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Titel: Wir schaffen das … nicht

Datum: 1. Oktober 2015 um 11:02 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Alleine im Monat September sind je nach Quelle zwischen 170.000 und 270.000 Flüchtlinge in Deutschland angekommen. Die ersten Flüchtlingstrecks aus der Tagesschau haben nun die provisorischen Sammelunterkünfte erreicht. Vielerorts melden die Kommunen bereits, dass die Aufnahmekapazitäten nun erschöpft seien. Liest man die zahlreichen Wasserstandsmeldungen vor Ort, bekommt man sehr schnell den Eindruck, dass Politik und Gesellschaft das Problem massiv unterschätzt haben. Eine Herkulesaufgabe lässt sich nun einmal nicht aussitzen. Die Utopie vom „Wir schaffen das“ zerplatzt schon jetzt wie eine Seifenblase. Doch was wir momentan erleben, ist erst die Ouvertüre. Wo Lösungen nötig wären, stehen noch nicht einmal Antworten, sondern nur offene Fragen. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Flüchtlingsdebatte wird vor allem aus ideologischer Perspektive geführt. Auf der einen Seite haben wir „Dunkeldeutschland“, das Angst vor Überfremdung hat und die Grenze lieber heute als morgen komplett dicht machen würde und auf der anderen Seite „Helldeutschland“, das Migration für ein Menschenrecht hält und am liebsten jeden Flüchtling mit offenen Armen empfangen würde. Beiden Deutschlands sollte es klar sein, dass sie selbst einer naiven Utopie anhängen. Der Flüchtlingsstrom wird erst einmal nicht abebben und die Geschichte lehrt uns, dass man Flüchtlinge selbst mit noch so ausgefeilten Grenzschutzanlagen nicht aufhalten kann. Außerdem wissen auch die Wortführer von CSU und AFD, dass das Asylrecht im deutschen Grundgesetz verankert ist und der Traum von der „Wacht am Inn“ ist nicht nur naiv, sondern schlicht verfassungswidrig. Naiv sind jedoch auch die Vorstellung, man könne die Grenzen wie das Himmelstor öffnen und mit der richtigen „Willkommenskultur“ würde sich dann alles zum Guten wenden. Das ist heuchlerisch hoch zehn. „Helldeutschland“ macht es sich lediglich bequem, in dem es die moralische Lufthoheit über den Stammtischen reklamiert; wohlwissend, dass die undankbare „Drecksarbeit“ von Anderen verrichtet wird, über die man sich dann vortrefflich echauffieren kann.

Wer sich kritisch zu Wort meldet, die in linksliberalen Kreisen oft tabuisierten Probleme anspricht oder die ganz realen Sorgen vor Ort auch nur artikuliert, gilt dann gleich als „(rechts)populistisch“. Warum eigentlich? Ist es wirklich populistisch, wenn man auf offensichtliche Probleme hinweist und nicht glaubt, dass diese Probleme verschwinden, wenn man sich nur ganz fest die Augen zuhält?

Fehlender Wohnraum

Und Probleme gibt es zuhauf. Als erstes wäre da der fehlende Wohnraum. Sicher, Wohnraum ist nicht flächendeckend knapp. Vor allem in strukturschwachen, ländlichen Regionen gibt es sogar einen massiven Leerstand. Doch was nutzt eine freie Wohnung in der niedersächsischen Pampa, wenn es dort keine Jobs gibt?

Wenn wir über Flüchtlinge sprechen, dann sollten wir uns vor allem darüber klar sein, dass das Gros der Flüchtlinge aus Syrien kommt und gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention mindestens so lange in Deutschland bleiben darf, bis die Lage in Syrien wieder stabil ist. Es ist abzusehen, dass dies mittel- und wohl auch langfristig nicht der Fall sein wird und ein Großteil der Syrer ihr Leben lang in Deutschland bleibt. Und daher scheiden Regionen mit einem geringen Angebot an Arbeitsplätzen als langfristige Wohnorte ohnehin aus.

Wenn wir heute über Auffanglager und Erstunterkünfte sprechen, dann geht es erst einmal nur um die akute Unterbringung in den ersten Wochen. Wohin die Einwanderer ziehen, wenn sie erst einmal offiziell anerkannt sind und eine Arbeitserlaubnis haben, kann der Staat ohnehin nicht direkt steuern. Ein anerkannter Flüchtling mit einem Job hat natürlich auch das Recht auf einen Wohnsitz seiner Wahl. Und es ist abzusehen, dass ein gehöriger Teil der syrischen Flüchtlinge in einigen Monaten in die Metropolregionen ziehen wird, wo die Wohnungssituation ohnehin schon angespannt ist. Aber auch bei der Akutversorgung ist die Lage bereits jetzt dramatisch – natürlich kann man Flüchtlinge in Turnhallen, Zeltstädten oder ehemaligen Baumärkten unterbringen, wenn keine anderen Unterbringungsmöglichkeiten vorhanden sind. Aber dies sind bei seriöser Betrachtung nur Puffer für den Notfall und der Flüchtlingsstrom ist kein singuläres Ereignis aus dem Spätsommer dieses Jahres, sondern eine anhaltende Herausforderung. Und wenn die Puffer erst einmal voll sind, haben wir ein sehr reales Problem. Die 500 Millionen Euro, die die Bundesregierung jetzt nach langem Ringen für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt hat, sind da nicht einmal ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Fehlende Jobs

Gemäß des Narrativs vom „Sommermärchen“ ist ein Großteil der syrischen Flüchtlinge gut ausgebildet, wenn nicht gar eine heiß begehrte Fachkraft. Der syrische Arzt ist da ja in aller Munde und auch der syrische Maschinenbau-Student darf in keiner Talkshow fehlen. Sogar diese Musterbeispiele sind jedoch ein Mythos und die fehlenden Sprachkenntnisse sind dabei noch das geringste Problem. Der syrische Arzt darf beispielsweise aufgrund des niedrigeren Ausbildungsstandards in einem deutschen Krankenhaus gar nicht als regulärer Arzt tätig sein, sondern muss erst einmal in einem sehr aufwändigen mitunter jahrelangen Verfahren seine Approbation erlangen. Gleiches gilt für andere Fachberufe, wie beispielsweise den des examinierten Kranken-/Altenpflegers. Und ob ein syrischer Student sein Studium in Deutschland „fortsetzen“ kann, ist für jeden, der sich mal ernsthaft mit der Zulassungsordnung deutscher Universitäten beschäftigt hat, mehr als fraglich.

Machen wir uns – und den Flüchtlingen – doch bitte nichts vor. Der größte Teil der anerkannten Flüchtlinge wird nicht im Chefarztbüro oder in der Motorenentwicklung von VW, sondern in schnell anlernbaren Aushilfsjobs oder im schlecht bezahlten Dienstleistungssektor landen. Das wissen auch die deutschen Arbeitgeberverbände, anders ist ihre neu erwachte Kampagne gegen den Mindestlohn kaum zu erklären. Diese Jobs leiden an vielen – an einer ordentlichen Bezahlung, guten Arbeitsbedingungen aber unter den berühmt berüchtigten Fachkräftemangel fallen sie jedoch ganz sicher nicht. Im Gegenteil. Und nach ökonomischer Logik wird ein Überangebot an potentiellen Arbeitnehmern in diesem Bereich die Löhne abermals drücken – erst einmal bis zum Mindestlohn und nach Plänen der Arbeitgeber darüber hinaus, schließlich würden Flüchtlinge ja per Definition als „Langzeitarbeitslose“ gelten, die vom Mindestlohn ausgenommen sind.

Fehlende Integration

Lassen Sie mich es einmal ein wenig polemisch zuspitzen: eine funktionierende Integration und die „schwarze Null“ im Bundeshalt sind Zielkonflikte. Integration ist teuer und muss politisch nicht nur gewollt und eingefordert, sondern vor allem auch finanziert werden. Und man muss kein Schwarzmaler sein, um hier den Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit festzustellen. Schon vor der „großen Flüchtlingswelle“ ab 2014 hat das Angebot an Deutsch- und Integrationskursen hinten und vorne nicht gereicht. Bei einem Zuwachs von 200.000 zu integrierenden Menschen pro Monat wäre selbst das bestausgestattete und bestfinanzierte Integrationssystem überfordert. Das deutsche Integrationssystem ist jedoch chronisch unterfinanziert und vergleichsweise miserabel ausgestattet. Und da reden wir tatsächlich davon, dass wir Integration nicht nur anbieten, sondern auch einfordern sollen? Das ist ja wohl ein schlechter Witz. Kulturelle sowie religiöse Konflikte sind ohnehin vorprogrammiert. Die Chance, diese Konflikte zu minimieren, wird jedoch vergeben, wenn man die so wichtige Integration unter Finanzierungsvorbehalt stellt. Schlussendlich überlässt man die Flüchtlinge wieder einmal sich selbst. Dann kann man ihnen wenigstens auch die Schuld zuschreiben, wenn das mit der Integration nicht klappt.

Das Sankt-Florian-Prinzip

Das Menschenrecht auf Migration ist ein Mythos, der vor allem auf dem Westbalkan offen zu Tage tritt. Fragt man die syrischen Flüchtlinge, die diese Region durchqueren, nach ihrem Ziel, so bekommt man meist Deutschland, Schweden oder Norwegen als Antwort. In diese Länder wollen viele Bewohner des Westbalkans auch und sogar innerhalb der EU gibt es nicht wenige Bulgaren, Rumänen oder auch Bewohner strukturschwacher Regionen Italiens, Frankreichs oder gar Deutschland, die gerne nach Norwegen wollen, es aber nicht können. Der Traum nach einer besseren Zukunft im Land seiner Wahl ist eben das – ein Traum. Und Träume neigen dazu, nicht in Erfüllung zu gehen. Politik ist nicht dazu da, Träume Einzelner wahrwerden zu lassen, sondern auf Basis nüchterner Kriterien Entscheidungen zu treffen, die die Interessen der Gesamtheit erfüllen. Ohne Quoten und einen internationalen (nicht nur europäischen) Verteilungsschlüssel, wird sich das Problem kaum lösen lassen.

Es ist klar, dass selbst wohlhabende Länder wie Deutschland die hier beschriebenen Probleme, wenn überhaupt, nur mit einem biblischen Kraftakt bewältigen können. Ein solcher Kraftakt ist jedoch weder politisch noch gesellschaftlich gewollt; machen wir uns da bitte doch nichts vor. Bei der Flüchtlingsfrage herrscht das Sankt-Florian-Prinzip vor – heiliger Sankt Florian, verschon´ mich und schick´ die Flüchtlinge woanders hin. Diese Prinzip erleben wir momentan auf höchster EU-Ebene, über den Königsteiner Schlüssel unter den Bundesländern, über die Landkreise bis hin zu den Kommunen selbst. Jeder Gutmeinende will Flüchtlinge, aber bitte nicht im eigenen Hinterhof. Die Flüchtlinge sind aber da und es werden auch weiterhin große Massen an Flüchtlingen ins Land strömen. Wohin mit ihnen? Auf diese Frage gibt es keine einfachen Antworten.

Wer sich vor den konkreten Fragen lieber drücken will, weist stattdessen lieber auf die Fluchtursachen hin. Und das ist natürlich im Grundsatz auch vollkommen korrekt. Man kann die Flüchtlingsfrage nicht diskutieren, wenn man die Fluchtursachen ausblendet und es ist wichtig, diese Ursachen zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aber seien wir doch mal ehrlich. Selbst wenn es einen globalen Willen dazu gäbe, ließen sich weder das kriegerische Chaos in Nahost und Teilen Afrikas, noch das ungleiche und ungerechte Welthandelssystem von heute auf morgen abschaffen. Und es ist bereits komplett illusorisch zu unterstellen, es gäbe diesen globalen Willen. Im Gegenteil. Wir müssen doch nur in die Ukraine blicken, um zu erkennen, dass die USA und Teile der EU auf Konfrontation setzen und dabei künftige Flüchtlingsströme billigend in Kauf nehmen. Und auch in puncto Wirtschaftssystem ist noch nicht einmal ein Funken Hoffnung am Horizont erkennbar. Es ist daher auch nicht besonders zweckdienlich, auf die sehr realen und sehr konkreten Probleme vor Ort mit einer globalen Utopie zu antworten, auch wenn diese Utopie noch so wünschenswert ist. Dem Bürgermeister, der heute 50 Flüchtlinge zugewiesen bekommen hat, nutzt die schönste Utopie gar nichts.

Die Stimmung kippt

Zeigten sich vor wenigen Wochen noch überwältigend viele Deutsche solidarisch mit den Flüchtlingen, droht die Stimmung bereits jetzt zu kippen. Es sind nicht mehr die Bilder von ehrenamtlichen Helfern, die die Titelseiten füllen, sondern Nachrichten von Großeinsätzen der Polizei in Flüchtlingsunterkünften und auf lokaler Ebene die teils vollkommen grotesken Maßnahmen zur Unterbringung der Flüchtlinge. Und wie bereits eingangs erwähnt – wir befinden uns nicht im Finale, sondern mitten in der Ouvertüre. Wohin wird die Stimmung kippen, wenn die Krise erst richtig Fahrt aufnimmt?

Es gibt Probleme und Krisen, die sich nicht mit einfachen Lösungen in den Griff bekommen lassen. Die Flüchtlingskrise gehört zweifelsohne dazu. Und man braucht wohl auch nicht all zu viel Fantasie, um sich auszumalen, welche gesellschaftlichen Folgen diese Entwicklung nehmen wird. Wenn man Probleme, die auf der Hand liegen und für jedermann offensichtlich sind, ignoriert und schönredet, wird man damit nie das gewünschte Ziel erreichen. Was die Bundesregierung und Teile der Opposition momentan in Sachen Flüchtlingspolitik zelebrieren, ist die Saat, aus der eine neue Fremdenfeindlichkeit entstehen kann. War die Finanzkrise – zumindest potentiell – eine Steilvorlage für die politische Linke, so ist die Flüchtlingskrise eine Steilvorlage für die politische Rechte. Je größer die Probleme werden und je angestrengter sie (auch von der politischen Linken) verdrängt und schöngeredet werden, desto mehr Menschen werden den rechten Populisten auf den Leim gehen. Lösungen, die einer auch nur halbwegs seriösen Prüfung standhalten, haben diese Populisten freilich auch nicht. Daher ist es auch so wichtig, die Probleme offen anzusprechen und die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Wer dies nicht tut, treibt sie fahrlässig in die Arme der Hetzer, die schon begierig warten.


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