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Titel: Wider die Demografie-Demagogie

Datum: 17. Oktober 2014 um 9:56 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung, Interviews, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Soziale Gerechtigkeit
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„Die Demagogie mit der Demografie“ ist der Titel einer gerade bei KLARtext e.V., einem kleinen Frankfurter Verein, der schon des Öfteren – beispielsweise hier, hier, hier und hier – von sich reden machte, erschienenen Broschüre. Auch die aktuelle Publikation ist dabei wieder dem Ziel verpflichtet, aufzuzeigen und zu argumentieren: „Die Grenzen verlaufen zwischen oben und unten, nicht zwischen den Völkern“. Wie wichtig derlei auch und gerade in Bezug auf die vermeintliche „Überalterung“ unseres Landes ist, offenbart bereits ein flüchtiger Blick in den deutschen Blätterwald. Denn immer wieder ist es die Demografie, die als vermeintlicher Nachweis dafür herhalten muss, dass sich „die Gesellschaft“ ihre sozialen Sicherungssysteme nicht mehr leisten könne und „reformiert“ werden müsse. Doch stimmt das überhaupt? Jens Wernicke sprach hierzu mit Günter Berg, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und neben Gerd Bosbach dem zweiten Autor der Veröffentlichung.

Herr Berg, was ist dran an der Vorstellung, die Alten würden auf Kosten der Jungen leben?

Nichts! Oder besser gesagt: Es ist ein gedanklicher Kurzschluss, der da aus dem Demografischen Wandel gezogen wird – und zwar mit fatalen Folgen.

Wie meinen Sie das?

Nun, argumentiert wird hier mit der verbreiteten Vorstellung einer angeblich demografisch bedingten Rentnerlast. Sie kennen doch das Bild, wo auf den Schultern eines Kleinkindes viele Alte aufgereiht sind.

Der Kommentar dazu lautet: Wenn die Deutschen immer weniger Kinder kriegen und die Alten immer älter werden, muss gegengesteuert werden, um unsere Altersvorsorge zukunftsfest zu machen. Denn heute müssen vier Erwerbsfähige einen Rentner mit ernähren, im Jahr 2050 werden es nur noch zwei sein. Die Versorgungslast verdoppelt sich also.

Die Folge hiervon war dann die Agenda 2010 mit den Hartz-IV-Gesetzen, den drastischen Rentenkürzungen und der Rente mit 67 – und zwar im Namen der Generationengerechtigkeit!

Wo liegt denn da der Kurzschluss, den Sie meinen?

Der gedankliche Kurzschluss liegt darin, dass aus dem sich verändernden quantitativen Verhältnis zweier Altersgruppen direkt auf ein drohendes Versorgungsproblem geschlossen wird.

Diese Vorstellung hat eine hohe Plausibilität – allerdings nur, wenn man von den tatsächlichen ökonomischen Verhältnissen in der Gesellschaft abstrahiert.

Was heißt das bitte?

Entscheidend ist die Produktivität der Arbeit. In vor-industriellen Zeiten war die Versorgung der Alten in der Tat unmittelbar abhängig von der Anzahl der tätigen Hände. Daher war der Kinderreichtum auch eine Überlebensfrage. Wir leben aber nicht mehr im Mittelalter, sondern in einer hoch entwickelten Industriegesellschaft. Und die ist gekennzeichnet durch eine enorme Steigerung der Produktivität, durch Einsatz moderner Maschinen und die Automatisierung von Arbeitsabläufen. Wir haben nicht etwa ein Mangel-, sondern vielmehr ein Überflussproblem.

Überfluss…?

Damit meine ich, dass genug Produktivität und Wohlstand für alle da wären – wenn die gesellschaftliche Ordnung mehr den Menschen und weniger dem Profit diente… 

Was die Alterssicherung betrifft können wir uns also ganz auf die Produktivitätssteigerung verlassen?

Jain! Und zwar deshalb, weil, wie gesagt, das Erwirtschaftete eben sehr ungleich verteilt wird. Das hängt damit zusammen, dass wir – vereinfacht gesagt – zwei Gruppen von Erwerbstätigen haben: Die einen sind lohnabhängig und leben von ihrer Arbeit, die anderen sind selbständig und leben vom Warenumsatz ihrer Unternehmen bzw. von ihren angehäuften Vermögen.

Der Rentenanspruch der Lohnabhängigen richtet sich bekanntlich nach deren Beschäftigungszeit und Lohnhöhe. Und da die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen um so besser ist, je niedriger die Lohn- und Lohnnebenkosten sind, haben die abhängig Beschäftigten es hier schwer, an dem von ihnen erwirtschafteten Wohlstand leistungsgerecht teilzuhaben – sowohl während ihrer Erwerbstätigkeit als auch danach. Hier hat die Schere zwischen Arm und Reich ihren Ursprung.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist insofern auch die Betrachtung von jungen „Erwerbsfähigen“ auf der einen und alten „Nicht-Mehr-Erwerbsfähigen“ auf der anderen Seite generell ungeeignet zur Erklärung der Lastenverteilung in unserer Gesellschaft?

So ist es. Die Kostenproblematik in der Privatwirtschaft führt dazu, dass Arbeitsplätze wegrationalisiert werden und der Lohndruck steigt. Mit der digitalen Revolution wird sich diese Entwicklung noch erheblich verschärfen. Unter diesen Bedingungen haben wir tatsächlich ein Versorgungsproblem – ganz unabhängig allerdings von Jung oder Alt: „Es ist nicht mehr genug Arbeit für alle da!“, heißt es da. Denn von der enormen Produktivitätssteigerung profitieren eben nicht alle. Immer weniger Erwerbsfähige erhalten die Chance auf einen Arbeitsplatz bzw. auf einen existenzsichernden Lohn. Gleichzeitig konzentriert sich der Wohlstand in den Händen großer Unternehmerfamilien, von Shareholdern, Spitzenmanagern, Bankern und Finanzjongleuren. Und zwar nicht nur während ihrer aktiven Zeit, sondern auch danach.

So war etwa gerade zu lesen, dass der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, mit einer „Rente“ von 35 Millionen Euro in den Ruhestand gehen wird. Wer lebt in diesem Lande also auf wessen Kosten?, frage ich Sie.

Wir haben demnach kein demografisch bedingtes Versorgungsproblem, sondern eine soziale Spaltung, die quer durch alle Altersgruppen verläuft?

Ja. Die ungleiche Teilhabe aufgrund unterschiedlicher Einkommensquellen führt quasi zu Parallelgesellschaften. Die Gewinner dieses Wirtschaftssystems schicken ihre Kinder auf Privatschulen und Elite-Unis. Die Kinder der anderen müssen mit öffentlichen Schulen und Massen-Unis Vorlieb nehmen, die aufgrund leerer Staatskassen in einem immer trostloseren Zustand sind. Entsprechend gegensätzlich sind auch die Berufsperspektiven. Auf die einen warten gut dotierte Leitungspositionen, während die anderen der Eigendynamik eines flexibilisierten Arbeitsmarktes ausgesetzt sind. Und die propagierte Privatvorsorge fürs Alter ist für die einen eh kein Problem: Sie dürfen sich auf einen angenehmen Lebensabend in der eigenen Villa oder wenigstens in einer privaten Senioren-Residenz freuen. Auf die anderen warten Altersarmut und Pflegeheime mit überlastetem Personal.

Sehen Sie die Demografie-Debatte denn als reines Ablenkungsmanöver, um die Öffentlichkeit zu täuschen?

Unsere Demografie-Experten ignorieren mit ihrer eingeschränkten Sicht auf die nackten Bevölkerungszahlen die realen Lebensverhältnisse und kommen so zu der dümmlichen Diagnose, die Alten würden die Jungen ausbeuten. Sie liefern damit die Legitimation zu einer massiven Rentenkürzungspolitik, die junge wie alte Kleinverdiener dann gleichermaßen trifft. Was ist das anderes als Volksverdummung oder Demagogie, die auf eine gewisse Plausibilität setzt und damit Breitenwirkung erzielt? Derlei funktioniert bedauerlicherweise immer wieder ganz gut, wie wir aus der Geschichte wissen.

Wie meinen Sie das?

Nun, die Propaganda mit der „Überalterung“ gab es schon zu NS-Zeiten. Am Ende der Weimarer Republik legte beispielsweise ein gewisser Friedrich Burgdörfer, damals Abteilungsleiter beim Statistischen Reichsamt in Berlin und renommierter Bevölkerungswissenschaftler, mit einem Standardwerk von 1932 eine der pseudo-wissenschaftliche Grundlagen für die NS-Ideologie. Das Buch hieß bezeichnenderweise „Volk ohne Jugend – Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers“. Er prognostizierte damals, man höre und staune, eine Verdopplung der Zahl der Rentner bis 1975 – was schließlich dazu führen würde, dass dann zwei Erwerbstätige einen Rentner mit ernähren müssten! Die Alten würden damit zu einer Last für die Jungen!

Wir sehen, es ist dasselbe Bild, das uns auch heute wieder entgegengehalten wird. Und wir wissen, dass diese düstere Prognose damals schon falsch war. Die für die 60er und 70er Jahre vorhergesagte „Überalterung“ vertrug sich nicht nur gut mit steigenden Renten und verkürzter Lebensarbeitszeit, sondern beide waren sogar tragende Säulen der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft.

Welche Rolle spielt denn heute die amtliche Statistik bei der Dramatisierung des Demografischen Wandels?

Aufgabe der amtlichen Statistik ist es, verlässliche Daten zur Bevölkerungsentwicklung zu erheben und zu veröffentlichen. Und das tut sie auch. Aber mit den sogenannten Vorausberechnungen wird diese Entwicklung dann auf Jahrzehnte hinaus verlängert und zugespitzt und lässt sich von interessierter Seite wunderbar als Grundlage für Horrorszenarien politisch missbrauchen.

So reicht beispielsweise die amtliche „12. Koordinierte Vorausberechnung“ [PDF] bis ins Jahr 2060! Gerd Bosbach, engagierter Statistikprofessor und den Lesern der Nachdenkseiten wohl bestens bekannt, hat hier bereits darauf hingewiesen, dass das einzig und allein Kaffeesatzleserei ist.

Statt derlei zu betreiben, wäre es Aufgabe der amtlichen Statistik, Aufklärung zu betreiben und der unsinnigen Interpretation der Vorausberechnungen entschieden entgegenzutreten anstatt diese noch weiter zu befördern. Sie profitiert jedoch zu sehr von der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie gerade durch ihre Vorausberechnungen erhält, sodass Politik und Statistik so quasi Hand in Hand arbeiten…

Das erklärt aber noch nicht, weshalb der „Demografische Wandel“ als öffentliches Thema so populär geworden ist.

Nun ja, an vorderster Front bei der Verbreitung und Dramatisierung der Demografie sehe ich die Bertelsmann-Stiftung und das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Unter kräftiger Zuarbeit dieser beiden Think-Tanks hat im vergangenen Jahrzehnt eine Art Institutionalisierung des Themas in der gesamten öffentlichen Verwaltung stattgefunden. Bund und Länder haben jeweils eigene Stabsstellen und Referate eingerichtet, die jährliche „Demografie-Berichte“ erstellen. Und die Kanzlerin hat just zum Jahresanfang den Demografischen Wandel noch – neben der Globalisierung – zur größten politischen Herausforderung erklärt. Er dient dabei als wichtigste Begründung, den Sozialstaat zu schrumpfen. Auch wenn gegenwärtig die außenpolitischen Themen dominieren – das Thema Demografie wird uns erhalten bleiben, weil es bestens geeignet ist, eine Politik gegen die Interessen der Mehrheit in diesem Lande durchzusetzen. Das betrifft dabei nicht nur die Rentenfrage. Denn auch bei Themen wie der Finanzierung von Gesundheitsleistungen und anderen werden Alte gegen Junge ausgespielt…

Vielleicht können Sie abschließend diesen Punkt des Gegeneinander-Ausspielens noch präzisieren?

Ja. Ich denke, wir bewegen uns mit der demografisch verengten Sicht auf einem sehr dünnen zivilisatorischen Eis. Denn sie war immer schon verknüpft mit der Unterscheidung zwischen produktiven und unproduktiven Bevölkerungsgruppen, zwischen erwünschtem und unerwünschtem Leben.

So forderte der NS-Ideologe Burgdörfer seinerzeit beispielsweise, durch eine selektive Reproduktion „den qualitativ hochwertigen Volksteil gegen die proletarischen unteren Volksschichten zu verteidigen und Dämme gegen die slawische Flut der Einwanderer“ zu errichten.

In verdächtiger Nähe zu diesem Gedankengut des Rassismus und Sozialdarwinismus liegen auch aktuelle Debattenbeiträge. Beispielsweise jene eines Prof. Dr. Dr. Gunnar Heinsohn, der die „Hartz-IV-Bevölkerung“ als parasitären Teil der Bevölkerung dem „leistenden Bevölkerungsteil“ gegenüberstellt und das Elterngeld als „Vermehrungsprämie für Sozialhilfemütter“ verunglimpft. Oder auch die kruden Thesen eines Thilo Sarrazin, der in bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund ein Bedrohungspotenzial sieht, weil sie „lauter kleine Kopftuchmädchen“ produzierten, die keinen produktiven Beitrag für die Gesellschaft leisten, sondern nur unsere Sozialsysteme belasten würden.

Und das sind nicht die einzigen Vertreter unserer vermeintlichen Leistungselite, die sich in bedenklicher Weise zu Wort gemeldet haben. So wurde beispielsweise vom Bundespräsidenten a. D. Roman Herzog angesichts der „kommenden Rentnerrepublik“ schon über Einschränkungen des Wahlrechts für Alte nachgedacht. Und wurde Philipp Mißfelder mit seiner Forderung nach Rationierung von Gesundheitsleistungen für Alte bekannt. Kurzum: Die Geschichte zeigt, dass besonders in Krisenzeiten solche Gedankengänge zunehmen und schließlich fatale Folgen zeitigen können. Ich denke, da ist noch viel wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten.


Günter Berg (Dr. phil.) ist Soziologe und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. Er war hauptberuflich als Referent im Statistischen Landesamt Berlin, später als stellv. Referatsleiter im Innenministerium Brandenburg, tätig. Er ist heute publizistisch tätig mit den Arbeitsschwerpunkten Demografie, Alltags- und Krisenbewusstsein, Politische Ökonomie.


Weiterlesen:

Günter Berg, Gerd Bosbach: „Mehr Alte, weniger Kinder – Katastrophe? – Die Demagogie mit der Demografie“, KLARtext e.V., Frankfurt 2014

Thomas Etzemüller: „Ein ewigwährender Untergang – der apokalyptische Bevölkerungsdiskurs im 20. Jahrhundert“, transcript Verlag, Bielefeld 2007

Tobias Weißert: „Altersarmut durch Rentenreform“ Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne, März 2013

„‘Alte kassieren! Junge zahlen nur drauf!‘ – Mythen und Fakten zur Rentenpolitik“, luxemburg argumente Nr. 7, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2013

Christian Christen: „Politische Ökonomie der Alterssicherung – Kritik der Reformdebatte um Generationengerechtigkeit, Demographie und kapitalgedeckte Finanzierung“ Metropolis-Verlag, Marburg 2011


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