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Titel: Eine kleine Weihnachtsgeschichte von Truthähnen, Schwarzen Schwänen und Modellökonomen

Datum: 23. Dezember 2015 um 11:26 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Denkfehler Wirtschaftsdebatte
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Falls Sie immer schon wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten, was Ihr Weihnachtsbraten mit dem VW-Abgasskandal, Fukushima, der Finanzkrise oder „Deutschlands bestem Ökonomen“ Hans-Werner Sinn gemeinsam hat… möglicherweise erhalten Sie hier nun endlich die Antwort. Von Thomas Trares [*]

Es war einmal ein Truthahn, der, in einem dunklen Stall gefangen, sein Dasein fristete. Zunächst verängstigt, stellte das Tier im Laufe der Zeit fest, dass der Bauer doch ein guter Mann sein müsse. Denn jeden Tag, pünktlich um Viertel nach acht, kam er in den Stall und stellte dem Truthahn eine Schale voll mit leckerem Futter vor den Schnabel. Und jeder Tag, an dem sich diese Prozedur wiederholte, bestärkte den Truthahn in der Annahme, dass er es doch kaum besser haben könne als hier bei diesem netten Bauersmann. Das Federvieh ließ es sich fortan gut gehen und aß sich fett und träge. Doch kurz vor Heiligabend kam der gute Mann statt mit der Futterschale mit einem Schlachtermesser in den Stall. Dann war es um das arme Tier geschehen. Es landete tags drauf als leckerer Weihnachtsbraten auf dem Festtagstische der freudig gestimmten Bauersfamilie.

Diese Geschichte trägt sich nicht nur jedes Jahr an Weihnachten in unzähligen Wohnstuben der christlichen Welt zu, sondern ist zugleich auch die zentrale Parabel in Nassim Nicholas Talebs Bestseller „Der Schwarze Schwan“. Für Taleb, der mal als Philosoph, Finanzanalyst, Fondsmanager oder auch mal als Lebenskünstler bezeichnet wird, ist ein Schwarzer Schwan ein seltenes, überraschendes Ereignis mit massiven Auswirkungen und Vorhersehbarkeit im Rückblick (nicht in der Vorausschau).

Wer und was genau ein Schwarzer Schwan ist, kann aber nur von Fall zu Fall entschieden werden. Für den Atomlobbyisten ist es Fukushima, für den VW-Aktionär der VW-Abgasskandal, für den marktgläubigen Ökonomen die Finanzkrise, für den Truthahn der Tag der Schlachtung, usw. Die Geschichte vom Schwarzen Schwan ist eine im Englischen durchaus gebräuchliche Metapher, die sich auf die Entdeckung schwarzer Schwäne in Westaustralien Ende des 17. Jahrhunderts bezieht, ein damals sensationelles Ereignis.

Taleb wiederum zieht aus dieser Geschichte den Schluss, dass aus den Daten der Vergangenheit nicht einfach auf die Zukunft geschlossen werden kann. „Große Ereignisse haben keine Vorgänger“, sagt er. Die Tatsache, dass bis Ende des 17. Jahrhunderts kein Europäer je einen schwarzen Schwan gesehen hat, heißt eben nicht, dass es keine schwarzen Schwäne gibt. Und die Tatsache, dass der Bauer den Truthahn jeden Tag füttert, heißt eben nicht, dass er ihn nicht doch irgendwann zur Schlachtbank führt.

Für Taleb sind aber auch modellgläubige Mainstream-Ökonomen, also Neoklassiker, solche Truthähne. Denn auch sie neigen dazu, ihre Modelle mit Daten aus der Vergangenheit zu füttern und damit auf die Zukunft zu schließen. Und dann erleiden sie Schiffbruch. Ein Paradebeispiel dafür sind die US-Wissenschaftler Myron Scholes und Robert C. Merton, die 1997 für ihre Kapitalmarktforschung den Wirtschaftsnobelpreis erhielten und kurz darauf mit ihrer Methode den Hedgefonds LTCM in den Sand setzten. Sie hatten einfach nicht die russische Währungskrise vorhergesehen, die damals die Finanzmärkte erschütterte.

Taleb sieht das Kardinalproblem darin, dass die Risikomodelle der Ökonomen statistische Ausreißer systematisch ignorieren. Er verdeutlicht dies an den Welten Mediokristan und Extremistan: Wählt man 50 Menschen zufällig aus und misst deren Körpergröße, so wird das Hinzutreten des größten Mannes der Welt den gemessenen Durchschnitt kaum verzerren. Dies ist die Welt des Mediokristan. Erfasst man dagegen das Vermögen der 50 ausgewählten Leute und fügt nun zu diesen den reichsten Mann der Welt hinzu, dann wird der Durchschnittswert aller Voraussicht nach explodieren. Dies ist die Welt des Extremistan.

Taleb kritisiert nun, dass die Risikomodelle der Ökonomen in der Welt des Mediokristan zuhause sind, während die Geschehnisse an den Finanzmärkten tatsächlich aber den Gesetzen von Extremistan gehorchen. „Das ist so als würden wir ein Medikament für Pflanzen entwickeln und es dann bei Menschen anwenden.“

Die Realität gibt ihm offensichtlich recht. Den Aktiencrash vom Oktober 1987, bei dem der US-Leitindex Dow Jones an einem Tag fast 23 Prozent verlor, hätte es nach den Wahrscheinlichkeitsmodellen der Ökonomen „lediglich einmal in mehreren Milliarden Lebenszeiten des Universums“ geben dürfen. Es gab ihn aber schon vor knapp 30 Jahren. Gleiches kann man auch von der Finanzkrise behaupten. Auch die haben die Ökonomen nicht kommen sehen. Taleb hat eine klare Meinung dazu. „Falls Sie aus dem Munde eines ´prominenten´ Wirtschaftswissenschaftlers die Wörter Gleichgewicht oder Normalverteilung hören, sollten Sie keinen Streit mit ihm anfangen. Ignorieren Sie ihn einfach, oder versuchen Sie, ihm eine Ratte in den Kragen zu stecken.“

Taleb ist zwar ein Kritiker des ökonomischen Mainstream, aber dennoch kein Linker. Vielmehr wendet er sich gegen alles, was die Realität in ein vorgefertigtes Schema pressen will. Ein (intervenierender) Sozialplaner etwa ist für ihn ein Mensch, der „das Wirtschaftssystem mit einer Waschmaschine verwechselt, die ständig (von ihm) repariert werden muss und die deshalb als Schrotthaufen endet“. Seine Ablehnung von Interventionismus jedweder Art lässt ihn sogar mit dem libertären Säulenheiligen Friedrich August von Hayek sympathisieren, den er auch schon mal als „wertvollen Denker“ bezeichnete.

Im Gegensatz zu den modellfixierten Ökonomen setzt Taleb auf mehr Pragmatismus, Bauernschläue und Daumenregeln. Er selbst versteht sich als „empirischen Skeptiker“. Die überall lauernden Schwarzen Schwäne will er mit der Hantel-Strategie zähmen. Demnach sollte man sein Vermögen wie die Gewichte bei einer Hantel auf den äußeren Rand verteilen. Sprich den größten Teil des Vermögens sollte der Anleger in absolut sichere Anlageformen stecken, um sich vor negativen Schwarzen Schwänen zu schützen. Mit einem kleinen Rest, vielleicht zehn bis 15 Prozent, sollte er dagegen wild spekulieren, um von positiven Schwarzen Schwänen zu profitieren. Das „mittlere Risiko“ gilt es zu meiden.

Kurzum: Nun sollte Ihnen die Antwort auf die Eingangsfrage eigentlich kein Kopfzerbrechen mehr bereiten. – Richtig! Ob Weihnachtsbraten, Fukushima oder Hans-Werner Sinn… überall könnte ein Truthahn mit von der Partie sein.


[«*] Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.


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