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Titel: Wenn Regierungen lügen und Medien mitmachen

Datum: 11. Januar 2016 um 9:55 Uhr
Rubrik: Ideologiekritik, Interviews, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich:

David Goeßmann

Das Vertrauen in die Medien ist so gering wie selten zuvor. Man fühlt sich nicht repräsentiert, einseitig informiert, „belogen“ sogar. Doch was ist dran an solchen Vorwürfen, die von Leitmedien und Arrivierten in aller Regel mit dem Hinweis, niemals zu lügen, abgetan wird? Jens Wernicke sprach hierzu mit dem Autor, Journalisten und Medienkritiker David Goeßmann, Mitbegründer des unabhängigen TV-Nachrichtenmagazins Kontext TV.

Herr Goeßmann, auch Sie sind mit einem Beitrag im gerade erschienenen Buch „ARD & Co.: Wie Medien manipulieren“ vertreten. Und ich dachte immer, der Vorwurf, Medien würden manipulieren, käme „von rechts“ – Sie aber erheben ihn auch als Journalist. Wie kommt es dazu? Wogegen richtet sich Ihre Kritik?

Lassen Sie es mich mit einem der größten investigativen Journalisten des letzten Jahrhunderts sagen. Der US-Journalist I. F. Stone hatte bei seiner Arbeit ein ehernes Prinzip: Reporter sollten mit der Voraussetzung an ihre Arbeit gehen, dass mächtige Institutionen lügen und nicht damit, dass sie die Wahrheit sagen. „Governments lie“, war seine Devise. In den 1950er Jahren wollte jedoch keine Zeitung den angesehenen Journalisten anstellen. Er stand auf schwarzen Listen der US-Regierung.

1953 gründete er das berühmte I.F. Stone Weekly, einen Newsletter, aus der Not geboren. Der „muckraking journalist“ Stone war damit eine Art Pionier-Blogger, Vorbild für unabhängige Journalisten wie Michael Moore, Glenn Greenwald oder Jeremy Scahill. Während New York Times, CBS und Co. in den Vereinigten Staaten einfach Regierungspropaganda weiterreichten, opponierte Stone bereits früh gegen den Vietnamkrieg, gegen Diskriminierung und politische Repression. Sein journalistischer Stil war schmucklos:

”Ich habe mich nie für Insider-Kram interessiert. (…) Ich versuchte vielmehr Informationen bereitzustellen, die belegt werden können, so dass die Leser sie selbst überprüfen können. Ich bemühte mich, die Wahrheit aus Anhörungen, offiziellen Mitschriften und Regierungsdokumenten so akkurat wie möglich freizulegen. (…) In jeder Ausgabe habe ich versucht, Fakten und Meinungen, die sonst nirgends in der Presse aufzufinden sind, zu bieten.“

Stone war es auch, der dem US-Präsidenten Lyndon B. Johnson nachwies, dass er zum Vorfall im „Golf von Tonkin“ gelogen hatte, veröffentlicht in seinem „one-man“ Weekly. Die millionenschweren US-Mainstreammedien von New York Times und Washington Post mit besten Kontakten in die gesellschaftlichen Schaltzentralen schwiegen dazu.

Mit der gleichen Skepsis, die I.F. Stone der Regierung entgegenbrachte, sollte man auch an die Berichterstattung der Mainstreammedien herangehen. Denn auch sie stellen mächtige Institutionen dar. Wer sich anschaut, wer die Medien besitzt, finanziert, managt, den notwendigen Strom an Informationen und Nachrichten täglich bereitstellt oder sie mit „Gegenfeuer“ beeinflussen und disziplinieren kann, der sollte die Zeitung morgens mit einer tiefen Grundskepsis aufschlagen oder die Nachrichten anschalten. Die Frage sollte im Kopf immer lauten: Sieht die Welt wirklich so aus? Erhalten wir das volle Bild über relevante Ereignisse? Wer erhält ein großes Forum und wer nicht? Wo wird verzerrt, gelogen, weggelassen, ausgeblendet und mit doppelten Standards berichtet?

Man kann natürlich auch dem Idealismus der „freien Presse“ folgen. Das ist die Grundhaltung, die uns anerzogen worden ist. Sie macht jedoch keinen Sinn. Ich meine, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse enden ja nicht auf wunderbare Weise an den Toren der Medienunternehmen und Rundfunkanstalten.

Journalisten sollten daher vor allem mit der Wahrheit verheiratet sein – und nicht mit ihren Medienunternehmen oder -anstalten. Und Medienkritik sollte eine ihrer vornehmsten Aufgaben sein. Denn was die Bürger über die Welt erfahren, bekommen sie aus den Massenmedien. Daher muss die Berichterstattung permanent überprüft und hinterfragt werden, in Hinsicht darauf, ob die Medien dieser Verantwortung auch gerecht werden.

Und dabei ist es ja auch nicht so, dass wir bei null anfangen müssten: Es gibt bereits einen enormen Korpus an fundierter, gut belegter Medienkritik und -analyse. Und auch viele Journalistinnen und Journalisten tragen täglich dazu bei, uns eine andere, zum Schweigen gebrachte Welt zu präsentieren, fast immer jedoch außerhalb der klassischen medialen Öffentlichkeit. Sehr beindruckend, sehr progressiv, sehr inspirierend. Das ist der Keim für die allerorts so dringend notwendige Veränderung.

Aber ist Medienkritik nicht per se „rechts“? Also, etwa die Rede von der „Lügenpresse“; ein Wort, das ja zum Unwort des letzten Jahres erklärt worden ist…

Es hat immer auch eine Kritik an den Medien gegeben, dass sie zu „links“, zu „liberal“ seien. Im politischen Mainstream wird dieser Mythos permanent evoziert, um Grenzen zu markieren und Meinungs-„Exzesse“ schon im Keim zu ersticken. Aber es gibt die Vorwürfe auch von außerhalb – mit einer ähnlich kruden Vorstellung von „Liberalität“. Das Pegida-Wort „Lügenpresse“ ist natürlich ein Geschenk für jene, die fundierte Kritik auf Distanz halten wollen. Denn wer das Grundvertrauen in Süddeutsche, Spiegel & Co. infrage stellt, darf keine Liebkosungen erwarten. Mächtige gesellschaftliche Institutionen haben kein Interesse daran, infrage gestellt zu werden. Das gilt auch für moderne Massenmedien.

Wer in den 60er Jahren den Vietnamkrieg und die Rolle westlicher Medien kritisierte, wurde als „antiamerikanisch“ diskreditiert. Wer den offiziellen Diskurs über die „Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat“ attackiert, ob nun als Agenda 2010 oder „Griechenlandrettung“ maskiert, dem werden ideologische Kreuzzüge unterstellt. Bei der Ukraine-Krise landet man schnell neben Putin und Menschenrechtsverletzungen, früher waren es Stalin und der Gulag. Bei der Kritik an den Massakern der israelischen Regierung im Gazastreifen und deren medialer Präsentation wird rituell eine neue „Welle von Antisemitismus“ ausgemacht. Und wer nach 9/11 in Vorbereitung auf den US-geführten Luftkrieg gegen Afghanistan nur leicht vom offiziellen Meinungskurs abwich, fand sich als Terroristen-Versteher einsortiert.

Wir erinnern uns noch an die Demutsgeste, die der damalige Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert machen musste, weil er es gewagt hatte, in einem Interview auf die Bush-Kritik der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy hinzuweisen. Die damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel stellte in der Bild-Zeitung daraufhin fest, dass Wickert damit „absolut nicht mehr tragbar als Nachrichtenmoderator im öffentlich-rechtlichen Fernsehen“ sei. Wickert hatte schlicht missverstanden, dass eine im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung publizierte “Außenansicht“, noch lange nicht bedeutet, dass solche Meinungen auch zitierfähig sind.

Und heute eben der Verweis auf Lügenpresse, Pegida, Deutschnationale oder rechte Verschwörungstheoretiker. Alles nicht überraschend und schon gar nicht neu. Die wirksamste Waffe ist aber, unangenehme Medienkritik einfach zu ignorieren..

Und auf welche Art und Weise „manipulieren“ die Medien denn nun genau? Wie organisiert sie hier die Manipulation – und was ist sozusagen ihr Handwerkszeug?

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist nicht so, dass Journalisten sich hinsetzen und sagen: So, jetzt manipulieren wir mal die Ereignisse, die Realität. Ich denke nicht einmal, dass man das Journalisten der Prawda zu Zeiten der Sowjetunion vorwerfen könnte. Jedenfalls sind bewusste Manipulationen nicht das Kernproblem.

Journalisten der Medienunternehmen und Rundfunkanstalten berichten im Prinzip, was sie vor Augen haben, durchaus professionell und objektiv. Aber sie tun das nicht im luftleeren Raum, sondern in einem sehr engen ideologischen Rahmen. Wie gesagt, die Massenmedien haben eine institutionelle Schlagseite. Und diese Schlagseite funktioniert wie ein Set von Filtern, durch das die Informationen und Meinungen hindurchgehen. Und die Filter sind so beschaffen, dass nicht alle Informationen, Meinungen, Hintergründe und Stimmen die gleiche Chance haben zu passieren, die gleiche Aufmerksamkeit erhalten, auch wenn ihre Relevanz für das Verständnis von Ereignissen essentiell ist.

Haben Sie dazu vielleicht ein konkretes Beispiel parat?

Ja, nehmen wir exemplarisch die Weltklimakonferenz in Paris. Das Leitmedium FAZ brachte zum Auftakt ein mehrseitiges „Klimagipfel-Special“. Im Aufmacher erfuhren wir, dass unter Führung der Klimakanzlerin Angela Merkel die „Klimamusterschüler“, die Europäer, beim letzten entscheidenden Gipfel in Kopenhagen 2009 „machtlos“ „vom Katzentisch aus“ zusahen, wie Obama in Nachtsitzungen versuchte, einen Deal herzustellen – und scheiterte. Nun solle gewährleistet werden, dass die Energiewende, wie sie „unter Ächzen“ in Deutschland vorgemacht werde, auch weltweit gelinge. Klima habe längst eine Priorität auf den „Tagesordnungen der G-7-, der G-20-Staaten“ – dank Merkel. Aber es gäbe da Bremser und Klimaschurken. „Saudi-Arabien und Venezuela“ etwa blockierten die Klimaverhandlungen. Und sie sind nicht allein: „Unter Verweis auf die ‚historische Verantwortung‘ der Europäer und Amerikaner weigern sich Staaten wie China, Indien oder reiche Ölstaaten bisher, einen angemessenen Anteil der Kosten dafür zu tragen, den Klimawandel zu verhindern oder sich an seine Folgen anzupassen.“ Wir erfahren, dass die Industrienationen nicht mehr wie noch 1990 zwei Drittel, sondern „nur noch die Hälfte“ der weltweiten Treibhausgase emittierten. Aber: „Die Europäer allein können das Klima nicht retten“.

Im Kern ist das der ideologische Rahmen, in dem die Mainstreammedien Klimaschutz und die Klimakrise thematisieren: EU und Deutschland bemühen sich, die Welt zu retten, andere – wie die USA – müssen noch mitgezogen werden, und die Bremser – China & Co. – müssen endlich auch liefern, nur so kann die Klimakrise verhindert werden. Es gibt noch weitere ideologische Elemente in der medialen Berichterstattung, zum Beispiel, dass die Bevölkerungen für die Rettung des Planeten aufkommen müssen und sollen – und nicht etwa jene, die bis heute mit der Schädigung der Atmosphäre enorme Profite gemacht haben.

Schauen wir uns demgegenüber aber einmal die Realität an: Bisher haben Deutschland und die EU kaum Emissionsreduktionen durch Klimaschutz erreicht, die „Musterschüler“ haben unter anderem von günstigen externen Umständen wie der Deindustrialisierung nach dem Fall der Mauer profitiert. Die deutsche Regierung hat auf EU-Ebene sogar viele Klimaschutz-Maßnahmen blockiert und aufgeweicht, so beispielsweise die CO-2-Grenzwerte bei Neuwagen. Deutschland ist zudem „kohlenstoffinsolvent“, hat von 1990 an gemessen längst sein „Emissionsbudget“ ausgeschöpft und ist tief im Treibhausgas-Soll. Würden die Emissionen, die in China usw. bei der Produktion von Gütern entstehen, die schließlich in Deutschland konsumiert werden, nicht auf das Konto von China, sondern auf das der Deutschen angerechnet, hätten wir ein Viertel mehr Treibhausgase in der Bilanz, China hingegen weitaus weniger. Auch ist es weiter in einer Führungsposition bei den Pro-Kopf-Verbräuchen von Treibhausgasen. Ein Deutscher produziert beispielsweise doppelt so viele Treibhausgase im Jahr wie ein Chinese und achtmal so viele wie ein Inder.

Auch macht die EU-Zusage, bis 2030 40 Prozent der Treibhausgase zu senken, nur ein Fünftel des „fairen Anteils“ aus, den die Staatengemeinschaft eigentlich leisten müsste, wenn man das verbleibende Globalbudget an CO-2-Emissionen einigermaßen gleich verteilen würde Ähnliches gilt für die USA, während die Entwicklungsländer wie China, Indien & Co. mit ihren Reduktionszusagen ihren Anteil sogar übererfüllen, wenn man konservative Fairness-Kriterien anlegt. Selbst wenn man den Fairness-Gedanken einmal abblendet und die Emissionsrealität zur Kenntnis nimmt, müssen die Industrienationen massiv nachlegen. Der britische Klimawissenschaftler Kevin Anderson, Vize-Direktor des renommierten „Tyndall Center for Climate Change Research“, hatte schon 2013 den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barroso in einem offenen Brief eindringlich gemahnt, dass aus wissenschaftlicher Sicht die EU bis 2030 mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 reduzieren müsste, um gefährlichen Klimawandel zu verhindern.

Doch solche Ansichten leiten weder die EU-Politik noch die deutschen Massenmedien an. Mit wenigen Ausnahmen jedenfalls.

Ebenfalls irrelevant für die deutsche Presse: Mit den aktuellen Klimaschutzmaßnahmen, insbesondere im Bereich Kohleverstromung, wird Deutschland den Prognosen nach selbst sein offizielles, viel zu niedriges Klimaziel für das Jahr 2020 sehr wahrscheinlich verfehlen. Die Reaktion der Presse: Das deutsche „Klimanotprogramm“ sei nach Jahren steigender Emissionen ein „Etappensieg für Hendricks“ und der „Kohlekompromiss“ ein „Durchbruch gegen Klimakiller“ – so exemplarisch die taz. Während die vor kurzem aufgeflogenen Emissionstricksereien Chinas die deutschen Artikelschreiber echauffieren, wird über die Schönrechnereien der eigenen Regierung wohlwollend hinweggesehen.

Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Wie also wird hier verzerrt, manipuliert oder gar gelogen? Bleiben wir beim Beispiel Klimakrise und Klimaschutz: Die Medien geben die offizielle Version wieder und filtern die „unangenehmen Tatsachen“ möglichst aus. So werden Blicke hinter die glitzernden Zahlenfassaden der Mächtigen vermieden. So feiert die Presse das Klimaabkommen von Paris bei der COP 21 als „historisch“, obwohl es die Erde um 3 bis 4 Grad Celsius erwärmen wird, mit katastrophalen Folgen. Wenn die Realität an den Rändern mal durchscheinen darf, hat das keine Auswirkungen auf die Wirkung der veröffentlichten Meinung an sich, den allgemeinen Fokus, das allgemeine Stimmungsbild der Bevölkerung.

Stimmen aus Entwicklungsländern, von indigenen Gruppen, kritischen Analysten und Wissenschaftlern, aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, von Mahnern und Aktivisten tauchen in der Berichterstattung praktisch nicht auf oder werden umgehend neutralisiert: Als beispielsweise am 29. November fast 700.000 Menschen in Protesten für Klimagerechtigkeit weltweit in dutzenden Ländern auf die Straße gingen, fand sich darüber auf Seite 7 der Süddeutschen Zeitung ein einzige kleine und zudem versteckte Notiz. Und als vor einem Jahr 400.000 Menschen in New York City die Industrieländer zu fairem Klimaschutz in einer der größten Demonstrationen des Landes aufforderten, war das Ergebnis ähnlich.

Wie gesagt: Niemand hat hier bewusst manipuliert, das Resultat des Ganzen ist aber dennoch ein Zerrbild der realen Welt, das sich den Interessen und Bedürfnissen der Mächtigen und nicht denen der Bürger und Bewegungen anschmiegt.

Im eingangs erwähnten Aufsatz im Buch „ARD & Co.“ haben Sie das ja exemplarisch am Beispiel der Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung zum Thema Griechenland untersucht. Welches Bild zeichnete sich denn hier?

Die SZ hat über den ganzen Krisenverlauf hinweg aus der Perspektive der deutschen Regierung, der Troika-Politik, der „Gläubiger“ berichtet. Als die Syriza-Partei Anfang 2015 an die Macht kam, legte sie schließlich alle journalistischen Manieren ab und bezeichnete die griechischen Verhandlungspartner Varoufakis und Tsipras als „Hassadeure“ und irre „Achterbahnfahrer“, die mit einer „Harakiri-Politik“ eine „Vertrauensimplosion“ mit einem „Maximalschaden für die Menschen“ erzeugen wollten. Chef-Kommentator Stefan Kornelius betitelte den „irren Kurs“ der Syriza-Regierung mit den Worten „Ins Graos“. Der vermeintlich „irre Kurs“ von Syriza bestand dabei vor allem daraus, Wirtschaft und Beschäftigung ein wenig beleben zu wollen, um überhaupt eine Basis für die Rückzahlung der Schulden zu schaffen. Grund genug für die SZ, mehr irrationale Troika-Politik zu fordern und ein „Graos“ an die Wand zu malen!

Natürlich macht es ökonomisch überhaupt keinen Sinn, eine Volkswirtschaft in einer tiefen Rezession durch Kürzungen aus der Krise führen zu wollen. Weder in der Theorie noch in der Praxis. Deutschland selbst oder auch die USA haben das in der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2008 daher auch nicht getan, im Gegenteil: Sie befeuerten die Volkswirtschaft mit einem massiven Konjunkturprogramm, finanziert mit neuen Schulden. Im Guardian, der New York Times oder der Financial Times rieben sich ob der ideologischen Fixierung Deutschlands im Falle Griechenlands dann auch Nobelpreisträger verwundert die Augen. In der SZ wurde diese Kritik jedoch schlicht als „politischer Aktivismus“ abgestempelt. Nur einige wenige Journalisten in deutschen Zeitungen schrieben gegen diesen offensichtlichen deutschen Irrsinn an. So etwa Harald Schumann vom Tagesspiegel, Ulrike Herrmann von der taz und Wolfgang Münchau von Spiegel Online.

Es ist wirklich erstaunlich, wie wenig Diskussionen hier zugelassen wurden und wie rigide gefiltert und auch direkt manipuliert worden ist….

Nun also doch … manipuliert?

In diesem Fall, ja. Ein Beispiel: So behaupteten die Medien etwa, allen voran erneut die SZ, dass die privaten Gläubiger und Banken sich „in der Nacht, als das Wunder geschah“ mit über 100 Milliarden Euro an der „Rettung“ beteiligt hätten, dem sogenannten „Haircut“. Zum ersten Mal seien die Banken auf einer Riesensumme sitzen gelassen worden, hieß es. Jeder konnte wissen, dass der größte Teil davon den Banken von den Steuerzahlern kompensiert wurde. Die Medien verschwiegen das aber.

Und noch etwas ist wichtig. Dass nämlich diese ganze ökonomische Public Relations im Dienste der Troika-Politik von einer Art „Ideologie der Schulden“ zusammengehalten wird, die so tief in die Berichterstattung eingelassen ist, dass sie gar nicht mehr thematisiert werden muss. Diese besteht im Prinzip darin, dass die Griechen zahlen müssen – selbst dann, wenn die Schulden, um die es geht, vollkommen illegitim und keineswegs von „den Griechen“ überhaupt zu verantworten sind.

Ein Beispiel: Im Frühling 2015 kommt der unabhängige Wahrheitsausschuss unter Leitung des führenden Schuldenexperten Eric Toussaint, eingesetzt vom griechischen Parlament, in einem Schuldenaudit zu dem Ergebnis, dass alle griechischen Schulden illegitim, illegal und nach internationalem Recht „verwerflich“ sind und daher gestrichen werden müssen. Das Audit und die Schlussfolgerungen basieren auf einem enormen Fundus an Material und Dokumentation. So geht ein Großteil der griechischen Schulden etwa zurück auf Kredite der Militärdiktatur zwischen 1967 und 1974. Diese sind nach internationalem Recht „odious“ und müssen nicht zurückgezahlt werden. Dazu kommen Kredite aus korrupten Deals, meist Rüstungsgeschäften mit französischen oder deutschen Konzernen sowie risikoreichen Kredite europäischer Großbanken nach der Euroeinführung. Die Griechen stimmten diesen Deals weder zu noch profitierten sie davon. Die griechische Staatsquote lief in der ganzen Zeit unterhalb des EU-Durchschnitts. Nach Ausbruch der Krise wurden den ausländischen Banken ihre griechischen Ausfallrisiken dann von der Troika abgenommen, getarnt als „Griechenlandrettung“. Gepaart mit einem Kürzungsprogramm katapultierte man dann die griechische Schuldenquote in astronomische Höhen. Dabei verstießen die Troika, die bilateralen Kreditgeber und die griechischen Regierungen gegen diverse rechtliche Bestimmungen, insbesondere menschenrechtliche Garantien, so das Audit.

Von der SZ erfährt man über das Audit aber nur so viel, dass der „Kreuzzug Varoufakis‘“, der gar nichts mit dem Audit zu tun hatte, „gefährlicher Unfug“ sei – ohne dass die Ergebnisse der Wahrheitskommission überhaupt zur Kenntnis genommen werden. Die Reparations- und Schuldenforderung der Griechen gegen Deutschland deklariert das nationale Leitmedium hingegen umgehend als „illusorisch“, die rechtlichen Tricksereien der Bundesregierung hingegen als „juristisch betrachtet“ überzeugend.

Die Lektion, von der das deutsche Publikum jedoch durch entsprechende Fokussierung und Vernebelung abgeschirmt werden muss, ist: Griechische Schulden müssen zurückgezahlt werden, auch wenn sie jeglicher Legitimität entbehren, das Land ökonomisch weiter in die Krise treiben und die Last auf unbeteiligte Dritte und die Schwächsten abgewälzt wird. Bei „unseren“ Schulden hingegen gelten andere Maßstäbe, so etwa bei den deutschen Reparationsschulden, der deutschen Zahlungsverweigerung bei der Entwicklungshilfe oder den Klimaschulden, die einfach übergangen werden können. Ohne diese journalistische Doppelmoral würden politische Medienkampagnen mit Slogans wie „Geisterfahrer Tsipras“ oder „Pleitegriechen“ sofort in sich zusammenbrechen und als Heuchelei öffentlichem Gelächter anheimfallen.

Und derlei würden Sie verallgemeinern: Derlei Eindeutigkeit prägt alle unsere Medien zu jeder denkbaren Zeit?

Nun, Eindeutigkeit gibt es in bei solchen Dingen natürlich nicht. Dafür sind die Medien viel zu komplex. Aber ja, moderne Massenmedien tendieren dazu, Stimmen der Macht zu sein. Wenn die Eliten sich auf einen politischen Kurs geeinigt haben, dann ist es die Aufgabe von Massenmedien, um Zustimmung dafür zu werben.

Und natürlich haben Medien auch unterschiedliche Funktionen. Sie bieten zum Beispiel auch Unterhaltung und Information. Das ist auch gemeinhin bekannt. Über das aber, was Edward Herman und Noam Chomsky in ihrem Klassiker „Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media“ als Propagandafunktion bezeichnen, wird standhaft geschwiegen. Und das, obwohl die These schlüssig ist, mit vielen empirischen Fallstudien gut belegt werden kann und weitreichende Konsequenzen hat. Wenn man so will, ist dieses Schweigen eine Bestätigung des sogenannten Propaganda-Modells der beiden genannten Wissenschaftler auf einer weiteren Ebene.

Aber es gibt ja auch kritische Stimmen…

Ja, die gibt es. Wie gesagt etwa Wolfgang Münchau, Ulrike Herrmann und Harald Schumann, die während der Griechenlandkrise wichtige Einsichten lieferten. Das hat wohl vor allem mit journalistischer Professionalität und Ethos zu tun.

Die „guten Leute“ fungieren aus systemischer Sicht als … „linke Pluralitätskasper“, verstehe ich recht?

Wir sollten uns keinen Illusionen hingeben. Sie leisten wichtige Arbeit, von der wir alle profitieren können und sollten. Es sollte mehr davon geben. Richtig ist aber auch: Ein paar Journalisten, die vom allgemeinen Kurs abweichen, machen noch keine „Massenmedien“ und „Massenberichterstattung“. Beim sogenannten „Krieg gegen den Terror“ dürfen ja zum Beispiel auch Kritiker wie Jürgen Todenhöfer zu Wort kommen. Aber die mediale Rahmung des internationalen Terrors wird dadurch nicht geändert. Terror ist qua definitionem „ihr“ Terror gegen „uns“, niemals „unser“ Terror und „unsere“ Aggression gegen „sie“.

Der US-„Drohnenkrieg“ mit deutscher Unterstützung, der in der realen Welt ein terroristisches Mordprogramm ist, wird von den deutschen Medien als „völkerrechtlich strittig“ präsentiert – wenn überhaupt darüber berichtet wird. Machen Sie einfach einmal den Gegencheck: Sind die Terrorakte von Paris etwa „rechtlich strittig“? Zudem: Die Opfer „ihres“ Terrors sind für die Medien „wertvoll“ und erhalten angemessene, zum Teil sogar hysterische Beachtung; die Opfer unseres Terrors sind „wertlos“ und können übergangen werden. Vergleichen Sie einmal die Berichterstattung zu den Attentaten von Paris mit den Opfern der Kriege und Militäroperationen der USA und seiner Alliierten üblicherweise am anderen Ende der Welt..

Streift man das infantile Grundvertrauen in die Massenmedien also einmal ab und betrachtet nüchtern die Fakten, stellt sich die Frage: Was sagt uns dieses Schweigen, diese ideologische „Schieflage“ in der Berichterstattung über die klassischen Medien und ihr Verständnis von demokratischer Verantwortung?

Hat sich Ihrer Meinung nach die Entwicklung in den letzten Jahren zugespitzt? Warum und wodurch tut sie das denn?

Ich würde sagen, dass das Bild gemischt ist. Ja, es gibt zunehmende Medienkonzentrationen, Kommerzialisierungen, schlechtere Arbeitsbedingungen für Journalisten, mehr PR-Einfluss usw. Das ist schädlich, weil die institutionelle Schieflage dadurch verstärkt wird. Aber die Berichterstattung hat sich auf längere Sicht betrachtet meiner Einschätzung nach verbessert.

Das hat vor allem mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Wir sind heute eine offenere Gesellschaft als noch in den 1950er und 1960er Jahren. Das ist das Verdienst von Bewegungen und Vorkämpfenden für verschiedene Rechte. Wir haben heute eine lebendigere Zivilgesellschaft!

Und das lässt sich auch im Medienbereich beobachten. Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind nicht spurlos an der Presse und den Journalisten vorbeigegangen. Das politische Spektrum hat sich erweitert. Aber man sieht dort, wo die Politik progressive Entwicklungen zurückdreht wie im Fall der neoliberalen Wende oder auch außenpolitisch aggressiver auftreten will, dass die Medien ihre Funktion als Megaphone der Eliten weiterhin gut erfüllen.

Was können wir als progressive Kräfte denn tun?

Was progressive Kräfte immer getan haben: Missstände ausmachen und sich politisch organisieren, um sie zu lindern oder zu beseitigen. Dabei sind Bildung, Information und Aufklärung zentral. Ohne sie geht es nicht.

Und, ja, es macht Arbeit, sich durch Dokumente zu wühlen und die Hindernisse beiseite zu räumen, die einem rationalen Verständnis von politischen Ereignissen in den Weg gelegt werden. Aber im Prinzip kann jeder die medialen Verzerrungen entdecken, wenn er die richtigen Fragen stellt.

Wir sollten beispielsweise nicht akzeptieren, nur über „ihren“ Terror zu sprechen und „unseren“ zu übergehen. Journalisten und Medienkritiker sollten dabei helfen, den täglichen politischen Diskurs- und Informationsschutt beiseite zu schieben und zu einer kritischen Haltung zu animieren. Keine kleine Aufgabe im Übrigen, aber sehr nützlich – siehe etwa die NachDenkSeiten in Deutschland oder Democracy Now in den USA.

Sie setzen auf alternative Medien? Inwiefern könnten diese hilfreich sein?

Ich habe mit dem Journalisten und Dramatiker Fabian Scheidler 2009 das unabhängige TV- und Radio-Magazin Kontext TV gegründet. Seitdem produzieren wir Sendungen über Krieg und Frieden, Gerechtigkeit, soziale Bewegungen usw. Wir haben über die Bankenrettung berichtet, die Eurokrise, die Klimakrise, die Wasserkrise, den Afghanistankrieg, die Ukrainekrise, die Ausbeutung Afrikas und vieles mehr. Wir sind zu Weltsozialforen nach Dakar und Tunis gereist, um von dort die Stimmen des Globalen Südens, aber auch der Zivilgesellschaft der Industrienationen einzufangen. Und wir reisten zum Weltklimagipfel nach Paris, um von der Klimagerechtigkeitsbewegung und den Entwicklungsländern aus die Verhandlungen zu beobachten.

All diese Stimmen, die sich in verschiedenen politischen Kämpfen befinden, bedeuten einen Schatz von Wissen, Analysen, Einsichten und Kommentierungen, der von den Mainstreammedien nicht genutzt wird. Er ist jedoch der Nährboden, aus dem sich geschichtlicher Fortschritt speist. Die Kräfte, die die Welt von unten verbessern wollen, brauchen Foren, auf denen sie voneinander lernen und sich austauschen können. Die klassischen Medien sind dafür nicht geeignet. Vielleicht können die progressiven Medien auch Einfluss auf die Mainstreammedien ausüben, indem sie sie mit „unangenehmen Tatsachen“ infizieren. Amy Goodman von Democracy Now nannte das einmal „trickle up“-Journalismus. Das wäre sicherlich sehr hilfreich, um Meinungsbildung und Demokratie im Land voranzubringen bzw. überhaupt einmal zu ermöglichen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


David Goeßmann, geboren 1969, ist freier Journalist. Er arbeitet unter anderem für den Deutschlandfunk, den WDR und SWR. Von 2005 bis 2007 war er freier Auslandskorrespondent in Boston/USA, davor Parlamentsreporter und CvD der Deutschen Fernsehnachrichten Agentur. 2009 gründete er zusammen mit dem Dramatiker und Journalisten Fabian Scheidler das unabhängige TV-Nachrichtenmagazin Kontext TV. 2010 deckte er den Missbrauch von „Fake TV News“ in deutschen TV-Nachrichtensendungen auf.


Weiterschauen:

Kontext TV: Der unmenschliche Klima-Deal


Weiterlesen:


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