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Titel: Worum geht es im GDL-Streik eigentlich?

Datum: 7. November 2014 um 11:41 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Erosion der Demokratie, Gewerkschaften
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Einige Leser haben uns gestern geschrieben, dass sie trotz der beiden Artikel „Ich bin ein GDL-Versteher!“ und „Aus den Zeilen tropft Hass“ immer noch nicht richtig verstanden haben, für was die GDL eigentlich streikt. In einigen Fällen kam dabei auch der aus den Medien bekannte Begriff „Machtkampf“ vor. Um hier ein wenig mehr Klarheit zu schaffen, versuche ich zunächst mit eigenen Worten noch einmal den Hintergrund zu erläutern. Als Anhang veröffentlichen wir dazu noch eine Zuschrift unseres Lesers Erik Jochem, in der das komplexe Thema allgemeinverständlich erklärt wird. Von Jens Berger

Um den Hintergrund des GDL-Streiks zu verstehen, ist es zunächst wichtig, die Begriffe Tarifeinheit und Tarifpluralität zu definieren. Die Tarifeinheit wird im Kern durch den Satz „Ein Betrieb, ein Tarif“ beschrieben. Der Grundsatz der Tarifeinheit wird vor allem dann bemüht, wenn es aus verschiedenen Gründen innerhalb eines Betriebes mehrere gültige Tarife gibt. In einem solchen Fall wurde bis 2010 von den Arbeitsgerichten der Fall nach dem Grundsatz der „Spezialität“ behandelt: Danach gilt der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich und fachlich am nächsten steht. Diesen Zwang zur Tarifeinheit hat das Bundesarbeitsgericht jedoch im Jahre 2010 unter Berufung auf die im Grundgesetz zugesicherte Koalitionsfreiheit abgeschafft. Heute gilt stattdessen der Grundsatz der Tarifpluralität, nach dem in einem Betrieb verschiedene Tarifverträge gestattet sind. Ein Arzt kann also z.B. nach dem Tarifvertrag von ver.di oder nach dem Tarifvertrag des Marburger Bundes entlohnt werden – je nachdem, in welcher Gewerkschaft er ist.

Das Gleiche gilt für Lokführer, die entweder in der GDL oder in der EVG organisiert sein können. Nun will die GDL erstmals diesen Grundsatz auch auf die in der GDL organisierten Mitarbeiter des Zugpersonals geltend machen. Dazu zählen unter anderem Zugbegleiter (also Schaffner) und Mitarbeiter in der Bordgastronomie. Die Deutsche Bahn beschäftigt in diesem Bereich 37.000 Mitarbeiter, von denen 10.000 keiner Gewerkschaft angehören und 8.000 Mitglied der EVG sind. Die GDL will nun für die ihre 19.000 Mitarbeiter in diesem Bereich (die 51%, von denen seitens der GDL immer die Rede ist) Tarifverhandlungen führen. Der Grundsatz der Tarifpluralität, der sich auf die Koalitionsfreiheit im Grundgesetz beruft, gestattet dies ausdrücklich. Warum soll die GDL nicht auch für ihre Zugbegleiter verhandeln dürfen, wenn diese doch mehr als die Hälfte des Gesamtpersonals in diesem Bereich stellen und sie in diesem Bereich mehr als doppelt so viele Mitglieder wie die EVG hat?

Es geht daher auch nicht um einen „Machtkampf“ zwischen zwei Gewerkschaften. Die GDL beruft sich auf die Koalitionsfreiheit und damit auf das Grundgesetz und liegt damit auch auf der Linie des Bundesarbeitsgerichts. Die Deutsche Bahn besteht jedoch darauf, dass die GDL als Vorbedingung für Schlichtungsverhandlungen auf eben dieses Recht verzichtet und auf den Vertretungsanspruch für das in der GDL organisierte Zugpersonal (außer den Lokführern) verzichtet, bevor es überhaupt zu einer Schlichtung kommt. Bei dieser Frage kann es jedoch keinen Kompromiss geben. Es gibt nur „ja“ oder „nein“ – eine Kompromissformel ist alleine aufgrund der Fragestellung nicht möglich. Würde die GDL diesem Diktat zustimmen, würde sie freiwillig darauf verzichten, das Grundrecht ihrer eigenen Mitglieder auf Koalitionsfreiheit wahrzunehmen. Zu einem Verzicht auf ein Grundrecht kann jedoch in einem Rechtsstaat niemand gezwungen werden.

Anhang 1: Leserbrief von Erik Jochem zum Thema:

Im aktuellen Tarifkonflikt der GDL mit der Deutschen Bahn AG geht es bekanntlich vorrangig um den in der Presse so genannten “Vertretungsanspruch” der GDL für das anderweitige Zugpersonal, also diejenigen Beschäftigten, die neben den Lokführern auf Zügen tätig sind. Das sind z.B. die Zugbegleiter und die Mitarbeiter in der Bordgastronomie. Der aktuelle viertägige Streik findet maßgeblich deswegen statt, weil das Angebot der Deutschen Bahn, einen Schlichter anzurufen – wie schon die zuvor gemachten Angebote – ausdrücklich die Einschränkung enthielt, es könne ausschließlich über Lokführerarbeitsverträge verhandelt werden. Diese Einschränkung ihres Mandats als Einstiegsbedingung für ein Schlichtungsverfahren lehnt die GDL ab.

Was genau verbirgt sich nun hinter dem sogenannten “Vertretungsanspruch” der GDL und der demgegenüber ablehnenden Haltung der Deutschen Bahn? Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Tarifverträge nicht automatisch für alle Beschäftigten eines Betriebes gelten, sondern nur für die, die Mitglied derjenigen Gewerkschaft sind, die den betreffenden Tarifvertrag ausgehandelt hat. Für alle anderen Beschäftigten gilt das, was sie einzelvertraglich mit ihrem Arbeitgeber ausgehandelt haben. Einen Sonderfall stellt die „Allgemeinverbindlichkeit“ [*] dar.

Für die Arbeitnehmer der Deutschen Bahn, die in der EVG organisiert sind, gelten somit (über ihren individuellen Arbeitsvertrag hinaus) die dort ausgehandelten Arbeits- und Vergütungsbedingungen, für alle anderen nur das, was in ihrem jeweiligen Arbeitsvertrag steht. Der “Vertretungsanspruch” der GDL bezieht sich nun genau auf diejenigen Arbeitnehmer der Deutschen Bahn, die bei ihr organsiert sind. Das können wegen des Ausschlusses der Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft ausschließlich solche Arbeitnehmer sein, für die der von der EVG abgeschlossene Tarifvertrag nicht gilt, also Arbeitnehmer ohne aktuell gültigen Tarifvertrag. Die GDL vertritt mit anderen Worten nur die Interessen ihrer Mitglieder – nicht mehr und nicht weniger.

Wenn also von einem “Vertretungsanspruch” der GDL “für das gesamte Zugpersonal” (im Sinne einer unzulässigen Anmaßung seitens der Gewerkschaft) die Rede ist, soll dadurch offenbar die legitime Vertretung ihrer Mitglieder durch die GDL diskreditiert werden. Denn was kann man ernsthaft dagegen einwenden, dass die GDL ihre Mitglieder vertritt? Ist das nicht ihre einzige Aufgabe und Daseinsberechtigung?

Was ist nun von der Position der Deutschen Bahn zu halten, es könne innerhalb desselben Betriebs nicht zwei Tarifverträge für dieselbe Berufsgruppe geben? Auch hier ergibt sich die Antwort aus dem Grundsatz des Tarifvertragsrechts, dass nur die Mitglieder der vertragschließenden Verbände in den Geltungsbereich des jeweiligen Tarifvertrags fallen. Mit anderen Worten: Auf der praktischen Ebene gibt es überhaupt kein Problem. Die Mitglieder der EVG haben Anspruch auf Anwendung des EVG-Tarifvertrags, die GDL-Mitglieder Anspruch auf Anwendung des GDL-Tarifvertrages und für die nichtorgansierten Mitarbeiter bleibt es bei ihrem individuellen Arbeitsvertrag. Dass die Bahn befürchtet, die GDL könne mit der Durchsetzung besserer Bedingungen für das übrige Zugpersonal innerbetrieblich Furore machen und zunehmend Mitglieder auf ihre Seite ziehen, ist pekuniär verständlich. Aber dazu genau dient ja das Streikrecht: Bessere Bedingungen für die eine Seite zu Lasten der anderen zu erstreiten.

Auf den Punkt gebracht bedeutet die Position der Deutschen Bahn, nicht über einen Tarifvertrag für das übrige Zugpersonal verhandeln zu wollen, nichts anderes, als dass auch für die nicht bei der EVG organsierten Arbeitnehmer maximal die im
EVG-Tarifvertrag verhandelten Ergebnisse gelten sollen. Damit aber würde die Mitgliedschaft in der GDL für das übrige Zugpersonal praktisch wertlos – und es kommt noch besser. Weil die betreffenden Arbeitnehmer ja nicht gleichzeitig in der GDL und der EVG organsiert sein können, haben die GDL-Mitglieder nicht einmal Anspruch auf den EVG-Standard, es sei denn, sie treten aus der GDL aus und in die EVG ein.

Damit käme das Recht, sich z.B. als Zugbegleiter in der GDL zu organisieren, dem Recht gleich, sich selbst ins Knie zu schießen. Dass dies – offenbar auch nach den Vorstellungen von Frau Nahles – der Inhalt der grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit in Deutschland sein soll, können wirklich nur die deutschen Großmaulmedien meinen.


[«*] Es gibt zwei Fälle, in denen ein  abgeschlossener Tarifvertrag für alle Arbeitnehmer, deren Arbeitsbereich angesprochen ist, gilt. Das ist einmal die Allgemeinverbindlichkeitserklärung durch das Bundesarbeitsministerium (die dann aber nicht nur einen Betrieb insgesamt, sondern alle Betriebe insgesamt betrifft).
Der zweite Fall ist eine individualvertragliche Verweisklausel auf den jeweils gültigen Tarifvertrag, mit der der jeweilige Arbeitgeber den nicht organsierten Arbeitnehmern eine Gleichbehandlung mit den organisierten Arbeitsnehmern zusichert. Im konkreten Fall spielt dies jedoch keine Rolle.


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