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Titel: Babyboomern droht schwieriger Abschied aus dem Erwerbsleben

Datum: 24. Juli 2007 um 14:35 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Demografische Entwicklung, Fachkräftemangel
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Nach einer empirischen Studie des „Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie“ (INIFES) kommen deutlich mehr Menschen im nächsten Jahrzehnt in die Spätphase des Erwerbslebens. Das droht die Probleme Älterer am Arbeitsmarkt zu verschärfen – denn die Berufschancen der 55- bis 64-Jährigen stehen schon jetzt in vielen Regionen und Branchen nicht gut.
Mit einem demografisch bedingten Fachkräftemangel ist in Deutschland in den nächsten 20 Jahren nicht zu rechnen. Doch die Arbeitskräfte werden älter – es gibt künftig deutlich mehr 55- bis 64-Jährige. “Für die regionale Arbeitsmarktpolitik wird dies auf Jahrzehnte hinaus die entscheidende demografische Herausforderung sein”, schreiben Professor Ernst Kistler, Andreas Ebert und Falko Trischler. Denn die Chancen, bis zur Rente im Beruf bleiben zu können, stehen je nach Region und Branche schon heute oft nicht gut – und könnten sich bei zunehmender Konkurrenz und einem höheren gesetzlichen Rentenalter noch verschlechtern.
Quelle: Böckler Impuls 12/2007

Ältere Beschäftigte
Babyboomern droht schwieriger Abschied aus dem Erwerbsleben
Deutlich mehr Menschen kommen im nächsten Jahrzehnt in die Spätphase des Erwerbslebens. Das droht die Probleme Älterer am Arbeitsmarkt zu verschärfen – denn die Berufschancen der 55- bis 64-Jährigen stehen schon jetzt in vielen Regionen und Branchen nicht gut.
Mit einem demografisch bedingten Fachkräftemangel ist in Deutschland in den nächsten 20 Jahren nicht zu rechnen. Doch die Arbeitskräfte werden älter – es gibt künftig deutlich mehr 55- bis 64-Jährige, prognostizieren Forscher des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie (INIFES). “Für die regionale Arbeitsmarktpolitik wird dies auf Jahrzehnte hinaus die entscheidende demografische Herausforderung sein”, schreiben Professor Ernst Kistler, Andreas Ebert und Falko Trischler. Denn die Chancen, bis zur Rente im Beruf bleiben zu können, stehen je nach Region und Branche schon heute oft nicht gut – und könnten sich bei zunehmender Konkurrenz und einem höheren gesetzlichen Rentenalter noch verschlechtern. Die Wissenschaftler haben umfassende Daten zu Demografie, Arbeitsmarkt und Rentengeschehen in den Regionen zusammengestellt. Ihr Projekt “Smart Region” wurde von der EU-Kommission und der Hans-Böckler-Stiftung gefördert und liefert Informationen für die lokale Arbeitsmarktpolitik.

Die Zahl der potenziellen Arbeitskräfte in Deutschland wird wachsen. Es starten mehr junge Menschen am Arbeitsmarkt als in Rente gehen – in den kommenden Jahren scheiden die eher schwach besetzten Kriegs- und Nachkriegsjahrgänge aus. Auch die Erwerbsneigung dürfte zunehmen. Beim so genannten Erwerbspersonenpotenzial entwickeln sich West und Ost auseinander: In Westdeutschland wächst das Reservoir an Arbeitskräften zwischen 2002 und 2015 von etwa 32,8 auf 34,9 Million und bleibt noch einige Zeit auf diesem Niveau. In den neuen Ländern hingegen sinkt die Zahl der Erwerbspersonen schon heute. Für die ostdeutschen Flächenstaaten ist bis 2020 eine Abnahme um etwa ein Fünftel zu erwarten. Doch selbst im Osten gilt, so Kistler und seine Mitarbeiter: Von einem demografisch bedingten Fach- oder gar Arbeitskräftemangel kann vorerst keine Rede sein.

Mehr Ältere am Arbeitsmarkt: Die Babyboomer kommen in die Spätphase des Erwerbslebens, darum erwarten die Wissenschaftler wesentlich mehr ältere Erwerbspersonen. Die Gruppe der 55- bis 64-Jährigen wird 2022 bundesweit um ein Drittel stärker besetzt sein als 20 Jahre zuvor. Dieser Trend trifft nicht alle alten Bundesländer in gleichem Maße: Bremen wird ihn weniger spüren, Baden-Württemberg stärker. Innerhalb der Flächenländer fächert sich das Bild weiter auf, so die INIFES-Forscher. Sie haben für die bayerischen Landkreise eine Prognose bis 2020 ausgewertet. Das Ergebnis: Der Zunahme der 55- bis 64-Jährigen je Landkreis streut enorm – zwischen praktisch null und über 60 Prozent. In München werden auch in 13 Jahren ähnlich viele Ältere leben wie heute. Im Kreis Eichstätt kommt es hingegen zu einer rasanten Alterung. Das dürfte daran liegen, dass in der Vergangenheit viele jüngere Arbeitskräfte in die Nähe Ingolstadts gezogen sind.

Die Perspektiven weichen je nach regionaler Wirtschaftsstruktur deutlich voneinander ab. “Es gibt keinen einheitlichen Arbeitsmarkt für Ältere, sondern es bestehen enorme regional-, branchen-, berufs- und qualifikationsspezifische Differenzierungen”, beobachten die Forscher. In Bundesländern wie Baden-Württemberg, Bayern und Hamburg stand 2005 jeder zweite 55- bis 64-Jährige im Berufsleben. In den neuen Bundesländern lagen hingegen die Quoten durchweg unter 40 Prozent. Für einen langen Verbleib im Job erweisen sich zwei Faktoren als entscheidend: die allgemeine Lage am Arbeitsmarkt und die regionale Wirtschaftsstruktur. So sind die Beschäftigungschancen Älterer im Dienstleistungssektor besser als in Industrie und Landwirtschaft. Weil Ältere oft in alten Industrieberufen tätig waren, sind sie von Jobverlusten in Folge des Strukturwandels besonders betroffen. Zudem scheidet aus Fertigungsberufen ein größerer Anteil aufgrund der Gesundheitsbelastungen vorzeitig aus.

Die Aussichten Älterer sind in vielen Berufen schlecht. Bei einigen Wirtschaftszweigen ist es nur sehr schwer möglich, das Rentenalter im Job zu erreichen – etwa in der Textil-, Bau- und Holzbranche. Generell sind die Anteile Älterer in Branchen niedrig, in denen hohe körperliche Belastungen anfallen. Risikozweige sind auch Chemie, Kunststoff, Papier und Druck. Hier gibt es aber regionale Unterschiede: An manchen Standorten können ältere Beschäftigte länger am Arbeitsplatz bleiben, wie eine Fallstudie zu bayerischen Arbeitsagenturbezirken zeigt. In der Regel aber addieren sich die Risiken: Gerade in Regionen mit schlechter Arbeitsmarktlage haben viele Ältere lange in Jobs mit hohen Belastungen gearbeitet. Aufgrund der Arbeitsbedingungen ist ein vorzeitiger Abschied in einer ganzen Reihe von Berufen üblich: Von den Zimmerern und Dachdeckern, die 2004 aus dem Erwerbsleben ausschieden, ging etwa jeder zweite mit einer Erwerbsminderungsrente. Bei den Bauausstattern waren es 48, bei Maurern 44, im Straßen- und Tiefbau 46 Prozent. Darüber hinaus fanden die Wissenschaftler noch eine Reihe bislang eher wenig beachteter Problemzonen: In den Sektoren Ernährung und Gastgewerbe arbeiten nur sehr wenige 55- bis 64-Jährige. Auch in Gesundheitsberufen ist die Quote Älterer niedrig- was auf die hohe Belastung in Pflegejobs hinweist. In akademischen Berufen sind dagegen die Chancen größer, lange im Arbeitsleben zu bleiben. Hoch Qualifizierte arbeiten häufiger in Dienstleistungsbranchen und sind darum weniger vom Strukturwandel bedroht; zudem sind sie geringeren Gesundheitsbelastungen ausgesetzt.

In Ostdeutschland gibt es inzwischen ganze Berufsgruppen, in denen überdurchschnittlich viele Ältere arbeiten. “Besonders hervor sticht dabei die Gruppe der Lehrer in Brandenburg und Thüringen”, so die Forscher vom INIFES. Einen weit überdurchschnittlichen Anteil 55- bis 64-Jähriger stellen sie auch bei den Ingenieuren, Chemikern und Physikern fest. Allerdings: Die hohe Quote in diesen Berufen ist nicht damit zu begründen, dass im Osten ein längerer Verbleib in diesen Berufen leichter fällt. Vielmehr sind die jüngeren Jahrgänge nur schwach besetzt, weil in Akademikerpositionen wenig eingestellt wurde und viele Hochqualifizierte der jüngeren Generation abgewandert sind. Zudem weisen die Forscher darauf hin, dass es gerade in technisch-naturwissenschaftlichen Berufen zahlreiche ältere Arbeitslose gebe. Auch wenn in der öffentlichen Debatte oft veraltete Qualifikationen als Grund herangezogen werden, sei “dies im wesentlichen eine Folge verfehlter, jugendzentrierter betrieblicher Personalpolitik.”

Es wird schwieriger, das EU-Beschäftigungsziel zu erfüllen. Bislang steht Deutschland im internationalen Vergleich nicht schlecht da. Das Ziel der Europäischen Union – jeder zweite 55- bis 64-Jährige soll einen Job haben – ist fast erreicht. Der Grund: Jahrelang ging die Zahl der Personen im Alter von 55 bis 64 deutlich zurück, so Kistler, Ebert und Trischler. “Das hat dazu geführt, dass in der Politik die Probleme Älterer am Arbeitsmarkt massiv unterschätzt werden”. Nun aber dreht sich der demografische Trend, weil geburtenschwache Jahrgänge ausscheiden und Babyboomer nachrücken. Die Wissenschaftler warnen vor den Folgen: Die Arbeitsmarktlage für Ältere werde sich dramatisch verschlechtern – wenn niemand gegensteuert. Das INIFES empfiehlt gezielte Unterstützung der Beschäftigten – etwa durch betriebliche Gesundheitsförderung und Weiterbildung.


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