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Titel: Eisenbergs Jahresrückblick: Von Algorithmen, Erinnerung, Pegida, Resilienz und Wölfen

Datum: 22. Dezember 2015 um 9:15 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Der Sozialwissenschaftler, Publizist, Gefängnispsychologe und regelmäßige NachDenkSeiten-Gastautor Götz Eisenberg [*] wagt in diesem Jahr einen „etwas anderen Jahresrückblick“. Heute präsentieren wir Ihnen den ersten Teil, morgen folgt der zweite Teil unter der Überschrift „Von Laubbläsern, Smartphones, menschlicher Würde und Mitleid im Winter“.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

1. Januar 2015

In der Silvesternacht gab es 36 Tote in Schanghai. 25 Minuten vor Mitternacht brach eine Panik aus unter den Hunderttausenden, die sich zu einer Silvesterparty an der Uferpromenade eingefunden hatten. Auslöser der Panik sollen nachgemachte 100 Dollarnoten gewesen sein, die plötzlich „wie Schnee vom Himmel fielen“. Sie trugen den Aufdruck „MP 18“ und „Neujahr 2015“. Eine Werbeidee des luxuriösen Clubs M 18. „Da wird Geld geworfen“, riefen die Leute und glaubten an einen unverhofften Dollar-Regen. Die Menschen ersticken im Gedränge, werden zerquetscht oder totgetrampelt.

28. Januar 2015

Nikos Kotzias ist seit ein paar Tagen griechischer Außenminister. Er hat Ende der 1960er Jahre in Gießen studiert und war damals Sekretär der Föderation der griechischen Studentenvereinigungen in Deutschland sowie der Koordinationsstelle der gegen die Diktatur gerichteten Studentenorganisationen. Wir haben zusammen politikwissenschaftliche Seminare besucht und auch sonst im Kontext der antiautoritären Bewegung einiges miteinander zu tun gehabt. Ich war mit Nikos Anfang der 1970er Jahre beim damaligen Bundespräsident Heinemann und dem Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler in der Villa Hammerschmidt in Bonn zu einem Gespräch über Entwicklungshilfe eingeladen. Gustav Heinemann suchte den Dialog mit der unruhigen Jugend und war bemüht, ihre Motive zu verstehen. Mit uns war damals nicht gut Reden. Entwicklungshilfe war für uns als Unterstützung getarnter Imperialismus, sonst nichts. Nikos sah mit seinem dunklen Teint, seinen langen schwarzen Locken, seinem Bart und der Baskenmütze aus wie ein Che Guevara-Double. Wir saßen dem freundlichen Gustav Heinemann direkt gegenüber, was unsere Angriffslust etwas milderte. Wir haben seine tollen Zigarren, mit denen wir uns die Taschen vollgestopft haben, noch wochenlang geraucht. In der Entmischung der Revolte gingen wir verschiedene Wege. Nikos schlug sich auf die Seite der “Revisionisten”, wie damals die Anhänger der Sowjetunion abschätzig genannt wurden, ich wurde für ein halbes Jahr Maoist, dann ein sogenannter Sponti. Nikos ging nach dem Ende der Militärdiktatur nach Griechenland zurück und wurde Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Griechenlands und Professor für Politikwissenschaft. Ich verlor ihn aus den Augen, habe aber gute Erinnerungen an ihn und unsere nächtlichen Besuche im Scarabee, einer Gießener Diskothek. Dieser Tage sah ich Nikos in der Tagesschau. Er nahm am EU-Außenminister-Treffen in Brüssel teil und ich staunte darüber, wie dick er geworden ist. Der Che von damals ist unter veritablen Fettschichten verschwunden. Fett gewordene Rock’n Roller und Revolutionäre sind ein peinlicher Anblick. Außerdem trug er, anders als sein Chef Tsipras, zum Anzug auch noch einen Schlips. Ich habe gelernt, dass man sich vor Männern in Anzügen und vor allem mit Schlipsen in Acht nehmen muss. Hoffentlich hält Nikos das alte Double noch irgendwo in sich verborgen.

Mittwoch, der 28. Januar 2015

Als ein Reporter eine Pegida-Demonstrantin darauf hinweist, dass der Anteil der Muslime an der Bevölkerung Dresdens bei 0,4 Prozent liege, erwidert diese prompt: „Das seh ich anders.“ Da ist er mal wieder, dieser eigenartige antipositivistische Hegelianismus der Rechten: Wenn zwischen meiner Meinung und den Tatsachen Differenzen bestehen: umso schlimmer für die Tatsachen! In der Talkshow von Maybrit Illner ist mir das unlängst schon einmal begegnet. Die AFD war anwesend in Gestalt ihres schönen Gesichts, Frauke Petry aus Sachsen, die in letzter Zeit in vielen Talkshows zu sehen und zu hören war. Sie bestritt rundweg in einem mir beinahe sympathischen Antipositivismus die Forschungsergebnisse von Wilhelm Heitmeyer über die Verbreitung ausländer- und insgesamt menschenfeindlicher Einstellungen im deutschen Osten und sagte einfach: „Das bestreite ich, das stimmt nicht mit meinen Erfahrungen überein!“

Das sind zwei Beispiele für die Ohnmacht des aufklärerischen Ansatzes, der davon ausgeht, man müssen die Leute bloß mit den sogenannten Fakten konfrontieren und schon ließen sie von ihren falschen Meinungen ab. Vorurteile sind keine bloßen Fehlinformationen, sondern denktechnische Verhütungsmittel, die ihren Träger davor schützen, sich von der Wirklichkeit aus dem Konzept bringen zu lassen. Vorurteile sind gegen die Realität und Korrekturen durch sie perfekt abgeschottet. Vorurteilsbeladene Menschen sind immer bestrebt, ihre Meinung zu validieren. Dazu blenden sie störende Elemente einfach aus. Harald Welzer hat dazu in der FAS vom 25. Januar 2015 geschrieben: Vorurteile sind Orientierungsmarken und Wegweiser in einer komplexen Welt, weshalb man gern an ihnen festhält, insbesondere dann, wenn sie den Vorteil aufweisen, die Welt widerspruchsfrei zu erklären.“

Wenn sächsische Bürger gelegentlich eine Angst vor „Überfremdung“ artikulieren, kann dieses Gefühl ja nicht auf die Anwesenheit einer verschwindend kleinen Gruppe von Muslimen zurückgehen. Wenn die ehemalige DDR von irgendetwas „überfremdet“ wurde, dann durch die nach der sogenannten Wende eingeführten kapitalistischen Verhältnisse, die sich wie ein Alp auf das Leben der Menschen gelegt und es in eine eisige Gletscherlandschaft verwandelt haben. Heiner Müller hat diesen Prozess nach der sogenannten Wiedervereinigung in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau so beschrieben: „Eine Fahrt durch Mecklenburg: an jeder Tankstelle die Siegesbanner der Ölkonzerne, in jedem Dorf statt der gewohnten Schreibwaren McPaper & Co.“

Das „Fremde“, von dem die Menschen sich bedroht fühlen, ist die Teufelsmühle des Kapitals selbst, in der die einheimischen Industrien und tradierte Lebensformen zermahlen wurden. Da man aber gegen „kapitalistische Verhältnisse“ und undurchsichtige, anonyme finanzielle Abstraktionen nicht handgreiflich vorgehen kann, zieht man es vor, sich an „die Fremden“ zu halten.

12. Februar 2015

Heute Morgen beim Hören der Nachrichten wieder mein Befremden darüber, wie ruhig wir uns angesichts der wachsenden Kriegsgefahr verhalten. Wenn in Minsk keine praktikable Einigung erzielt wird, droht der innerukrainische Konflikt zu eskalieren und sich zu einem europäischen Krieg auszuweiten. Und in diesem können dann auch Atomwaffen zum Einsatz kommen. Ist die Schwelle zum Krieg erst mal überschritten, wird niemand verhindern können, dass von der unterlegenen Seite irgendwann auch Atomwaffen eingesetzt werden. Als nach dem NATO-Doppelbeschluss neue Pershing-Raketen in Europa stationiert wurden, gingen Anfang der 1980er Jahre Hunderttausende auf die Straße. 300 000 Menschen versammelten sich im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten. Ich bin damals mit vielen anderen Gießenern in einem Sonderzug nach Bonn gefahren, und wir hörten die Ansprachen von Albertz, Böll, Petra Kelly, Eppler und vor allem von Coretta Scott-King, der Ehefrau von Marin Luther King, der ja 1968 in Memphis ermordet worden war. Am frühen Morgen kehrten wir müde, aber auch euphorisiert von dem Massenerlebnis nach Hause zurück. Damals existierte noch eine wie immer zersplitterte Linke, die sich auf Jahre nahezu ausschließlich mit Friedensthemen befasste. Die Lage heute scheint mir viel dramatischer, die Gefahr greifbarer, und gleichzeitig herrscht vollkommene Agonie, eine stuporöse Erstarrung. Oder ist es Indifferenz, Abstumpfung, Resignation oder von allem ein bisschen?

15. Februar 2015

Mein Eindruck ist: Der Karneval befindet sich auf dem absteigenden Ast. Herrschte in früheren Jahren rund um die Ludwigstraße in Gießen von Donnerstag bis Faschings-Dienstag ein zwischen ausgelassener Fröhlichkeit und blinder Aggression schwankender Ausnahmezustand, war die Situation dieses Jahr, sieht man mal vom sonntäglichen Festzug ab, von einem normalen Wochenende kaum zu unterscheiden. Im Radio hörte ich, dass auch in den Karnevalshochburgen am Rhein ein Schwund der närrischen Begeisterung beobachtet wurde. Woran könnte das liegen? Der Karneval lebte vom Kontrast zur Strenge des normalen Alltags. Für ein paar Tage verkehrten sich die Regeln der Macht, die gewohnte Ordnung wurde außer Kraft gesetzt, um nach einer befristeten Entregelung und Entgrenzung zu ihr zurückzukehren. Inzwischen ist, etwas überspitzt gesagt, das ganze Jahr über Fasching. Die Spaß- und Partygesellschaft bedarf keiner befristeten Aussetzung von Normen mehr, weil sie keine mehr kennt. Wäre sie auf der Suche nach ihrem Gegenteil, müsste sie eigentlich eine Art von Antikarneval hervorbringen: fünf Tage der Besinnung, der Askese und der Stille. Fünf Tagen müssten sich alle an die Regeln halten, deren Geltung den ganzen Rest des Jahres über ausgesetzt zu sein scheint. Fünf Tage ohne Handy, Smartphone, Facebook und Whatsapp, Tage voller gegenseitiger Rücksichtnahme und Höflichkeit.

9. Februar 2015

Bei Aldi an der Kasse legt ein Mann hinter mir eine Überwachungskamera aufs Band. Mit seiner Frau berät er, wo man sie am besten anbringen kann. Man scheint bereits mehrere Kameras in Betrieb zu haben und möchte Sicherheitslücken schließen. Man rüstet nach. Es geht, so höre ich raus, um die Überwachung des Carports, der bisher nicht im Blickfeld der Kameras zu liegen scheint. Immer mehr Eigenheime werden zu Festungen ausgebaut. Ums Grundstück hohe Zäune und Draht, Bewegungsmelder im Ein- und Zugangsbereich, Kameras über der Haustür und zum Garten hin. Hinter der Haustür innen stehen Tränengas und Pfefferspray oder andere Waffen bereit. Unter der befriedeten Oberfläche des Alltags herrscht Krieg.

16. Februar 2015

Letztes Wochenende habe ich davon gelesen, dass es Catering-Unternehmen gibt, die schmutziges Geschirr (Pfannen, Töpfe usw.) zum Buffet mitliefern, damit es für die Gäste so aussieht, als hätte man das Essen selbst zubereitet. Man kann dann die Gäste beiläufig in die Küche lotsen und sagen: „Oh Gott, entschuldigt, dass es hier so aussieht, ich bin noch nicht dazu gekommen, den Abwasch zu machen!“
Dieses Wochenende las ich in der Frankfurter Sonntagszeitung, dass es in New York einen Schönheitschirurgen namens Norman Rowe gibt, der Brüste für 24 Stunden vergrößert. Für ein paar Stunden können Frauen dann auf einer Party oder bei einer Hochzeit einen üppigen Busen präsentieren, dann löst sich der Effekt wieder in Luft auf. Er spritzt den Frauen eine Kochsalzlösung ins Brustgewebe. „Das ist völlig harmlos, man scheidet die Lösung mit dem Urin wieder aus“, erklärte der Chirurg. Er betrachte das als Testlauf für eine nachfolgende chirurgische Brustvergrößerung. Auch vollere Wangen und ein rundes Kinn kann man sich auf diese Weise stundenweise zulegen. 2500 Dollar berechnet der Chirurg für die Injektionen. Die Kundinnen stammen – wen wundert‘s? – aus Manhattans Oberschicht. Sumpfblüten der Konsumgesellschaft.

28. Februar 2015

Dating-Apps, berichtet die Süddeutsche Zeitung vom 28. Februar/1. März 2015, treten mehr und mehr an die Stelle traditioneller Flirt- und Anmach-Praktiken. Es gibt einige, aber Tinder ist die bekannteste Dating-App der Welt, allein in Deutschland nutzen sie zwei Millionen Menschen. Das Programm kann kostenlos runtergeladen werden, die Anmeldung funktioniert nur mit einem Facebook-Profil. Aus diesem zieht sich Tinder die Daten: fünf Profilbilder, Freundesliste, Gefällt-mir-Angaben, Alter, Geschlecht. Via GPS sucht das Programm nach passenden Kandidaten in der Umgebung. … So simpel das System, so simpel die Spielregeln. Nach links wischen heißt „Nein Danke, verschwinde, weg mit dir ins digitale Nirwana.“ Nach rechts wischen bedeutet „Ja, kann was, ab in den Warenkorb.“ Das Praktische daran: Ist man nicht erwünscht, gibt es auch keine Benachrichtigung. Wenn sich zwei Nutzer aber gegenseitig nach rechts wischen, ergibt das ein sogenanntes Match – und nur dann kann man miteinander chatten. Diese Form der Beziehungsanbahnung schafft die Furcht vor Zurückweisung ab, sagt der Tinder-Erfinder Sean Rad. Dating-Apps bieten eine Art von Versicherung gegen Ablehnung. Bei Amazon einkaufen, bei Tinder einen Partner suchen. So läuft das heute. Warum sollte eine Gesellschaft, die alles und jedes in eine Ware verwandelt, vor der Intimsphäre halt machen? Die Mentalität des Tausches und der Austauschbarkeit findet die ihr gemäße Technik. Und Big Brother ist natürlich bei diesen Treffen immer mit von der Partie, aber die Leute haben ja, wie sie beteuern, „nichts zu verbergen“. Leute, die nichts zu verbergen haben, tun mir leid.

Schöne neue Welt! Das Bemerkenswerteste an der schönen, neuen digitalen Welt ist, dass sie es fertig bringt, dass man in der Hölle lebt und diese Hölle gleichzeitig für den Himmel hält. Die Leute erleben ihre Totalerfassung und –kontrolle als intimste ihrer Leidenschaften. Die Leute stehen Schlange, um ihren Kopf freiwillig unter die Guillotine zu legen, wie es bei Eggers heißt.

Samstag, der 7. März 2015

Drei kleine Mädchen, vielleicht Geschwister, sitzen auf einem Mäuerchen vor einem Kaufhaus. Wahrscheinlich warten sie auf ihre Eltern. Die Älteste der drei blättert in einem Buch und liest den anderen vor: „Bei Facebook gibt es insgesamt 125 Milliarden Freundschaften.“

Samstag, der 14. März 2015

Mitten in der Pegida-Diskussion und den ständigen Appellen an die Toleranz stoße ich auf folgende Sätze von Goethe: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“

Sonntag, der 15. März 2015

In der Süddeutschen Zeitung vom Wochenende (14./15. März 2015) findet sich unter der Überschrift Illusion der Stärke ein Artikel von Christina Berndt zum Thema Resilienz. Die Fehlzeiten wegen psychischer Leiden sind in Deutschland von rund dreißig Millionen Tagen im Jahr 2001 auf zuletzt mehr als 60 Millionen angewachsen. Die Weltgesundheitsorganisation hat den Stress zu einer der größten Gefahren des 21 Jahrhunderts erklärt. Nicht nur in der Bevölkerung, auch bei Arbeitgebern ist das Thema Resilienz angekommen – jene faszinierende psychische Widerstandskraft, die Menschen instand setzt, Stress auszuhalten, Krisen zu überwinden und nach Niederschlägen wieder aufzustehen. Der Boom des Themas passt auch den Wirtschaftsbossen ins Konzept. Neuerdings nutzen immer mehr Firmen Konzepte zur Steigerung der psychischen Widerstandskraft. Dabei ist das Prinzip Resilienz eigentlich nicht dazu gedacht gewesen, Menschen für die Arbeit fit zu machen und fürs Büro zu dressieren, sondern sie im Umgang mit den Herausforderungen ihres Lebens zu stärken. Die Zahl der Unternehmen wächst, die ihren Belegschaften Resilienz-Trainings anbieten. Belegschaften sollen lernen, mit immer stärkeren Belastungen umzugehen und die Produktivität ihrer Arbeit zu steigern. Es scheint, als hätten Unternehmer die Herkunft des neuen Zauberworts zu intensiv studiert. Es stammt aus der Materialwissenschaft und beschreibt Stoffe, die auch nach extremen Verformungen wieder in ihren Ausgangszustand zurückkehren. Arbeiter und Angestellte sind aber kein Material, das sich von allen Schlägen, die die Chefs ihnen zufügen, schnell wieder zu erholen hat. Sogenannte Arbeitgeber nutzen die Trainings nur, um ihren Leuten noch mehr aufbürden zu können. Ihre Belastbarkeit soll erhöht werden.

Dienstag, der 24. März 2015

Immer öfter begegne ich in der Stadt Gruppen von Arbeitern, die Overalls oder Jacken tragen, auf die der Name der Firma oder ihr Logo aufgedruckt ist. Mitarbeiterinnen von Bäckereien und anderen Geschäften und Kaufhäusern werden in bunte Kittel gesteckt. Die Einheitskleidung soll den „Teamgeist fördern“, die Identifikation mit dem Arbeitgeber und gilt als Zeichen einer „gemeinsam gelebten Unternehmensphilosophie“. Die Vorteile einer einheitlichen Kleidung der Mitarbeiter für Unternehmen liegen auf der Hand: sie steigert den Profit. Solange der Ostblock existierte, hätte man so etwas nicht gewagt. Man hätte die Parallelen gescheut. Jetzt muss man solche Vergleiche nicht mehr fürchten und legt Scham und Hemmungen ab. Ungeniert gibt man den Arbeitern das Aussehen von Sträflingskolonnen und markiert sie als Firmeneigentum.

Dienstag, der 14. April 2015

In der FAS vom 12. April 2015 findet sich ein Artikel über meditierende und Yoga betreibende Banker und Manager. In Washington erregten dreihundert Banker Aufsehen, als sie zusammen mit dem Präsidenten der Weltbank, Jim Yong Kim, dem Zen-Mönch Thich Nhat Hanh und zwanzig seiner in braune Roben gekleideten Mitbrüdern eine „Gehmeditation“ mitten in Downtown veranstalteten. Beim World Economic Forum in Davos, bei dem jedes Jahr die Mächtigsten und Reichsten der Welt zusammentreffen, stand morgens um acht eine gut besuchte Achtsamkeitsmeditation auf dem Programm, die der amerikanische Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn leitete. Goldman-Sachs-Vorstand William George wies in Davos darauf hin, dass inzwischen Hunderte von Investmentbankern an der Wallstreet regelmäßig meditieren. Auch die Deutsche Bank und die EZB sollen mit Meditationsgruppen experimentieren. Insgesamt ist eine ganze Yoga-Industrie entstanden, die weltweit 80 Milliarden Dollar umsetzt und riesige Gewinne abwirft. In Deutschland sollen fünf Millionen Menschen regelmäßig Yoga betreiben und dafür viel Geld ausgeben. Marktführer ist die Yogakette Yoga-Vidya, die ihren Hauptsitz in Bad Meinberg im Teutoburger Wald hat. 10 Millionen Euro setzt der Inhaber Volker Bretz jährlich um – mit 300 Studios, CDs und einer eigenen Kosmetikserie. Es gibt Yoga-Kurse für alle möglichen Zielgruppen: Es gibt Yoga für Schwangere, für Singles und junge Mütter, für Frauen in den Wechseljahren und Senioren, für Männer oder Babys, Poweryoga für gestresste Manager in der Mittagspause und besondere Programme für Paare.

Wie kann man das deuten? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Kapitalismus und Buddhismus? Es ist höchste Zeit, Max Webers Studie über die Protestantische Ethik fortzuschreiben und zu fragen, welche Form der Religiosität zu welcher Stufe der kapitalistischen Entwicklung passt. Die protestantische Ethik schien Weber der mentale, ideologische Treibstoff der beginnenden kapitalistischen Akkumulation zu sein, die auf Sparsamkeit setzte und den erzielten Gewinn reinvestierte. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Buddhismus und dem hochfluiden, spekulativen Kapital der Gegenwart? Wie kommt es zu der perversen Verschmelzung von Spiritualität und Kapitalismus, die wir gegenwärtig erleben? Die Anforderungsstruktur des Finanzkapitalismus der Gegenwart scheint jedenfalls eher mit fernöstlicher Spiritualität oder dem, was man dafür hält, kompatibel zu sein, als mit der puritanischen Zwangsneurose vergangener Stufen der kapitalistischen Entwicklung.

Die Medienunternehmerin Arianna Huffington begründet die Begeisterung der Firmen für Yoga und Meditation so: „Das, was für uns als Individuen gut ist, ist auch für die amerikanischen Unternehmen gut.“ Der Buddhismus treibt die Dialektik von Selbstverwirklichung und totaler Inanspruchnahme durch die Firma auf die Spitze, die in der neuen Unternehmenskultur ohnehin schon seit Längerem angelegt ist. Dem erleuchteten Angestellten verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Leben, Büro und Privatsphäre. Bisher war das Büro nur in die sozialen, kulturellen und psychischen Schichten der Angestellten-Person vorgedrungen, nun könnte es auch noch ihre metaphysische Seite erobern und sie damit vollends in Besitz nehmen. Der sogenannte Flow, englisch für „Fließen, Rinnen, Strömen“, bezeichnet das als beglückend erlebte Gefühl eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht und keinen Anfang und kein Ende kennt. Die Unternehmen bedienen sich fernöstlicher Spiritualität, um ihre Bürowichtel in diesen für sie äußerst profitablen Zustand zu versetzen.

Dienstag, der 14. April 2015

Am Montag, am gleichen Tag wie Günter Grass, ist der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano gestorben, aus dessen Buch Die offenen Adern Lateinamerikas meine Generation ihr Wissen über die Strukturen der Unterentwicklung des lateinamerikanischen Subkontinents bezog. Ich blättere in seinem nicht so bekannten Buch Die Füße nach oben und stoße auf folgende Passage unter der Überschrift Für ein Seminar in Strafrecht: „Im Jahre 1986 besuchte ein mexikanischer Abgeordneter das Gefängnis von Cerro Hueco in Chiapas. Dort traf er einen Tzotzil-Indio, der seinem Vater die Kehle durchgeschnitten hatte und zu dreißig Jahren Haft verurteilt worden war. Der Abgeordnete fand jedoch heraus, dass der verstorbene Vater seinem gefangenen Sohn jeden Tag zum Mittagessen Tortillas und Bohnen brachte. Jener Tzotzil-Gefangene war auf Spanisch verhört worden, eine Sprache, die er kaum oder gar nicht verstand, und nach einer ordentlichen Tracht Prügel hatte er gestanden, eine Tat begangen zu haben, die man Vatermord nennt.“

Donnerstag, der 16. April 2015

Computer und Algorithmen übernehmen den Geld- und Finanzmarkt. Sie steuern Transaktionen in einer Geschwindigkeit, die für Menschen nicht mehr nachvollziehbar ist. Wertpapiere werden inzwischen nicht mehr im Sekundentakt transferiert, sondern im Nanosekundenbereich. Das Ganze hat sich vom Menschen emanzipiert, der nur noch als Zuschauer dabei ist – und irgendwann als Opfer. Damit wird die Erscheinungsweise des Geldes seinem Begriff adäquat: Sich verwertender Wert, automatischer Fetisch, Geld heckendes Geld. Experten fordern seit Langem, diesen computergestützten Hochfrequenzhandel zu verbieten. Er bietet gewieften Hackern ungeahnte Möglichkeiten, das System kollabieren zu lassen und damit eine Weltwirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes heraufzubeschwören.

Samstag, der 18. April 2015

Auf dem Spielplatz am Citycenter möchte ein zweieinhalbjähriger Junge einen gepflasterten, sanft gerundeten Hügel erklimmen, der vielleicht einen halben Meter hoch ist. Prompt stürzt seinen Mutter herbei und ruft panisch: „Nein, Liam, da kannst du dir wehtun!“ Sie ergreift seine Hand und zieht ihn zurück vom Mount Everest in die Niederungen des weichen Sandes.

Jetzt dürfen Kinder sich nicht einmal mehr wehtun, dachte ich beim Weitergehen. Kein Wunder, dass sie später in ihren motorischen Fähigkeiten derart eingeschränkt sind, dass man sie zur Ergotherapie schicken muss. Dazu passt die Beobachtung eines Freundes, der als Trainer in einem Turnverein tätig ist. Er stellt immer wieder erstaunt fest, dass viele Kinder kein Sensorium für Gefahren und Risiken besitzen und sich selbst und andere dadurch mitunter nicht unerheblich verletzen. Wenn alle Stöße und Schläge, die das Kind beim Versuch erhält, den Weg von der Mama weg in die objektive Ordnung der Welt einzuschlagen, immer wieder abgefedert werden, dann bleiben diese Kinder seltsam erfahrungslos. Der Widerstand der Dingwelt wird in die Watte der Verwöhnung und Überbehütung gepackt, womit man den Kindern die Möglichkeit nimmt, sich an den Ecken und Kanten der Welt zu stoßen und sich in dieser Reibung am Widrigkeitskoeffizient der Dinge zu entwickeln. Eltern sind die Chauffeure ihrer Kinder, fahren sie von Termin zu Termin. Sie bringen sie in die Schule und holen sie dort wieder ab. Sie tragen ihnen die Schultasche bis zum Eingang. Bei etwaigen Konflikten der Kinder untereinander oder mit dem Lehrpersonal treten sofort die Eltern auf den Plan und stürzen sich für ihre Kinder in den Kampf, statt sie selbst nach einer Lösung suchen zu lassen. Nicht einmal auf dem Schulweg haben Kinder Gelegenheit, sich der ubiquitären Kontrolle und Fürsorge zu entziehen und untereinander ihre Erfahrungen zu machen. Kein Wunder, dass sie keine Balance und kein Körpergefühl haben, dass sie nicht rückwärts laufen und keinen Ball fangen können.

Donnerstag, der 23. April 2015

Monty Python“-Mitglied John Cleese berichtete dieser Tage in einer Talkshow, er habe als Kind nie geweint. „Ich hatte wohl Angst, dass meine Mutter kommt“, sagte er zur Erklärung.

Sonntag, der 26. April 2015

In Kempowskis Sirius. Eine Art Tagebuch auf folgende Passage gestoßen: „Ich sitze und gucke in die Gegend. Dafür leben wir, dass wir so dasitzen und in die Gegend gucken, das ist der erstrebenswerteste Lebenszustand. Man nennt ihn ‚Muße‘.“

Bei Herbert Achternbusch findet sich eine ähnliche Formulierung: Der Mensch möchte etwas anderes als tüchtig sein, „nämlich nichts als seinen Kopf in die Luft zu halten“. In seiner „Rede zum eigenen Land“, die er irgendwann in München gehalten hat, hat er seine Theorie des Müßiggangs in einer Liebeserklärung an die Mongolen versteckt: „Die Chinesen, die ich eigentlich nur rühmend erwähnen möchte, nennen die Mongolen die Affen. Die Mongolen schauen der selbstlosen Betriebsamkeit der Chinesen blasiert zu. Die Chinesen bauen den Mongolen Schulen und Fabriken, die die Mongolen meiden. Die Mongolen machen den Eindruck, als wären sie mit etwas anderem beschäftigt, vielleicht mit nichts. Wenn die fleißigen Chinesen meine Achtung haben, so haben diese Mongolen mein, wie soll ich es nennen? Was soll ich ihr Eigenleben irgendwie noch bezeichnen? Sie haben mein Vertrauen. Ich bin ihnen irgendwie zu eigen. Die Mongolei ist das Land meiner inneren Emigration …“

So ganz zweckfrei mag der Philosoph Josef Pieper die Muße nicht durchgehen lassen. Sie ist doch zu etwas nutze, denn wir verdanken ihr wichtige Erkenntnisse: „Die großen, die glücklichen, die niemals erjagbaren Einsichten und Einfälle werden uns im Zustand der Muße zuteil. In solcher schweigenden ‚Geöffnetheit der Seele‘ mag auch dem Menschen einmal geschenkt werden, zu gewahren, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘ – vielleicht nur für die Dauer eines Blitzes, so dass nachher die Einsichten dieses Augenblicks in angespannter ‚Arbeit‘ wieder entdeckt werden müssen.“

Samstag, der 2. Mai 2015

In Weimar haben Nazis eine Maikundgebung der Gewerkschaften überfallen und mehrere Menschen verletzt. Etwa 50 Neonazis haben die von 200 Menschen besuchte Veranstaltung gestürmt, das Mikrophon an sich gerissen und ihre Parolen gebrüllt. Gerade dieser Tage, wo landauf-landab an den 70. Jahrestags des Endes des Faschismus erinnert wird, belehrt uns dieses Ereignis darüber, dass er keineswegs am 8. Mai 1945 untergegangen ist, sondern bis heute fortexistiert und die Gefahr keineswegs gebannt ist. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, warnte bereits Brecht.

Montag, der 4. Mai 2015

„Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“, schreibt Cees Nooteboom eingangs seines Romans Rituale. Neulich las ich in Botho Strauß‘ neuem Buch Herkunft den  Satz: „Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht.“ Was so viel heißt: Es ist eine veränderliche Größe, je nach Sehnsuchts- und Bedürfnislage. Kluge hat das andersherum einmal so ausgedrückt: „Die Libido hat keine Lust, sich mit der Apokalypse zu befassen.“

Die Erinnerung arbeitet jedenfalls nicht wie ein Kopiergerät oder ein Computer, die die Dinge und Ereignisse so festhalten, speichern und wiedergeben, wie sie sich ereignet haben. Die Erinnerung ist ein aktives Vermögen, das in die Geschehnisse eingreift und im Interesse unseres Narzissmus umschreibt und umformt. Sie ist nicht in erster Linie an der Wahrheit interessiert, sondern verhält sich lebensdienlich: Was mit unserem Selbstbild nicht vereinbar ist, verfällt einem gnädigen Vergessen. Niemand wusste das besser als Nietzsche, in dessen Buch Jenseits von Gut und Böse es heißt: „‘Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“ 

Dienstag, der 5. Mai 2015

Die Süddeutsche Zeitung brachte am Wochenende eine große Reportage über die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland. Seit die Tiere Ende der 90er Jahre aus Polen eigewandert sind, existieren in Deutschland 31 Rudel und ein paar einzelne Exemplare. Sie leben vor allem in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Brandenburg. Ab und zu sorgen sie für Schlagzeilen, wenn irgendwo Schafe oder Lämmer von Wölfen gerissen werden. Aktuelle Ängste mischen sich mit archaischen vorm bösen Wolf, den wir alle aus Märchen kennen. Um das Zusammenleben von Mensch und Wolf in geregelte Bahnen zu lenken, hat man das sogenannte Wolfsmanagement erfunden. „Monitoring, Herdenschutz, Aufklärung sind im Groben dessen Themen.“ Bemängelt wird, dass jedes Bundesland sein Wolfsmanagement selbst gestalte, fünf Länder hätten noch gar keinen solchen Plan. „Hessen ist überhaupt nicht vorbereitet“, empört sich die Journalistin Elli Radinger. Sie fordert ein bundesweites Wolfsmanagement, einheitliche Standards im Umgang mit dem Tier, eine zentrale Datensammlung.

Da gewährt uns der Wolf die Gnade seiner Rückkehr, nachdem wir ihm im Laufe des 19. Jahrhunderts den Garaus gemacht hatten, und wie empfangen wir ihn? Mit einem Wolfsmanagement und einheitlichen Standards! Als Wolf würde ich mich, wenn ich das Wort Wolfsmanagement hörte, sofort wieder in die Karpaten oder die Weiten der russischen Steppe zurückziehen. Warum lässt man die Wölfe nicht einfach in Ruhe?

Donnerstag, der 7. Mai 2015

Heute vor 100 Jahren wurde das englische Passagierschiff Lusitania von einem U-Boot der deutschen Kaiserlichen Marine vor der Südküste Irlands versenkt, wobei rund 1.200 Menschen ums Leben kamen.

Am 7. Mai 1915 saß Michael, das Double des Autors in Leonhard Franks autobiographischem Roman Links wo das Herz ist, in Berlin im Café des Westens. „Plötzlich sah er, dass vorne bei der Eingangstür, wo die Börsenberichte und daneben die Heeresberichte hingen, grauhaarige Börsianer einander unter Freudenausrufen umarmten. Er dachte, der Krieg sei aus. (…) Der Journalist, ein wohlmeinender Mann, der später Redakteur an einer sozialistischen Zeitung wurde – nach dem Krieg -, eilte vor zu den Berichtszetteln. Als er zurückkam, sagte er, außer sich vor Begeisterung: ‚Wir haben die Lusitania versenkt, mit 1198 Passagieren.‘ Er sagte: ‚Die Versenkung der Lusitania ist die größte Heldentat der Menschheitsgeschichte.‘ Michael, der genügend Phantasie hatte, um sich vorstellen zu können, was das ist, wenn 1198 Menschen im nachtschwarzen Meer ums Leben kämpfen und hilflos versinken, verlor den letzten Rest an Selbstbeherrschung. Er stand auf und schlug dem Journalisten wortlos ins Gesicht. Ringsum schnellten alle von den Stühlen hoch.

Michael verließ das Café durch eine Gasse feindseliger Gäste. Er ging sofort heim, packte einen Handkoffer und fuhr ab, nach der Schweiz.
Den folgenden Morgen erschienen zwei Polizisten in Zivil in der Wohnung. Sie fragten Lisa nach Michael und zeigten ihr den Haftbefehl.“
Leonhard Frank – einer der ganz wenigen Lichtblicke im Milieu deutscher Intellektueller, Künstler und Schriftsteller, die in ihrer Mehrheit von der nationalen Hysterie erfasst wurden und in das Kriegsgeschrei einstimmten.

Samstag, der 20. Juni 2015

Es existiert neuerdings in Gießen ein Georg Büchner-Debattierclub, dessen Motto lautet:
„Wer reden kann ist klar im Vorteil.“
Im Internet präsentiert der Debattier-Club sich wie folgt:

Was ist Debattieren?
Wir verstehen Debattieren als ein Wortsport, bei dem das kompetitive Argumentieren unter sportlichen Gesichtspunkten eingeübt wird. Dabei geht es geht nicht darum “herumzuphilosophieren” oder zu “schwafeln”, sondern darum gemeinsam in regelmäßigen Trainingssitzungen schnelle Fortschritte beim freien Reden zu erreichen.

Was bringt Dir das Debattiertraining bei uns?
Bei uns kannst Du lernen, wie man im öffentlichen Raum redet und argumentiert. Professionelle Debattier- und Rhetoriktrainer führen Dich in die Kunst der überzeugenden Rede ein. Der Nutzen für Dich liegt auf der Hand:

  • Eventuelle Redehemmungen wie von selbst abbauen.
  • Durch ausführliches Feedback werden schnelle Verbesserungen beim freien Reden erreicht, sodass das nächste Referat oder Bewerbungsgespräch keine Hürde mehr darstellt.
  • Nebenbei lernst Du viele nette Leute aus unterschiedlichen Bereichen der Universität kennen und jede Menge Spaß ist garantiert!

Unter Berufung auf Georg Büchner wollen sich Studierende private Standortvorteile und eine bessere Startposition im Rattenrennen um gutdotierte akademische Stellen verschaffen. Wer in der Karriere weiterkommen will, braucht nicht nur Fachwissen, sondern auch so genannte Soft Skills. Sich gut ausdrücken und frei sprechen können gehören zu diesen. Büchner beschreibt die Rolle der Wissenschaft beinahe noch kritischer als die des Militärs. Der Doktor im Woyzeck, der den einfachen Soldaten zum Objekt seiner wissenschaftlichen Experimente und seines Herrenzynismus macht, ist einem seiner Gießener Lehrer – dem Anatom und Physiologen Wilbrand – nachgebildet. Der Prototyp des von Büchner verachteten Wissenschaftlers ist jener Gutachter Clarus aus dem Leipziger Woyzeck-Prozess, der dem Gericht voller Abscheu und Entrüstung über den Menschen Woyzeck berichtet, an dessen schändlichem Beispiel man lernen möge, wohin „Arbeitsscheu, Spiel, Trunksucht, ungesetzmäßige Befriedigung der Geschlechtslust und schlechte Gesellschaft“ zu führen vermöchten. Die Beweggründe der Niedrigen erscheinen dem Hofrat Clarus als niedrige Beweggründe, gegen die die Kraft des sittlichen Willens in Stellung gebracht werden muss. Büchner lässt den Woyzeck im Gespräch mit dem Hauptmann, den er täglich rasieren muss, sagen: „Ja, Herr Hauptmann, die Tugend, – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein‘ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss etwas Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.“

Wer sich auf Büchner beruft und sich seines Namens bedient, sollte seine Intentionen teilen. Der Revolutionär Büchner würde sich in seinem Züricher Grab herumdrehen, wenn er wüsste, dass sich Gießener Jungakademiker in seinem Namen auf ihre Karriere innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft vorbereiten und dabei auch noch „jede Menge Spaß“ haben wollen. „Geld verdienen“ und „Spaß haben“, lautet das Lebensprogramm der heutigen Studentengeneration, die den Wissenschaftsbetrieb und ihre Rolle als Akademiker und Wissenschaftler in der spätbürgerlichen Gesellschaft mit keinem Wort hinterfragen. Man kann sehr wohl seinen Spaß haben, aber der Spaß geht daneben, solange er von Ohnmacht und Unterwerfung unter einen zutiefst unversöhnten gesellschaftlichen Zustand zeugt und auf Kosten der Woyzecks unserer Tage geht, die als Paketboten den Studierenden ihre bei Amazon bestellten Bücher ins Haus tragen oder in Schlauchbooten ihrer verzweifelten Lage zu entkommen versuchen und dabei vor unseren Toren elend ersaufen.

Lesen Sie morgen auf den NachDenkSeiten den zweiten Teil von Götz Eisenbergs „etwas anderen“ Jahresrückblick


[«*] Dr. Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitet als Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Im Verlag Brandes & Apsel ist Anfang des Jahres sein neues Buch „Zwischen Amok und Alzheimer – Zur Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus“ erschienen. Siehe dazu die Rezension von Joke Frerichs auf den NachDenkSeiten.


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