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Titel: Europa und der kalte Pipeline-Krieg

Datum: 20. Mai 2015 um 14:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Energiepolitik, Ressourcen, Verbraucherschutz
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Nur sehr selten werden in den deutschen Medien die Themen „Energieversorgung“ und „Versorgungssicherheit“ thematisiert. Dies ist vor allem aus geostrategischer Sicht vollkommen unverständlich, da sich das Handeln der Akteure in den aktuellen Konflikten in der Ukraine und Mazedonien nicht zufriedenstellend erklären lässt, wenn man diese wichtigen Faktoren außer Acht lässt. In Europa tobt bereits seit vielen Jahren ein kalter Krieg um die Projektierung und den Bau von Erdgaspipelines, bei dem die Interessen der unterschiedlichen Akteure auch ein maßgebliches Motiv für deren Handlungen in den genannten Konflikten darstellen. Eine Sonderrolle nimmt hier – wie so oft – Deutschland ein, das gegen seine eigenen Interessen handelt. Von Jens Berger

Damit wir es auch im Winter warm und heimelig haben, benötigen wir Wärmeenergie. Rund die Hälfte aller deutschen Haushalte heizt mit Erdgas, das zu fast 50% aus Russland kommt. Insgesamt verbrauchen deutsche Abnehmer rund 84 Mrd. Kubikmeter Erdgas pro Jahr. Dieses Geschäft ist ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Mit rund 161 Mrd. Kubikmeter gehen mehr als 80% der russischen Erdgasexporte nach Europa und stellen damit den Grundstein der für Russland so wichtigen Deviseneinnahmen dar. Der Handel mit Erdgas hat jedoch eine Besonderheit: Will man den Energieträger effizient und ökonomisch wie ökologisch vertretbar über Tausende von Kilometern transportieren, kommen nur stationäre Transportleitungen, sogenannte Pipelines in Frage. Und da Deutschland und Russland keine gemeinsame Grenze haben, stellt der Bau und Betrieb dieser Pipelines ein Politikum von allergrößter Wichtigkeit dar.

Europa und der kalte Pipeline-Krieg

Die aktuelle Versorgungssituation

Die großflächige Versorgung deutscher Haushalte mit Erdgas begann paradoxerweise mitten im Kalten Krieg. Als Ergebnis der „Neuen Ostpolitik“ wurde in den frühen 1970ern auch Westdeutschland an das in den 1960ern gebaute sowjetische Pipelinesystem angeschlossen, mit dem westsibirisches Erdgas in die Länder des ehemaligen Ostblocks geliefert wurde. Auch heute noch stellt das sogenannte „Transgas-System“, das sich aus den russischen Pipelines Druschba und Sojus speist, mit einer maximalen Transportmenge von 120 Mrd. Kubikmeter pro Jahr das größte Pipelinesystem der Welt dar. Die Transgas-Trasse verläuft mit mehreren Nebensträngen über die Ukraine, die Slowakei, Tschechien und Österreich. Ergänzt wurde Transgas in den späten 1990ern durch die Jamal-Pipeline, die maximal 33 Mrd. Kubikmeter Erdgas über Weißrussland und Polen nach Deutschland transportieren kann.

Bereits in den 1990ern war die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen in Deutschland ein heißes Thema. Um sich nicht all zu sehr von Russland abhängig zu machen, ergänzte man in diesem Jahrzehnt das Ost-West-Versorgungssystem durch ein Nord-Süd-Versorgungssystem, über das norwegisches Erdgas aus der Nordsee nach Ostfriesland und von dort in die großen deutschen Fernversorgungssysteme eingespeist wird. Über die Pipelines Europipe I und II und Norpipe können bis zu 55 Mrd. Kubikmeter Erdgas ins deutsche Versorgungsnetz eingespeist werden. Ergänzt werden diese Lieferungen durch kleinere Nordsee-Kontingente aus den Niederlanden.

Diversifikation erwünscht

Spätestens im Winter 2005 wurden die Forderungen nach einer noch größeren Diversifikation der Erdgaseinfuhren immer lauter. Dies war eine direkte Folge des ersten ukrainisch-russischen Gasstreits und hatte zwei unterschiedliche Aspekte. Da die so wichtigen Transgas-Leitungen komplett über ukrainisches Territorium verlaufen, hat die Ukraine als Transitland eine elementare Bedeutung für die Versorgungssicherheit Deutschlands und großen Teilen Ost- und Mitteleuropas. Gleichzeitig ist die Ukraine jedoch einer der größten europäischen Gasverbraucher, was vor allem eine Folge der vorsintflutlichen Energieeffizienz im Lande ist. Diese Situation war nur dann aufrechtzuerhalten, wenn die Ukraine entweder weiterhin von Russland einen riesigen Preisnachlass für „politisches Wohlverhalten“ bekommt oder ihrerseits unilateral horrende Transitgebühren für das Gas erhebt, das via Transgas in andere Länder transportiert wird.

2005 wurden zwei Punkte offensichtlich: Die Ukraine nutzt ihre Rolle als Transitland für Erdgaslieferungen rücksichtslos, um ökonomische Vorteile zu erlangen und Russland nutzt die Erdgaslieferungen in die Ukraine, um politischen Druck zu machen. Es ist völlig egal, wem man nun die Schuld an diesen immer wiederkehrenden ukrainisch-russischen Gaststreits gibt – es steht jedoch fest, dass das Rückgrat der europäischen Gasversorgung, die Transgas-Leitungen, im Zweifel als unsicher zu bewerten sind.

Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Es ist aus Kundensicht nicht besonders klug, sich einem Monopolanbieter auszuliefern. Und der russische Gaskonzern Gazprom verfügt mit seinem Marktanteil von fast 50% zweifelsohne über eine sehr mächtige Position auf der Angebotsseite. So besteht die sehr reale Gefahr, dass Gazprom künftig die Preise diktieren kann, zumal bei den leitungsgebundenen Versorgungssystemen keine denkbare Substitution der russischen Gaslieferungen möglich ist.

Die europäische Perspektive

Für Deutschland stellte sich die Situation 2005 dank Jamal (über Weißrussland und Polen) und der norwegischen Nordseepipelines jedoch vergleichsweise entspannt dar. Wesentlich unsicherer war hingegen die Versorgungssicherheit der Balkanstaaten und mit Abstrichen auch die Ungarns und Österreichs, die allesamt zu einem großen Teil von Lieferungen abhängen, die über ukrainisches Gebiet transportiert werden. Zu allem Überfluss mischte sich nun auch die EU ein und machte die „Diversifizierung der Energieimporte“ zur Sache Brüssels.

Doch woher sollen die Gasimporte kommen, wenn man sich von Russland unabhängig machen will? Die ebenfalls relativ reichhaltigen Erdgasvorkommen in Nordafrika sind bereits damit ausgelastet, die geografisch benachbarten Regionen auf der iberischen Halbinsel, in Südfrankreich und Süditalien zu versorgen. Deutschland und Nordeuropa bekommen nahezu die Hälfte ihres Erdgases aus Fördergebieten in der Nordsee. Doch diese Vorkommen haben ihren Förderpeak bereits überschritten und die Reserven neigen sich langsam dem Ende zu.

Flüssiggas für den europäischen Markt stammt vor allem aus Nigeria und Katar, die hohen Preise für Transport und Logistik lassen jedoch eine Expansion nur in Grenzen zu. Russisches Gas ist bereits heute nicht substituierbar. Wenn man sich die Weltkarte anschaut, so kommen nur zwei Regionen in Frage, aus denen alternative Erdgaslieferungen nach Mitteleuropa kommen könnten – das Kaspische Meer und der Persische Golf.

Nabucco – “Great Game” am Kaspischen Meer

Da der Persische Golf aus politischen und vor allem sicherheitstechnischen Gründen keine sinnvolle Alternative darstellt, konzentrierte man sich auf die Gasvorkommen am Kaspischen Meer. Als Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die EU-Ratspräsidentschaft übernahm, legten Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier den Fokus der EU-Außenpolitik auf die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres. Unter dem Schlagwort „neue EU-Ostpolitik” wollte man im „Great Game” um die Energiereserven der Region künftig eine bedeutendere Rolle spielen. Um das Gas nach Europa zu transportieren, projektierten europäische Gasversorger eine Pipeline mit dem schönen Namen Nabucco, die Gas aus Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan über Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn zum zentralen Energiehub im österreichischen Baumgarten transportieren sollte. Politisch flankiert wurde dieses Projekt unter anderem vom ehemaligen deutschen Außenminister Joschka Fischer, der bei Nabucco als Lobbyist anheuerte.

Auch wenn sich Steinmeier und „EU-Außenminister” Solana bei den „lupenreinen Despoten” in Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan gegenseitig die Klinke in die Hand gaben, genützt hat es ihnen nicht viel. Die russische Gazprom stellte sinnbildlich Blankoschecks aus und erwarb binnen weniger Monate das Kaufrecht für einen Großteil des geförderten Erdgases am Kaspischen Meers. Nabucco existierte zwar auf dem Reißbrett noch bis 2013 – ohne nennenswerte Gasmengen, die in eine solche Pipeline eingespeist werden können, rechnet sich ein solches Projekt jedoch nicht. Die an sich gute Idee einer europäischen Pipeline, die Gas unter kompletter Umgehung russischen und ukrainischen Gebiets in das Herz Europas transportieren sollte, ging schlussendlich am Dilettantismus der Verantwortlichen und der europäischen Außenpolitik zugrunde.

North-Stream – Schröders Geniestreich

Wesentlich mehr Erfolg hatte ein Projekt, das sowohl Wladimir Putin als auch Gerhard Schröder zur Chefsache machten: die Ostseepipeline North-Stream. North-Stream verläuft von russischen Wyborg bis ins deutsche Lubmin komplett auf dem Boden der Ostsee und umgeht somit teure und potentiell unsichere Transitstaaten. Über die 2011 eingeweihte Pipeline können pro Jahr bis zu 55 Mrd. Kubikmeter Erdgas nach Deutschland transportiert werden. Damit sinkt die Abhängigkeit Deutschlands vom Transitland Ukraine und den Lieferungen über das Transgas-System erheblich. Anders als Nabucco ist North-Stream jedoch ein Pipelinesystem, das zu 100% russisches Gas der Gazprom liefert. Die Abhängigkeit von Russland und den ökonomischen Interessen der Gazprom hat sich durch North-Stream also nicht verringert, sondern erhöht.

Unterschiedliche Akteure, unterschiedliche Interessen

Für Deutschland stellt sich die Situation vergleichsweise einfach und dennoch unlösbar dar: Deutschland hat Interesse an einer sicheren und ausreichenden aber wenn möglich auch diversifizierten Gasversorgung. Nabucco wäre im größten Interesse Deutschlands gewesen, scheiterte jedoch an politischer Inkompetenz. Jede Pipeline, mit der die unsichere Ukraine umgangen werden kann, liegt ebenfalls im strategischen Interesse Deutschlands.

Russland hat ein Interesse, möglichst viele Pipelines mit möglichst großen Transportvolumen zu bauen, mit denen russisches und kaspisches Erdgas unter Umgehung der Ukraine in die EU geliefert werden kann.

Die Balkanstaaten inkl. Griechenland haben wiederum ein Interesse, dass eine der großen Pipelines über ihr eigenes Territorium verläuft, so dass sie einerseits von rabattierten Preisen profitieren und anderseits Transitgebühren kassieren können. Eine besondere Rolle spielt hier die Türkei, die liebend gerne die Rolle der Ukraine als größtes Transitland übernehmen würde und sich davon nicht nur eine Stärkung ihrer geostrategischen Position, sondern vor allem preiswertes Gas für die energieintensive Industrie verspricht.

Anders sieht es für die USA und Großbritannien aus. Beide Staaten haben kein Interesse daran, dass Kontinentaleuropa überhaupt Erdgas aus Russland bekommt. Hier kommt auch ein weiterer Aspekt ins Spiel: Bei allen vorhandenen und geplanten Projekten, bei denen es um russisches Gas geht, spielen die Multis von „Big Oil“ keine Rolle. Die Ausnahme von der Regel bildete das Projekt „White-Stream“, eine Totgeburt, die auf Julia Timoschenko zurückgeht und die der EU sogar zeitweise „Priorität“ einräumte. White-Stream sollte die Ukraine via Aserbaidschan, Georgien und Rumänien mit rund 9 Mrd. Kubikmetern Gas pro Jahr versorgen und in einer späteren Ausbauphase bis zu 32 Mrd. Kubikmeter über ukrainisches Gebiet nach Westeuropa liefern. Das – öffentlich nicht bekannte – White-Stream-Konsortium soll aus Finanzunternehmen aus London und New York bestanden haben. Nach der Abwahl von Julia Timoschenko im Jahre 2010 hörte man jedoch nie wieder etwas von diesem Projekt und damit war auch der Einstieg von „Big Oil“ in den europäischen Gasmarkt kein Thema mehr.

An Transgas sind neben der Gazprom und zahlreichen lokalen Versorgungsunternehmen die deutsche E.ON Ruhrgas und die österreichische OMV beteiligt. An Jamal ist neben der Gazprom das polnische Staatsunternehmen PGNiG beteiligt und an North-Stream sind neben der Gazprom E.ON Ruhrgas, die BASF-Tochter Wintershall und zwei niederländische und französische Versorger beteiligt. Die Energie-Giganten USA und Großbritannien stehen beim Geschäft rund um die europäische Gasversorgung außen vor. Und dies passt ihnen natürlich gar nicht. Auch das deutsch-russische North-Stream-Projekt wollten die USA damals am liebsten stoppen – sie scheiterten jedoch. Ginge es nach den ökonomischen und geostrategischen Interesse der USA und Großbritanniens müssten sämtliche russisch-europäischen Pipeline-Projekte in der Planung gestoppt werden und stattdessen sollte Europa sich auf den Import von Flüssiggas konzentrieren.

Vor allem von Seiten der USA wird bereits seit Jahren international kräftig die Werbetrommel für LNG-Lieferungen in die EU gerührt . Dafür gibt es einen guten Grund. Durch den Fracking-Boom verfügen die USA über ein Überangebot an Gas, das krisenbedingt kaum mehr Abnehmer findet, wodurch der Preis fast ins Bodenlose fiel. Nennenswerte Exporte in die EU würden den Preis stabilisieren und damit die Investitionskosten der großen Erdgasförderer, die zugleich auch die größten Erdölkonzerne sind (z.B. Exxon, Chevron, BP), retten. Selbstverständlich wären auch die Lieferungen in die EU ganz sicher nicht zum wirtschaftlichen Nachteil dieser Konzerne. Wichtig ist jedoch hervorzuheben, dass Fracking-Gas – wenn man einmal die Folgekosten ignoriert – zwar vor Ort sehr preisgünstig ist, der Transport in ferne Regionen das billige Fracking-Gas jedoch extrem teuer macht. Die Zeche müsste, wie meist, der europäische Endabnehmer zahlen. Und wenn man bedenkt, dass eine theoretische vollständige Substitution der russischen Gaslieferungen durch LNG-Importe Kosten in Billionenhöhe mit sich bringen würde, kann einem da nur angst und bange werden.

TAP und South-Stream – neue Pipelines für die Südschiene

Einen Achtungserfolg konnten die Konkurrenten der Gazprom 2013 erzielen, als Aserbaidschan einem Konsortium aus europäischen Energieversorgern den Zuschlag für den Abtransport für das Erdgas, das im neu erschlossenen Schah-Denis-II-Feld gefördert wird, erteilt hat. An diesem Projekt ist über den Umweg des Schah-Denis-Konsortiums übrigens auch die britische BP beteiligt. Über die Trans-Adria-Pipeline TAP sollen via Türkei ab 2018 bis zu 20 Mrd. Kubikmeter pro Jahr über Griechenland, Albanien und die Adria nach Süditalien und von dort aus gen Norden transportiert werden. Im März dieses Jahres feierte man in der Türkei den Spatenstich für die Zubringer-Pipeline für TAP.

Weniger Erfolg hatte das russisch-europäische Projekt South-Stream. South-Stream war von russischer Seite als Rundumschlag gegen die Ukraine konzipiert. Über das Schwarze Meer wollte man via Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich maximal 63 Mrd. Kubikmeter pro Jahr nach Mitteleuropa liefern und damit das alte Transgas-System komplett überflüssig machen und nebenbei auch die Position von Weißrussland und Polen als Transitländer schwächen. Doch das Projekt, an dem neben Gazprom auch die italienische ENI, die französische EDF sowie die deutsche Wintershall beteiligt waren, erfuhr bereits ziemlich früh Gegenwind aus der EU, da South-Stream angeblich keinen diskriminierungsfreien Zugang zur Pipeline gewährleistete. Hinter den Kulissen wurde jedoch recht schnell klar, dass die EU South-Stream blockieren wollte, um Nabucco zu pushen. Nach dem Ende von Nabucco nahmen auch die South-Stream Planungen wieder Fahrt auf und 2013 wurde sogar der Baubeginn gefeiert.

Mit der Annexion der Krim änderte sich die Einstellung der EU zum Projekt jedoch abermals. Im März 2014 verkündete EU-Energiekommissar Günther Oettinger den Bau von South-Stream zu verzögern. Und dies verfolgte er auch mit allen Mitteln. Im Juni 2014 leitete die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Bulgarien ein, das ziemlich schnell einknickte und seine weitere Unterstützung des Projekts von der Zustimmung der EU-Kommission abhängig machte. Im Dezember 2014 wurde South-Stream dann endgültig und offiziell beerdigt.

Das Ende von South-Stream ist ein frappierendes Beispiel dafür, wie die EU und vor allem Deutschland seit Beginn der Ukraine-Krise gegen die eigenen Interessen handelt. South-Stream hätte Mitteleuropa und vor allem den Balkan endgültig unabhängig vor dem unsicheren Transitland Ukraine gemacht. Doch dies ist offenbar weder in Brüssel noch in Berlin gewollt. Warum eigentlich? Es ist klar, dass eine Stärkung der Energiesicherheit Mittel- und Osteuropas nicht im Sinne (s.o.) der USA, Großbritanniens und der mit ihnen assoziierten Transatlantiker ist. Dies kann und darf aber nicht der Maßstab für politische Entscheidungen sein.

Turkish-Stream – der kalte Pipeline-Krieg erreicht Mazedonien

Erstaunlich schnell zauberte die Gazprom jedoch bereist im Januar 2015 ein Alternativprojekt für South-Stream aus dem Hut – eine Pipeline, die über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn die für South-Stream geplanten maximal 63 Mrd. Kubikmeter Erdgas zum österreichischen Gas-Hub Baumgarten liefert. Der Arbeitstitel für dieses Projekt ist Turkish-Stream. Im Prinzip ähnelt Turkish-Stream ziemlich genau dem gescheiterten South-Stream-Projekt, nur dass die Trassenführung geändert wurde und man das renitente Bulgarien nun gegen Griechenland und Mazedonien ausgetauscht hat. Und von da an ging es Schlag auf Schlag. Am 7. April trafen sich die Außenminister Griechenlands, Mazedoniens, Serbiens und Ungarns in Budapest, um Möglichkeiten für eine Beteiligung an Turkish-Stream auszuloten. Kurz danach vereinbarten der griechische Premier Tsipras mit Wladimir Putin eine Absichtserklärung für den griechischen Teil von Turk-Stream. Wenige Tage später rauschte der Sondergesandte für Energiefragen im US-Außenministerium Amos Hochstein in Athen auf und mache den Griechen unmissverständlich klar, dass es nicht im „Interesse der Griechen“ sein könne, ein russisches Pipeline-Projekt zu unterstützen. Wie Athen sich entscheiden wird, ist noch vollkommen offen. Fest steht zumindest, dass die potentielle Zusage für Turkish-Stream für die griechische Regierung einen wertigen Pfand in den fortlaufenden Verhandlungen darstellt.

Als schwächstes Glied in der Trassenführung von Turkish-Steam scheinen die Gegner der Pipeline den kleinen Balkanstaat Mazedonien ausgemacht zu haben. Die herrschende konservative Regierung Gruesvski befürwortet Turkish-Stream, die Opposition unter Zoran Zaev lehnt das Pipeline-Projekt ab. Es gibt zwar keine Anzeichen dafür, dass die Pipeline-Frage bei den momentan stattfinden Massenprotesten und Auseinandersetzungen in Mazedonien eine Rolle spielt – die Einschätzung, Haltung und Handlungsoptionen der übrigen Akteure sind jedoch zweifelsohne von der Pipeline-Frage beeinflusst. So ist es kein Zufall, dass die USA und – mit Abstrichen auch die EU – die auf dem Papier sozialdemokratische Opposition ausgerechnet jetzt verbal unterstützten und die Regierung ermahnen, die Menschenrechte und die Pressefreiheit zu achten – gerade so, als hätte dies für sie je eine Rolle gespielt, schließlich sind diese Vergehen alles andere als neu und ließen sich mühelos auf sämtliche Vorgängerregierungen, egal ob konservativ oder sozialdemokratisch, anwenden. Spiegelbildlich ist auch die plötzliche Begeisterung Moskaus für die konservative Regierung, die bis dato als einer der letzten Fans von Ronald Reagan und der NeoCons galt, ohne die Pipeline-Frage kaum zu erklären. Ohne dies direkt zu verantworten scheint das kleine Mazedonien durch das Ende von South-Stream in den Fokus der großen geostrategischen Interessen der Großmächte geraten zu sein. Ende offen.

Der Balkan hat die Schlüsselrolle inne

Wenn Russland seine Energieexporte in die EU beibehalten oder gar steigern will, kommt es beim momentanen Kräfteverhältnis nicht um den Neubau einer Pipeline auf dem Balkan herum. Lediglich die deutsch-russische North-Stream-Pipeline ist nicht durch politisch wankelmütige Transitländer bedroht. Jamal führt über das oft widerspenstige Weißrussland und das nationalistisch und streng transatlantisch orientierte Polen. Das Transgas-System führt über den Boden der Ukraine und ist damit im höchsten Maße gefährdet. Außereuropäische Alternativen sind ebenfalls rar. Die Türkei ist bereits erschlossen, zwischen Russland und Südasien gibt es mit dem Himalaya und dem Hindukusch zwei geographische Hürden, die kaum überwindbar sind und Ostasien ist ein Markt, der sehr weit entfernt von den westsibirischen und kaspischen Energievorkommen ist. Zwar wird momentan im Osten des Landes mit der „Kraft Sibiriens“ (O-Ton Putin: „Das größte Bauprojekt der Welt“) eine gigantische Erdgaspipeline gebaut, die eines Tages bis zu 38 Mrd. Kubikmeter nach China transportieren soll. Doch das Gas stammt aus dem ostsibirischen Jakutien und könnte ohnehin nie nach Europa geliefert werden. West-China soll eines Tages über die Altai-Pipeline an die westsibirischen Gasvorkommen angeschlossen werden. Aber die 30 Mrd. Kubikmeter pro Jahr, die über die Altai in die Provinz Xinjiang geliefert werden sollen, sind bereits das Maximum, das vor Ort benötigt wird. Die Entfernung zwischen Xinjiang und den energiehungrigen Industrieregionen Ostchinas ist ungefähr so groß wie die Entfernung von Lissabon nach Moskau – selbst für die emsigen Chinesen stellt dies ein großes Problem dar.

Daher stellt der Balkan für Russland eine geostrategisch ungemein wichtige Region als Energiekorridor für die Gaslieferungen nach Mittel- und Westeuropa dar. Dies wissen die USA und ihre Verbündeten ganz genau. Nicht die Menschenrechte, Freiheit oder Demokratie, sondern der Verlauf der Blutbahnen unserer modernen Gesellschaft, der Pipelines, über die wir unsere Energie beziehen, ist der Grund für das außen- und sicherheitspolitische Engagement auf dem Balkan. Was wir hier erleben, ist eine Neuauflage des „Great Game“ – wer den Balkan beherrscht, beherrscht die energiepolitische Zukunft Mitteleuropas und vor allem Deutschlands. Es ist vollkommen unverständlich, warum Deutschland hier nicht für seine eigenen Interessen, sondern stattdessen im Schlepptau der Transatlantiker gegen seine eigenen Interessen kämpft. Eben so unverständlich ist, warum die großen Medien dieses Thema weitestgehend ignorieren, so dass der Bevölkerung überhaupt nicht bewusst wird, um was hier gespielt wird.


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