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Titel: Gerhard Bosch: Auflösung des deutschen Tarifsystems

Datum: 23. Januar 2008 um 9:24 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Noch Anfang der 90er Jahre lag die Tarifbindung in Deutschland bei rund 90%. 72% der Beschäftigten arbeiteten damals in Unternehmen, die Mitglied in einem Arbeitgeberverband waren. 2006 fielen nur noch 68% der westdeutschen und 53% der ostdeutschen Beschäftigten unter einen Tarifvertrag. Bei hoher Arbeitslosigkeit und schwächeren Gewerkschaften verschafft sich eine wachsende Zahl von Unternehmen Wettbewerbsvorteile durch Unterbietung der Tariflöhne. Der Niedriglohnsektor expandierte parallel zur Abnahme der Tarifbindung.

Der Anteil der gering bezahlten Vollzeitbeschäftigten stieg von 13,8% (1993) auf 17,3% (2003), in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten sogar von 33,6% (1980) auf 36,4% (2003). Die starke Ausweitung des Niedriglohnsektors durch die Auflösung der angeblichen „Tarifkartelle“ hat nicht, wie es neoliberale Wirtschaftswissenschaftler der Politik jahrelang eingeredet haben, die Beschäftigungssituation verbessert. Stattdessen werden dort heute Löhne unterhalb des Marktpreises gezahlt, wo Tarifverträge einst monopolistische Marktstrukturen oder Marktversagen korrigieren konnten. Mit dem Anwachsen des Niedriglohnsektors muss der Staat zunehmend Löhne unterhalb der Armutsgrenze subventionieren. Im Mai 2007 wurden bereits die Löhne von mehr als 1,2 Mio. Beschäftigten mit Arbeitslosengeld II aufgestockt.
Vielen Unternehmern wird erst durch die Ärzte- oder Lokführerstreiks bewusst, wie wichtig die friedensstiftende Ordnungsfunktion des Flächentarifs für sie ist.
Die abnehmende Tarifbindung ist zu einem guten Teil politisch verursacht worden. Sie wieder zu erhöhen, erfordert daher gleichfalls wieder politische Flankierung. Sicher ist jedenfalls, dass Nichtstun die Erosion des Tarifsystems fördert.

Der nachfolgende Beitrag von Gerhard Bosch, Präsident des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen, erscheint im Wirtschaftsdienst 1/2008 [PDF – 52 KB]. Er wurde uns vom Autor zur Verfügung gestellt.

Noch Anfang der 90er Jahre lag die Tarifbindung in Deutschland bei rund 90%. Selbst nicht tarifgebundene Betriebe zahlten oft nach Tarif, da sie sich damit betriebliche Verhandlungen mit hohen Kosten sparen konnten. Deutlichstes Zeichen der Krise des Tarifsystems ist die starke Abnahme der Tarifbindung seit 1990.

Diese Entwicklung war politisch gewollt. So stand niemals zur Debatte, bei der Deregulierung der Produktmärkte die Tarife durch Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu sichern. Zudem fördert der Staat heute die Zunahme gering bezahlter Beschäftigung durch sein Auftragsverhalten. Zumeist werden Aufträge dem billigsten Anbieter erteilt, oft wissend, dass damit kein Tariflohn gezahlt werden kann. In Branchen mit hohen Anteilen an Niedriglöhnen, wie etwa in der Fleischindustrie, gibt es überhaupt keinen Flächentarif mehr. Kampfstarke Gruppen, wie die Lokführer oder die Ärzte, streiken nicht mehr für allgemeine Lohnerhöhungen, sondern für Sonderinteressen. Stattdessen werden dort heute Löhne unterhalb des Marktpreises gezahlt, wo Tarifverträge einst monopolistische Marktstrukturen korrigieren konnten.

Kaum abschätzbar sind die Kollateralschäden der Erosion des Tarifsystems. Mit dem Anwachsen des Niedriglohnsektors muss der Staat zunehmend Löhne unterhalb der Armutsgrenze subventionieren. Im Mai 2007 wurden bereits die Löhne von mehr als 1,2 Mio. Beschäftigten mit Arbeitslosengeld II aufgestockt.

Wichtige Zukunftsaufgaben, wie der Ausbau der Weiterbildung, die Modernisierung unserer Berufsbilder, die Schaffung altersgerechter Arbeitsstrukturen oder die sozialverträgliche Gestaltung flexibler Arbeitszeiten, können nur noch in wenigen Branchen von starken Tarifpartnern, die auch in die Fläche wirken können, gemeistert werden. Es wirkt gelegentlich grotesk, wenn Politiker einerseits die Sozialpartner auffordern, bestimmte Zukunftsaufgaben zu schultern und andererseits die Auflösung von Tarifkartellen oder die Expansion des Niedriglohnsektors fordern.

Der Staat kommt nicht umhin, die schlimmsten Auswüchse durch einen gesetzlichen Mindestlohn zu begrenzen. Im wachsenden Niedriglohnsektor bricht die duale Berufsausbildung zusammen und die Qualifikationsstruktur polarisiert sich. Es werden neue Berufsgewerkschaften
entstehen, die wirkungsvoll Sonderinteressen vertreten. Die Branchengewerkschaften bleiben in einigen Kernbereichen der Industrie und des öffentlichen Dienstes stark, verlieren aber ihre gestaltende gesellschaftspolitische Rolle. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verringert sich durch einen zunehmenden Fachkräftemangel. Die einfache Rückkehr zur staatsfernen Tarifautonomie der Vergangenheit ist leider versperrt, da in vielen Branchen die Sozialpartner nicht mehr in der Lage sind, den Flächentarif wieder zu beleben. Denkbar ist aber bei erfolgreicher Wiederbelebung der Tarifautonomie ein späterer Rückzug des Staates. Sicher ist auch, dass Nichtstun die Erosion des Tarifsystems fördert.


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