kann durch Organisieren von Widerstand noch erreicht werden, verbindliche nationale und internationale Regeln zu vereinbaren, um Grundrechte gegen die neuen Bedrohungen abzusichern?

Resümee: Schleichend in eine neue Weltordnung

„Was hat das Abkommen zum Investitionsschutz zwischen den USA und Europa mit der Amputation der Ukraine zu tun? Oder mit der Überwachung der NSA?“, überschreibt die Süddeutsche Zeitung ihre bemerkenswerte Analyse dieser unterschiedlichsten, scheinbar kaum miteinander verbundenen Ereignisse und kommt zu dem Ergebnis: Gewachsene historische und völkerrechtliche Bindungen, rechtsstaatliche Prinzipien, der Vorrang öffentlicher Interessen werden zunehmend „als ineffizient, unflexibel und der Komplexität heutiger Problemlagen nicht mehr angemessen“ abgewertet. „Also wird das Recht als das idealtypische gesellschaftliche Regulativ einer folgenreichen Transformation ausgesetzt, die gerne mit der Formel erfasst wird: ‚from government to governance‘. Das soll heißen, dass sich die rechtsstaatlich und demokratisch gebundene Regierungsverantwortung wandelt zur pragmatischen Lenkungsform, wie man sie vor allem in der Wirtschaftswelt entwickelt hat. (…) Die Legitimität ergibt sich aus der Effizienz, nicht aus der Korrektheit. Datenschutzeinwände gegen die NSA-Überwachung werden mit derselben Logik zur Seite gewischt. (…) In der effektvollen Ausdehnung der russischen Einflusszone auf die Ukraine begegnet der Westen dem rechtsneutralen Governance-Denken in hässlicher Gestalt.“ „Die neue Weltordnung entstellt das Recht und hebelt die Demokratie aus.“( Andreas Zielcke: Sieg über das Gesetz, Süddeutsche Zeitung, 2.5.2014)

Ausblick: Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Deutschlands Politik gegenüber Russland im Ukraine-Konflikt ist deutlich zurückhaltend, trotz verschärfter Forderungen der US-Regierung. „Berlin aber will so lange wie möglich im Gespräch mit Moskau bleiben.“ (Neue Zürcher Zeitung, 30.4.2014)
Nicht zuletzt dank intensiver wirtschaftlicher Beziehungen und Verflechtungen wäre ein Rückfall in die Konfrontation des Kalten Krieges mit massiveren Sanktionen ein Bumerang. Nachhaltig wirkt sich auch der Erfolg der Entspannungspolitik von Willy Brandt und Egon Bahr aus, ohne die es nicht zur Vereinigung beider deutscher Staaten gekommen wäre. So ermahnen heute auch Politiker der CDU/CSU, die damals als schärfste Gegnerin der Ostpolitik agitierte, zu Mäßigung und kluger Besonnenheit gegenüber Russland.
Schließlich ist vom amerikanischen Präsidenten als Schwerpunkt seiner Außenpolitik der Pazifikraum „zur Priorität Nummer Eins“ deklariert worden. „Der Westen alter Ordnung ist nur noch zweite Wahl.“( Zeit Online, 17.11.2011) „Gleichzeitig verliert Washington das Interesse an dem alten Kontinent.“ (Jacques Schuster: Vier bittere Wahrheiten, Die Welt, 6.5.2014)

Notwendig sind also erneut konstruktive Ideen, diesmal nicht vorrangig für Deutschland, heute für die Selbstbehauptung Europas, das sich inzwischen zum größten Teil in der Europäischen Union konstituiert hat. Nach dem ersten, unerwarteten Erfolg, damals zumindest anfangs gegen erhebliche Vorbehalte der USA, könnte eine wiederbelebte Politik „Wandel durch Annäherung“ als Drehbuch für ein gesamteuropäisches Konzept reaktiviert werden. NSA-Ausspähaffäre sowie russische Übergriffe auf vertraglich abgesicherte Ländergrenzen haben demonstriert, dass die überwunden geglaubte Dominanz der Supermächte offensichtlich eine Renaissance erleben will. Mit alten, historisch diskreditierten und überholten Methoden zu neuer Stärke? Bundeskanzlerin Merkel hat immerhin erkannt: „Das Recht des Stärkeren wird gegen die Stärke des Rechts gestellt, einseitige geopolitische Interessen über Verständigung und Kooperation.“ (Im Bundestag, Stenografischer Bericht, 13.3.2014, S. 1519) Allerdings richtete sie dabei ihren Blick allein in Richtung Osten, der Satz fiel in ihrer Regierungserklärung zur Lage in der Ukraine. Nicht zu erwarten ist, dass sie diesen Maßstab transatlantisch transformiert. Zur Aufklärung der NSA-Ausspähaffäre sind zumindest die CDU/CSU-Mitglieder der Bundesregierung nur bereit, „soweit das nicht die Arbeit der Nachrichtendienste im Kern oder das transatlantische Verhältnis massiv beschädigt“, so Bundesinnenminister Thomas de Maizière. (Interview, Handelsblatt, 16.5.2014)

Unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ebenfalls nicht zu erwarten, dass in ihrer Regierungszeit Fortschritte zur politischen Emanzipation Deutschlands in den transatlantischen Beziehungen gewagt, geschweige denn realisiert werden könnten. Prognose eines Historikers: „Solange die Deutschen in der Rolle des Mündels verharren, haben die Amerikaner keine Veranlassung, ihre Besatzermentalität abzulegen. Umgekehrt spricht einiges dafür, dass ein mit angemessenem Selbstbewusstsein auftretender deutscher Partner auch für die USA die attraktivere Alternative ist. Für die Nachbarn, die laut über eine europäische Führungsrolle Deutschlands nachdenken, gilt das ohnehin.“( Gregor Schöllgen: Besetzt, beschützt, bevormundet, Süddeutsche Zeitung, 29.7.2014)

Nach ersten Schritten in Richtung Selbstbehauptung – den Repräsentanten der US-Nachrichtendienste an der US-Botschaft in Berlin forderte die Bundesregierung im Juli 2014 zur Ausreise auf; das Auswärtige Amt bat Anfang August 2014 in einer Verbalnote alle Botschaften „um Benennung des in der Bundesrepublik eingesetzten Personals von Nachrichtendiensten (Name, Vorname, Geburtsdatum, Standort, Dienstzugehörigkeit und Funktion)“ – revanchierten sich die Amerikaner mit Enthüllungen aus den Unterlagen eines ehemaligen Mitarbeiters des deutschen Nachrichtendienstes und mutmaßlichen CIA-Spions: Der Bundesnachrichtendienst (BND) betreibe selbst seit Jahren operative Aufklärung gegenüber Partnerländern in der Nato, gegen die Türkei, gegen Albanien. (Spiegel Online, 23.8.2014)
Wenn „der BND seit Jahren und zielgerichtet den Nato-Partner Türkei abgehört und ausspioniert haben sollte, dann gefährdet das die Zusammenarbeit ausgerechnet in einem Moment, in dem die Bundesregierung erstmals darüber nachdenkt, auch mit Waffenlieferungen Einfluss auf die Entwicklungen im Irak zu nehmen“ (.Stefan Braun: Peinlicher Beifang, Süddeutsche Zeitung, 18.8.2014) Sogar Telefongespräche von US-Außenminister John Kerry und seiner Vorgängerin Hillary Clinton verfingen sich in den Ausspähaktionen des BND, nicht gezielt, zufällig als „Beifang“.

Merkel: „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“? Offensichtlich doch, bloß nicht beim Handy der Bundeskanzlerin. Glaubwürdigkeit sieht anders, konsequenter aus. „Was eigentlich unterscheidet das US-Gebaren vom deutschen Verhalten?“, bilanziert z.B. das Handelsblatt am 18.8.2011.
Etwas mehr als ein Jahr nach den ersten Enthüllungen Edward Snowdens „steckt die Bundesregierung erkennbar in der Defensive“. (Florian Gathmann, Matthias Gebauer, Philipp Wittrock: Angela Merkel und die BND-Affäre: Verheddert Im Netz der Dienste, Spiegel Online, 18.8.2014) Eine mutige eigenständige Position rückt in weite Ferne, wie schon bei der Aufklärung der Ausspäh-Affäre: „So wie Gerhard Schröder 2002 ‚Nein‘ zum Irakkrieg sagte, so könnte Merkel jetzt mit einer Aufnahme Snowdens ein ähnlich deutliches Signal setzten: Ein transatlantischer Treueschwur heißt nicht, dass sich Deutschland alles bieten lässt.“ (Petra Sorge: Das perfide Doppelspiel der Bundesregierung, Cicero.de, Magazin für politische Kultur, 11.7.2014) Wenn jetzt nicht so viel vor der eigenen Tür zu kehren wäre.

In der Europapolitik ist die Perspektive fiskalisch und ökonomisch verengt. Auf politischen Gestaltungsanspruch wird verzichtet, wenn die Kanzlerin als ihre Richtlinie ausgibt: „Fällt der Euro, fällt Europa.“ (Süddeutsche.de, 22.7.2011)

Der Verfasser leitete das Politische Archiv des SPD-Parteivorstandes in Bonn und Berlin von 1973 bis 2010.

Erscheint in “Krakowskie Studia Miedzynarodowe/Krakow International Studies”, 2014, Veröffentlichung vom Verlag genehmigt.


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=23349