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Titel: „Die Grundbedürfnisse werden mehr und mehr zum Geschäft“

Datum: 21. Dezember 2015 um 9:27 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Interviews, Privatisierung öffentlicher Leistungen, Sozialstaat
Verantwortlich:

Norbert Wohlfahrt

Dass der Neoliberalismus eine perfide Gesellschaftsideologie ist, hat derselbe längst bewiesen. Nicht nur macht er den Armen und Arbeitslosen weis, sie selbst wären an ihrem Elend schuld. Er schafft es auch, dafür zu sorgen, dass das wahre Ausmaß der gesellschaftlichen Armut kaum je an die Öffentlichkeit dringt. Dass das Gesundheitssystem trotz immer höherer Ausgaben immer weniger den Menschen und immer mehr den Profiten einiger weniger dient. Dass die Soziale Arbeit erodiert und kaum jemand etwas hiergegen unternimmt. Dass mittels Stiftungen ein regelrechter „Refeudalisierungsboom“ im Lande tobt und Investoren inzwischen das öffentliche Schulwesen ins Visier nehmen. Zu den Auswirkungen des neoliberalen Sozialabbaus sprach Jens Wernicke mit Norbert Wohlfahrt, der diesbezüglich längst eine Privatisierung von Grundbedürfnissen konstatiert.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Wohlfahrt, Sie forschen und publizieren seit Jahren zu Hartz IV, Privatisierungen, zur Ökonomisierung der Sozialen Arbeit und anderem. Dabei kritisieren Sie unter anderem, dass Grundbedürfnisse zunehmend zur Ware würden, mit der man Geschäfte betreiben und Profit zu erzielen sucht. Wie ist das zu verstehen? Was meinen Sie damit?

Ob Pflege, Kindererziehung oder die gesundheitliche Versorgung durch Ärzte und Krankenhäuser: In aller Regel sind der Staat oder die Sozialversicherung für die Finanzierung und flächendeckende Bereitstellung dieser Leistungen zuständig. Man rechnet sie deshalb der Daseinsvorsorge zu. Wie bei der ärztlichen Versorgung, bei der unternehmerisch tätige Ärzte mit der Behandlung von Patienten einen Gewinn erzielen wollen, sind inzwischen aber auch in den Bereichen der Pflege, der Krankenhäuser und anderer sozialer Dienste private Anbieter – und zwar immer mehr private Anbieter – unterwegs, die auch auf diesen Feldern Gewinne erzielen wollen.

Diese als Privatisierung zu kennzeichnende Entwicklung führt dazu, dass der Staat oder die Kostenträger großen Druck auf die Leistungsanbieter – also Wohlfahrtsverbände und private Dienstleister, die gemeinwohl- und nicht profitorientiert arbeiten – ausüben, ihre Leistungen zu verbilligen und effizienter zu gestalten. Sie tun das, indem sie diese Anbieter in einen Wettbewerb um Leistungen und Kosten stellen, was unter anderem zu Lohndumping und sukzessivem Leistungsabbau führt. Wenn Sie so wollen, wird hier ein Quasimarkt generiert, auf dem die bisherigen Anbieter ihre gesamten Leistungsstrukturen neu ausrichten müssen. Aus den wohlfahrtsverbandlichen Einrichtungen werden auf diesem Weg Sozialunternehmen, die in Konkurrenz zu anderen Preise und Qualität gestalten und Kosten senken müssen. Daher ist der soziale Bereich auch seit Jahren einer der wichtigsten Kampfplätze was die Verschlechterung von Beschäftigungsbedingungen angeht.

Der Staat erzwingt im Bereich der Daseinsvorsorge also mehr und mehr „Wettbewerb“, der zu Ungunsten bisheriger Qualitäts- und Beschäftigungsstandards führt, verstehe ich recht? Warum aber tut er das dann, welches Interesse hätten Politiker an derlei schon?

Zunächst einmal muss man hier die Dienstleistungsstrategie der Europäischen Kommission beachten. Diese sieht soziale Dienstleistungen als ein Geschäftsfeld wie jedes andere auch, also als ein Bereich in dem das in Geld gemessene Wachstum der Volkswirtschaften produziert wird. Die wesentlichen Leistungen der Daseinsvorsorge werden allerdings durch die Städte und Gemeinden finanziert, die aufgrund der Steuerpolitik chronisch unterfinanziert sind. Bei gleichzeitig wachsenden sozialen Ausgaben wächst der Druck auf die kommunalen Haushalte immer mehr. Und diese reagieren – nicht nur im Sozialbereich – darauf mit Ausgliederungen und Privatisierung, aber auch mit dem Versuch, Kosten zu senken, wo es nur geht. Die Verschlechterung der Qualitäts- und Beschäftigungsstandards muss insofern auch als Konsequenz einer Steuerpolitik verstanden werden, die auf der einen Seite Unternehmen entlastet und auf der anderen kommunale Haushalte immer weiter austrocknet.

Und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung konkret? Was beobachten Sie etwa in Kitas, bei der Altenpflege, im Gesundheitswesen, in der Jugendhilfe, in den Knästen und in der Gemeinwesenarbeit?

Der gesamte Sozialbereich ist inzwischen davon geprägt, mehr Flexibilität in der Beschäftigung herzustellen, um Kosten zu begrenzen. Das bedeutete zunächst einmal, dass der in der Vergangenheit für diesen Bereich mehr oder weniger geltende Einheitstarif – der Bundesangestelltentarif – durch eine Vielzahl tariflicher Verschlechterungen abgelöst wurde. Gegenwärtig gibt es so circa 1.400 Tarife im Sozialbereich, die sich natürlich nicht dadurch auszeichnen, mehr Lohn und Gehalt zu zahlen. Gleichzeitig befindet sich ein großer Teil der Beschäftigten in Arbeitsverhältnissen ohne Tarifvertrag. Die Befristung von Arbeitsverträgen bei Neueinstellungen ist keine Ausnahme mehr, sondern längst durchgängige Praxis. Teilzeit, die nicht gewollt, sondern erzwungen ist, gilt für einen Großteil der Beschäftigten. Und auch Leiharbeit wird inzwischen bereits auch bei sozialen Diensten genutzt. Darüber hinaus ist die Personaldecke in Altenheimen, Kitas und anderen Bereichen sozialer Dienste inzwischen so dünn, dass immer mehr Beschäftigte über Burn-out klagen und nicht wissen, wie sie die täglichen Aufgaben bewältigen sollen. Ein erheblicher Anteil der Beschäftigten im Sozialbereich befindet sich inzwischen in Arbeitsverhältnissen, die weder ein Einkommen oberhalb der Grundsicherung garantieren, noch eine Alterssicherung aufbauen lassen, die einen Ruhestand ohne staatliche Unterstützung ermöglichen würden.

Könnten Sie eins dieser Beispiele bitte genauer ausführen? Was konkret bewirken, nein, verändern der zunehmende Wettbewerb und Quasi-Markt konkret?

In den Kindertageseinrichtungen arbeiten 47 Prozent der Beschäftigten mit einem Stundenvolumen von weniger als 32 Wochenstunden, in der stationären Altenpflege arbeiten etwas mehr als 40 Prozent mit einem Stundenvolumen mit über 50 Prozent der regulären Arbeitszeit, weitere 16 Prozent mit weniger als 50 Prozent der regulären Arbeitszeit. Ein Viertel der Erzieherinnen ist in einem nicht-tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Sonderregelungen erlauben den Trägern zur Sicherung der betrieblichen Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit dabei Eingriffe in das Gesamtvolumen der Bezahlung von bis zu 6 Prozent. Zur Abwendung von vorübergehenden Notlagen können Personalkosten einer Einrichtung daher beispielsweise abgesenkt und Teile der Bezüge bis zu einer Höhe von 10 Prozent des Jahresentgelts um bis zu 12 Monate später ausgezahlt werden.

Wohlfahrtsverbände, die sich traditionell als gemeinnützige Anbieter verstehen, gründen im Bereich der Altenpflege inzwischen Tochtergesellschaften, in denen das Personal schlechter bezahlt wird als im eigenen Haus. Die Überführung von Diensten und Einrichtungen in sogenannte gemeinnützige GmbHs ist inzwischen bei allen Wohlfahrtsverbänden flächendeckend durchgesetzt, weil das für gemeinnützige Organisationen typische Ehrenamt an der Spitze des Verbandes die Geschäftspolitik der Betriebe gar nicht mehr übersehen, geschweige denn steuern kann. Dieser Wettbewerb führt dabei mehr und mehr auch zu einer Schwächung des Ehrenamts in gemeinnützigen Verbänden, indem die vormals zum Verband gehörigen Einrichtungen verselbstständigt werden und ein eigenes Profi-Management bekommen. Das im Vorstand gemeinnütziger Organisationen agierende Ehrenamt wird hierdurch mehr und mehr zum Störfaktor und die Konflikte zwischen Ehrenamtlichen und Professionellen in den gemeinnützigen Organisationen bekommen eine neue Qualität.

Und es mehren sich auch die Formen von Bezahlung, die man nur noch als prekär, also ein Leben ohne staatliche Unterstützung unmöglich machend, bezeichnen kann. Ein Beispiel hierfür sind so genannte Plus X-Verträge. Dabei erhalten die Beschäftigten nur die Sicherheit über ein Basisgehalt mit Minimalstundenzahl. Verbreitet sind hier 20 Stunden plus X. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen am Anfang des Monats überhaupt nicht mehr, was sie am Ende verdienen. Und der Verdienst hängt von Faktoren ab, die für die Mitarbeiter auch nicht beeinflussbar sind. Dazu gehört etwa die schwankende Auslastung der jeweiligen Einrichtung, aber auch das Arbeitsvolumen, dass den einzelnen Mitarbeitern zugewiesen wird. Durch die sich in ihrer Summe erheblich unterscheidenden Zahlungen können die Mitarbeiter sich auf nichts verlassen, was ihre jeweilige Lebenssituation und Lebensplanung massiv beeinträchtigt. Da kommt es schon einmal vor, dass manche Mitarbeiter – je nachdem was sie plus X verdienen – mit nur 500 Euro an sicherem Einkommen nach Hause gehen.

Durch dieses Bezahlungssystem werden sie durch den Betrieb in jeder Hinsicht erpressbar, ohne zugleich irgend einen sozialen Schutz zu genießen. Wenn das zusätzlich noch damit einhergeht, dass sie wie bei Solo-Selbstständigkeit auch ihre Sozialversicherung selber bezahlen müssen, entstehen Lebensverläufe, die man in jeder Hinsicht nur als schwierig und unsicher bezeichnen kann.

Und all das, diese schwerwiegenden Fehlentwicklungen – also, all das „übersieht“ die Politik einfach? Wie kann das denn sein?

Diese Entwicklungen sind kein Ausrutscher, sie sind politisch gewollt und in ihren Auswirkungen ja auch gemeinhin bekannt. Sie sind Bestandteil einer Sozialpolitik, die ihr Hauptaugenmerk auf die Eingliederung in den Arbeitsmarkt richtet und hierfür die – wie es so schön heißt – „Stärkung der Eigenverantwortung“ propagiert. Die Politik will einerseits mehr Beschäftigung, auch von Frauen, weshalb etwa der Ausbau der Kinderbetreuung forciert wird, gleichzeitig will sie die Familie und das freiwillige Engagement aber auch – wie etwa in der Pflege, bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen etc. pp. – für soziale Aufgaben einspannen. Das Ergebnis hiervon ist, dass es immer weniger sichere und angemessen bezahlte Stellen und immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse gibt.
Auf diese Weise entsteht auch eine neue Armutspolitik, die man nur als pervers bezeichnen kann: Auf der einen Seite mehrt sich die Anzahl derer, die bei den so genannten Tafeln als Hilfesuchende aufschlagen, auf der anderen Seite wird für das Ehrenamt geworben, dass dann in diesen Tafeln die Armenspeisung organisieren darf. In manchen Bereichen sozialer Dienste sind die Übergänge zwischen bezahlter Arbeit und Ehrenamt bereits fließend.

An der gerade abgelaufenen Tarifrunde für die Kitas und Sozialarbeiter ist gut erkennbar, wie konsequent die Politik auf der Ebene der Länder sowie Städte und Gemeinden eine Steigerung von Personalkosten in diesem Bereich als „unerträgliche Belastung“ definiert und diese Entwicklung also weiter forciert. Dass für „das Soziale“ kein Geld da ist, ist allerdings nicht vom Himmel gefallen, sondern Resultat politischer Beschlüsse, die der öffentlichen Hand knappe Kassen beschert haben und unsere Politiker nun mit Sachzwängen und aus diesen vermeintlich resultierender Alternativlosigkeit konfrontieren.

Und wenn diese Entwicklung sich fortsetzt: Wohin führt uns das dann? Werden die sogenannten Wohlfahrtsverbände der Zukunft ggf. allesamt kommerzielle Anbieter mit nur noch äußerlich unterschiedlichen Firmenschildern sein? Werden die bisherigen Einrichtungen demnächst womöglich einfach von Profitmachern aufgekauft, wie das bei Krankenhäusern und im Wohnungswesen schon länger der Fall ist?

Die Unterschiede zwischen gemeinnützigen und gewinnorientierten Anbietern weichen bereits seit geraumer Zeit auf und diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Zugleich entdecken immer mehr private Anbieter den Gesundheits- und Sozialmarkt als Geschäftsfeld, in dem sich Geld verdienen lässt. In vielen Bereichen sind die gemeinnützigen Anbieter bereits in der Minderzahl. Es entstehen Sozialkonzerne mit wirtschaftlicher Ausrichtung, die Geld verdienen wollen.

Das tut man in erster Linie im Bereich der versicherungsfinanzierten Leistungen, wo die steigenden Kosten inzwischen durch die Beschäftigten alleine getragen werden. Die Pflegeversicherung etwa ist von vornherein so konzipiert worden, dass sie – ganz entgegen der Rede von der so genannten Solidarversicherung – ausschließlich von den Arbeitnehmern bezahlt wird. Und auch steigende Versicherungsbeiträge bei den Krankenkassen müssen inzwischen von den Arbeitnehmern allein ausgeglichen werden. Aber auch der Bereich der kommunal finanzierten Leistungen, also in erster Linie die Jugend- und Sozialhilfe, ist durch wachsende Unterfinanzierung gekennzeichnet und es werden sich die Wettbewerbselemente in diesem Bereich in Zukunft noch weiter verstärken. Das europäische Vergaberecht bereitet hier, wie in anderen Bereichen auch, die entsprechende Entwicklung vor.

Schließlich steht auch zu befürchten, dass mit der Durchsetzung von mehr Markt auch der Klient oder Kunde als zahlungsfähiger Nachfrager zunehmend ins Visier der Leistungsanbieter gerät. Im Gesundheitswesen sind Zuzahlungen und so genannte IGEL-Leistungen, die die Patienten aus ihrer eigenen Tasche bezahlen, ja bereits Teil der Geschäftspolitik. Und auch in der Pflege und Altersversorgung ist die Qualität der Leistung dadurch bestimmt, was ich mir an privaten Zuzahlungen überhaupt leisten kann. Mit anderen Worten: Die Schere zwischen qualitativ guten Versorgungsleistungen und einer Grundversorgung auf Basis von Mindeststandards öffnet sich immer weiter und verlängert den Unterschied von arm und reich in der Gesellschaft in den Bereich sozialer Leistungen hinein.

Eine weitere beobachtbare Entwicklung besteht darin, dass Privatkapital zur Finanzierung sozialer Dienste an die Stelle von staatlicher Finanzierung tritt. Diese Investition muss natürlich eine Verzinsung abwerfen, die letztlich der Staat zu tragen hat. Damit das für ihn attraktiv wird, werden deshalb privatkapitalistische Investments mit Wirkungsvorgaben verknüpft, die in den so finanzierten Projekten erreicht werden müssen. Diese aus Amerika und England kommende Entwicklung wird auch in Deutschland unter dem Namen „Wirkungskredit“ diskutiert und findet in der Politik bereits Beachtung.

„Wirkungskredit“? Ist das eine Art Public Private Partnership? Was steht uns da, wenn sich derlei durchsetzt, konkret ins Haus – und warum sehen Sie in dieser Entwicklung ein Problem?

Tatsächlich kann man das als eine Art Public-Private-Partnership bezeichnen. Ein Geldgeber erwartet für seine Investition eine Rendite – die angesichts des Risikos zwischen 5 und 12 Prozent bei den von mir beobachteten Fällen schwankt. Der Staat, der die Sache finanziert, zahlt diese Rendite, wenn vorab vereinbarte Wirkungen eintreten, also zum Beispiel eine vorher festgelegte Quote Straffälliger in Arbeit gebracht wurden oder Kinder von Fremdunterbringung verschont blieben. Die zu erzielenden Wirkungen werden vorab festgelegt und extern überprüft. Der Staat nutzt auf diesem Weg Privatkapital zur Finanzierung von Leistungen und wird damit – je umfangreicher sich dieses Kapital im Sozialsektor engagiert – mehr und mehr abhängig von diesen Krediten und also der Gunst und den Interessen von Investoren.

Das gesamte System einer öffentlich finanzierten Daseinsvorsorge wird so zu einem Feld sozialer Investition, in der soziales Handeln als etwas verstanden wird, dass eine Rendite abwirft, die monetär bestimmt und gemessen werden kann. Der Wirkungskredit ist ein anschauliches Beispiel dafür, dass der Siegeszug der Ökonomen, der sich ihrer Leitidee der Effizienz verdankt, auch in Bereiche vordringt, die sich den ökonomischen Bewertungsverfahren eigentlich vollständig entziehen. Das Credo des Gründers der Bertelsmann-Stiftung, dass alles messbar sei und gemessen werden könne, soll nun auch für jene Bereiche gelten, die keine produktive Arbeit verrichten. Eine Entwicklung, die im Übrigen auch das Bildungswesen zu spüren bekommt [PDF].

Wie können wir uns hiergegen denn wehren? Was können die Beschäftigen tun? Und was wäre die Aufgabe der Gewerkschaften hierbei?

Der weit überwiegende Anteil der im Sozialsektor Beschäftigten sind Frauen, die bislang einen sehr niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad aufweisen. Das hängt auch mit der gemeinnützigen Tradition sozialer Dienste in Deutschland zusammen, wo mit dem Bundesangestelltentarifvertrag als Einheitstarif, den alle Gliederungen der Wohlfahrtsverbände mehr oder weniger übernommen haben, für die Beschäftigten wenig Grund zu gewerkschaftlicher Organisierung gegeben war. Dies erweist sich in der gegenwärtigen Situation aber als beschäftigungspolitische Katastrophe: Einem zersplitterten Arbeitgeberlager steht ein nur gering gewerkschaftlich organisiertes und zudem nicht einheitlich handelndes Arbeitnehmerlager geben über.

Deshalb müssen Abwehrmaßnahmen gegenwärtig darauf gerichtet sein, das ordnungspolitische Chaos in diesem Sektor einzudämmen. Hierzu können beispielsweise Branchentarifverträge mit Allgemeinverbindlichkeitserklärung beitragen, die für alle Beschäftigten in einer Branche gelten und den Wettbewerb um niedrigere Personalkosten einzudämmen helfen. Zugleich müssen gewerkschaftliche Strategien darauf gerichtet sein, mehr Mitglieder aktiv zu organisieren. Es ist deshalb von besonderem Nachteil, dass die Kirchen und kirchlichen Verbände, die immer noch die weitaus überwiegende Anzahl von Personal im Sozialsektor beschäftigen, mit dem kirchlichen Arbeitsrecht das Streikrecht aushebeln dürfen, weil sie an dem durch den Wettbewerb längst überholten Konzept einer vermeintlichen „Dienstgemeinschaft“ festhalten. Leider ist der Gesetzgeber hier nicht gewillt, den zeitgemäßen Anforderungen Rechnung zu tragen. Umso wichtiger ist die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads bei kirchlichen und nicht-kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, um auch in diesem Bereich mehr Druck ausüben zu können.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Weiterschauen:

Norbert Wohlfahrt: Soziale Dienste im Wettbewerb


Norbert Wohlfahrt, Jahrgang 1952, studierte in Detmold und Bielefeld zunächst Sozialarbeit, anschließend Soziologie und Philosophie an der Universität Bielefeld. Nach beruflicher Tätigkeit in verschiedenen praxisbezogenen Projekten und der Promotion an der Universität Bielefeld arbeitete er als wissenschaftlicher Angestellter an den Universitäten Duisburg und Kassel, bevor er 1993 eine Professur für Verwaltung und Organisation an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe übernahm. Er ist Mitherausgeber eines Handbuchs Kommunale Sozialpolitik und Mitverfasser mehrerer Monographien zur Kritik moderner Gerechtigkeitstheorien, der Kritik sozialer Dienstleistungspolitik und dem Ende der kommunalen Selbstverwaltung. Norbert Wohlfahrt lebt und arbeitet in Bochum.


Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jenswernicke.de. Dort können Sie auch eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Texte bestellen.


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