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Titel: Kurswechsel der SPD? Linksruck?

Datum: 28. Oktober 2007 um 14:41 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Sozialstaat, SPD
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Der Innenpolitikchef der Süddeutschen Zeitung attestiert der SPD in einem Kommentar über den SPD-Parteitag einen Kurswechsel. „Die Beck-SPD des neuen Programms ist eine andere SPD als die Agenda-SPD, …“. Ich gebe zu, dass ich das gerne glauben würde, aber ich kann es leider nicht nachvollziehen. Nicht nur, weil Beck selbst das für „hanebüchen“ hält. Albrecht Müller.

Zunächst: Eine Kurskorrektur der SPD wäre schon um der Pflege unserer Demokratie willen notwendig. Wenn die beiden großen Parteien sich so ähneln wie CDU/CSU und SPD in den letzten Jahren, dann gibt es keine mehrheitsfähige linke Alternative. Und die Leute wenden sich ab in die politische Enthaltung. Eine den neoliberalen Grundlinien der Union angepasste SPD ist überflüssig, weil es das Original schon gibt.

Mit dieser Begründung eng verflochten ist eine ergänzende: Die Mehrheit unseres Volkes fühlt sich heute von keiner der großen Parteien mehr repräsentiert. Die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze einschließlich der Attitüde des Umgangs mit den Betroffenen sind Symbole dieser Distanz zwischen politisch Handelnden und den von den Entscheidungen Betroffenen. Die politisch Handelnden fühlen sich als Subjekte, die die Objekte (das betroffene Volk) „fordern“ oder „fördern“ können („objektiv notwendig“, „alternativlos“, so die ständigen Behauptungen von Schröder) Und die oben Handelnden merken schon gar nicht mehr, dass sie eine grundlegende Distanz zwischen sich und den Betroffenen, die ja zugleich Wählerinnen und Wähler sind, schaffen.

Ein Kurswechsel hätte also als erstes diesen herablassenden Umgang mit den Bürgerinnen und Bürgern korrigieren müssen. Davon kann keine Rede sein. Auf dem Parteitag wurde genau dieses Denken „Wir sind hier und ihr seid dort, vielleicht müssen wir euch ein bisschen mehr fördern als fordern, aber Objekte bleibt ihr.“ beibehalten. Übrigens: Wer auf die erkennbaren Wünsche der Menschen eingeht, wird mit dem Etikett „Populist“ abgestempelt und stigmatisiert.

Wie absurd dieses Denken ist, kann man an einem der Hauptstreitpunkte klarmachen: der Debatte um die Verlängerung von ALG1 und damit dem Umgang mit der Arbeitslosenversicherung. Eine partnerschaftlicher, demokratischer Umgang mit dem Volk würde verlangen, dass man endlich anerkennt, dass die Mehrheit der Menschen bisher davon ausging, mit ihren Arbeitslosenversicherungsbeiträgen eine Versicherung abzuschließen, die Grundlagen für diese Versicherung mit den Beiträgen selbst zu leisten und eben nicht Almosenempfänger des Staates zu sein. Dieses Verständnis von Arbeitslosenversicherung verbietet den mit Hartz IV üblich gewordenen Umgang mit den Betroffenen. Es verbietet die üblich gewordene Attitüde, jeder arbeitslos gewordene oder potentielle werdende sei ein Drückeberger, auf den man nur gehörig Druck ausüben müsse, und, wenn er trotzdem nicht in Arbeit komme, ein Abzocker. Es würde verlangen, das Vertrauen darin, eine solidarische Arbeitslosenversicherung zu haben, für alle Altersstufen wiederherzustellen. Das ist auf dem Parteitag nicht gefordert und nicht beschlossen worden. Damit bin ich bei einem ersten Kriterium für die Diagnose eines Kurswechsels: die Abkehr von wichtigen Elementen der Agenda 2010.
Obwohl der Vorschlag Becks einer minimalen Verlängerung des Arbeitslosengeldes wochenlang die Schlagzeilen bestimmte, wurde auf dem Parteitag ohne Aussprache darüber abgestimmt. Auch die Gegner meldeten sich nicht zu Wort. Warum wohl?
Eine Diskussion dieses Themas schien zu gefährlich. Wäre doch dabei öffentlich geworden, dass Teile der SPD die Hartz-Reformen nach wie vor heftig kritisieren.
Und dabei wäre vielleicht deutlich geworden, dass hinter der Annahme des Beck’schen Vorschlags tatsächlich ein kritisches Potential in der SPD gegen die Agenda-Politik besteht. Wie durch den Coup mit der Neuwahlentscheidung hat die Parteitagsregie ein weiteres Mal eine Diskussion darüber oder eine kritische Analyse verweigert.

Eine wirkliche Kurskorrektur müsste aus meiner Sicht auf sachlich berechtigte Wünsche und Vorstellungen der Menschen eingehen und praktische Konsequenzen haben. Was das praktisch heißt, liegt auf dem Tisch:

  1. Die Mehrheit der Menschen will solidarische Lösungen für das Zusammenleben, für die Absicherung der Risiken, alt zu werden, pflegebedürftig zu werden, arbeitslos zu werden, krank zu werden. Die Mehrheit will mehr Gerechtigkeit. Wenn Beck von der „solidarischen Mehrheit“ spricht, dann signalisiert er, dass er dies verstanden hat. Aber das müsste mehr Konsequenzen haben als die minimale Verlängerung des ALG1 und die Forderung nach einem Mindestlohn, so vernünftig beides auch ist. Die SPD müsste klar erklären, dass sie das Vertrauen in die Arbeitslosenversicherung (siehe oben) und auch das Vertrauen in die gesetzliche Rente wieder herstellen will. Sie ist von Letzterem meilenweit entfernt. Gerade Franz Müntefering ist einer der Hauptprotagonisten für den Ausbau der Privatvorsorge z.B. durch die Riester-Rente und damit faktisch für die Entlassung eines Großteils der Menschen in die Altersarmut – jenes Teils nämlich, die sich angesichts ihrer Einkommensverhältnisse weder Rürup-Rente noch Riester-Rente leisten können, und dem der SPD-Arbeits- und Sozialminister und die gesamte Koalition wie schon Rot-grün zumutet, mit Lohnsteuer und Mehrwertsteuer die Subventionen für die Privatvorsorge der etwas Besserverdienenden zu bezahlen – denn sie sind die eigentlichen Gewinner der Riester-Rente. – Das ist das Gegenteil von solidarischer Lösung oder solidarischer Mehrheit. Würde man sarkastisch sein, könnte man sogar erklären, dass hier doch eine solidarische Mehrheit herangezogen wird, nämlich die der finanziell Minderbemittelten für die finanziell Bessergestellten. Nach wie vor hat nur ein Drittel, nämlich 9 von knapp 27 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten, einen Riestervertrag abgeschlossen. Die knapp 7 Millionen Arbeitslose und Hartz-IV-Aufstocker oder die Billigjobber und die meisten Leiharbeiter können an eine private Alterssicherung gar nicht denken.

    Wie wichtig es für das Handlungsvermögen der SPD in der Koalition wäre, die oben skizzierte Präferenz für solidarische Absicherung wieder zu entdecken, wird jetzt prompt am neuen Vorstoß des CSU-Bundeswirtschaftsministers Glos erkennbar. Er schlägt vor, statt der Verlängerung von ALG1 für die Älteren eine private Zusatzversicherung anzubieten. Das ist nichts weiter als die Analogie zur Riester-Rente. Glos und Müntefering sind Brüder im Geist. Wie will die SPD den Affront von Glos gegen ihren gerade entschiedenen Vorstoß für die Verlängerung des ALG1 abwehren, wenn sie sich nicht grundsätzlich für die solidarische Absicherung und damit für die Wiederbelebung der gesetzlichen Rente statt der privaten Vorsorgemodelle entscheidet? Ich kann es auch personalisieren: Wenn der Kurswechsel glaubhaft sein sollte, dann müsste die SPD Franz Müntefering aus dem Kabinett abziehen.

  2. Die Mehrheit misst dem Staat eine wichtige Verantwortung und Aufgabe bei der Daseinsvorsorge zu und ist skeptisch gegenüber Privatisierungen. Das gilt für den öffentlichen Verkehr wie auch für Wasserversorgung, für Schulen und Universitäten und so weiter. Dass die große Mehrheit so denkt, ergeben Umfragen immer wieder. Das zieht sich von einer Umfrage zur Einstellung zum Sozialstaat, die wir im Kanzleramt in den siebziger Jahren veranlasst haben, über die Umfrage von Allensbach im Auftrag des Instituts der deutschen Wirtschaft und der dann gegründeten Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft von 1999 bis zu den aktuellen Umfragen über die Privatisierung der Bahn. Die Mehrheit der Menschen hält die Rolle des Staates für sehr wichtig und betrachtet die Privatisierungen von Leistungen der Daseinsvorsorge äußerst skeptisch.

    Der Parteitag der SPD wäre eine gute Gelegenheit gewesen, bei diesem Thema eine deutliche Kurskorrektur zu beschließen. Die Mehrheit ist gegen den Börsengang der Bahn, die Verantwortlichen im Deutschen Bundestag und auch in der Regierung können den Börsengang sachlich nicht begründen, der Verkehrsminister sagt öffentlich die Unwahrheit, wenn er wie auch am Samstag behauptet, ohne Börsengang könne die Bahn nicht mit dem notwendigen Kapital ausgestattet werden, der für diese Fragen zuständige CDU-Abgeordnete Königshofen erklärt im Deutschen Bundestag offen: „Man fragt sich, warum wir das tun.“
    Hier hätte es auch in der Koalition keinen einseitigen Konflikt zwischen den Parteien gegeben, sondern einen Konflikt zwischen jenen, die das Vernünftige und von der Mehrheit der Menschen Gewünschte tun – die Bahn nicht zu privatisieren -, und jenen, die mit großen Interessen derer verbunden sind, die an der Privatisierung und am Privatisierungsvorgang Millionen verdienen wollen. Beck hätte hier die Gelegenheit gehabt, sich als Kämpfer gegen die politische Korruption größten Stils und als Wahrer des Volksvermögens zu profilieren. (Siehe dazu meine Rede „Machtwahn: die wirkliche Korruption sieht ganz anders aus“) Und was geschah: der neue Vorsitzende intervenierte zu Gunsten der Abzocker und opferte für diese großen Interessen seine erste Vertrauensfrage. Für diesen Zweck! Unvorstellbar und alles andere als ein Kurswechsel. Es ist die Fortsetzung des Schröderschen Kurses der Begünstigung der internationalen Finanzindustrie, der von Merkel voll mitgetragen wird.
    Zum Kurswechsel auf diesem Feld hätte auch gehört, die Korrektur aller sonstigen Begünstigungen der Heuschrecken zu fordern: an erster Stelle die Steuerbefreiung der Gewinne bei Verkäufen von Unternehmen und Unternehmensteilen. Zum Kurswechsel hätte gehört, den wortreichen Klagen von Franz Müntefering vom April und Mai 2005 über die Heuschrecken endlich auch Taten folgen zu lassen. Weil hier nichts geschieht und auch Müntefering selbst keinen Vorstoß in diese Richtung macht, wird immer deutlicher, dass sein Klagen von 2005 reine Stimmungsmache war. Nichts geschieht, obwohl wir hier klare Handlungsfreiheit hätten.

  3. Stattdessen – und damit bin ich bei einem dritten Kriterium für einen Kurswechsel, das wir hier in den NachDenkSeiten schon mehrmals genannt haben: ein solcher Kurswechsel ist nur glaubhaft, wenn er wenigstens ansatzweise seinen Niederschlag in den Personalvorschlägen und den dann folgenden Wahlen findet. Mit Steinmeier und Steinbrück als stellvertretende Vorsitzende und mit Barbara Hendricks als Schatzmeisterin ist das Gegenteil eines Kurswechsels vorbestimmt. Andrea Nahles ist als einzige Linke viel zu schwach und auch schon „gewendet“, um dieser geballten Front rechter und neoliberal geprägter Personen in der engen Führung Paroli bieten zu können. Beck hat damit auch in der Parteispitze eine eindeutig neoliberal geprägte Mehrheit verankert. Die SPD-Riege in der Bundesregierung ist sowieso schon so geprägt: außer der nicht dazugehörenden Heidi Wieczorek-Zeul nur Rechte: Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, Gabriel, Tiefensee. – Wenn der Parteivorsitzende einen Kurswechsel gewollt hätte, hätte er in der Parteispitze ein Gegengewicht schaffen müssen. Das ist nicht geschehen und wird nachhaltige Folgen für den Mangel an Umsetzung dessen haben, was auf dem Parteitag an progressiveren Beschlüssen gefasst worden ist.
  4. Das vierte Signal für einen Kurswechsel hätte ein klares Bekenntnis zur beschäftigungspolitischen Verantwortung und damit zur verstärkten Anwendung makroökonomischer Politik sein müssen. Stattdessen feierten die führenden Sozialdemokraten den angeblichen Erfolg der Agendapolitik beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Die Reformpolitik hat nahezu nichts dazu beigetragen. Und was schlimmer ist: der kleine Aufschwung ist schon wieder am Verdursten, weil die Konsumnachfrage enorm schwächelt. Die Sozialdemokraten haben – auch repräsentiert durch Steinbrück und Müntefering – massiv zu diesem Unheil beigetragen. Sie haben sowohl die Mehrwertsteuererhöhung um drei Punkte als auch die massive Sparförderung und damit Konsumbeschneidung durch Förderung der Privatvorsorge maßgeblich zu verantworten. Kurskorrektur hätte bedeuten müssen, sich von den angebotsökonomischen Theorien der Herrschenden wenigstens ein Stück weit zu lösen, sich guter sozialdemokratischer Tradition in der Beschäftigungspolitik zu besinnen und einen modernen Mix aller möglichen wirtschaftspolitischen Instrumente zu fordern und umzusetzen. Kurskorrektur hätte verlangt, mehr Kompetenz zu zeigen. Das wäre auch nötig, weil die weitere konjunkturelle Entwicklung ausgesprochen labil ist. Eine rechtzeitig eingeleitete, sachlich richtige, makroökonomische Politik hätte der SPD hohe Sympathien bei allen verschafft, die unter dem Mangel an Binnennachfrage leiden. Das sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch ein großer Teil des Mittelstands im Einzelhandel, im Handwerk und bei den für den Binnenmarkt produzierenden Gewerben und Industriebetrieben. Auf die Schwächen der Binnenkonjunktur mit makroökonomischer Kompetenz zu antworten, wäre eine tolle Chance gewesen. Klar verpasst. Von wegen Kurswechsel.

    Ein glaubhafter Kurswechsel hätte übrigens auch verlangt, dass die SPD endlich damit aufhört, Minijobs und Leiharbeit als Lösungen arbeitsmarktpolitischer Probleme anzupreisen. Ich vermisse ein Programm zur Stabilisierung der gesicherten Normalarbeitsverhältnisse.

Gegen einen Kurswechsel und eine Abkehr von der Agenda 2010 wird häufig und sogar von so genannten Linken eingewandt, unser Gestaltungsspielraum gehe wegen der Globalisierung gegen null. An vielen praktischen Beispielen der Politik kann man zeigen, dass dies nicht stimmt. Die Beispiele sind teilweise schon genannt: Privatvorsorge ist keine Lösung für die Mehrheit und deshalb nicht sinnvoll, die Steuerbefreiung der Gewinne der Heuschrecken ist nicht nötig, dass ungerechte Elterngeld statt des Erziehungsgelds war nicht nötig, die Abkehr von der Privatisierung als Ideologie würde nichts kosten und wäre möglich, die Wiederentdeckung einer kompetenten Makropolitik ist nicht verboten, und so weiter. Lauter Freiräume zur Gestaltung. Davon hätte ich gerne mehr auf diesem Parteitag gehört. Denn die Frage der Gestaltungsfreiheit ist eine zentrale Frage.

Es gab eine Reihe guter Formeln bei diesem Parteitag: „Das soziale Deutschland“, „Solidarische Mehrheit“, „Gute Arbeit“ – diese Formeln praktisch aufzufüllen, verlangt die Nutzung der Freiräume zur Gestaltung.


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