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Titel: Hochschulzugang im Wandel – von der Verteilung von Studienplätzen zur Selektion

Datum: 27. Februar 2008 um 8:39 Uhr
Rubrik: Chancengerechtigkeit, Hochschulen und Wissenschaft
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Ob Studiengebühren, Verschärfung der Zulassungsverfahren oder „unternehmerische“ Hochschule, die aktuellen “Reformen” im Hochschulbereich weisen in eine Richtung, welche die universitäre Verfasstheit, das Selbstverständnis und die Struktur der Hochschulen nachhaltig verändern werden. Der Rektor einer Hochschule heißt mittlerweile in Baden-Württemberg offiziell laut Landeshochschulgesetz (LHG) ‘Vorstandsvorsitzender”, das Rektorat ‘Vorstand’, der Universitätsrat ist der ‘Aufsichtsrat’. Schon die Wortwahl zeigt die Richtung an, in die es gehen soll. An vielen Einzelmaßnahmen wird inzwischen dieser Strukturwandel immer für die Hochschulangehörigen immer spürbarer. Gerda auch am Beispiel der Regelung des Hochschulzugangs – also am Verfahren der Verteilung der knappen Studienplätze auf Studieninteressierte – lässt sich der beschriebene “Paradigmenwechsel” exemplarisch darstellen. Von unserem studierenden Leser Michael Kolain.

Für die Generation heutiger Studienanfänger/-innen ist es beinahe normal, dass man sich um einen Studienplatz bewerben und ein Zulassungsverfahren durchlaufen muss, bevor man studieren darf. Warum die erworbene Hochschulreife keine Hochschulzugangsberechtigung mehr ist, wird nicht mehr hinterfragt.

Kaum jemand ist noch bewusst, dass die weite Verbreitung von Auswahlverfahren auf den größten Teil der Studienfächer eine Folge davon ist, dass seit Jahrzehnten nicht mehr genügend Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden, um die Studienkapazitäten der Nachfrage nach Studienplätzen einigermaßen entsprechend auszubauen. Neben der allgemeinen Tendenz der Hochschulen die „Überlast“ durch örtliche Zulassungsbeschränkungen zu bekämpfen, ist es vor allem diese (politisch herbeigeführte) Knappheit der Mittel, die den numerus clausus in den meisten Studienfächern heute zur Regel gemacht hat.

Mit anderen Worten: unter allen Hochschulberwerber/-innen muss vor allem deshalb ausgewählt werden, weil nicht genug Geld vom Staat zur Verfügung gestellt wird, um mehr Studienplätze für Abiturient(innen) zu schaffen. Würde man die in den Sonntagsreden viel zitierte Priorität für Bildung und würde man das Ziel der Bundesregierung 40% eines Altersjahrgangs für ein Studium zu gewinnen wirklich ernst nehmen und in die Hochschulen angemessen investieren, wäre die Notwendigkeit von Auswahlverfahren in der derzeitigen Breite der Studienfächer weitgehend entschärft. Eine staatliche Regulierung wäre nur noch in hoffnungslos überstrapazierten Studiengängen erforderlich.

Warum und unter welchen Voraussetzungen, darf einem Abiturienten überhaupt der Zugang zu einem Studium verwehrt werden?
Artikel 12 des Grundgesetzes (“Alle Deutschen haben das Recht…Ausbildungsstätte frei zu wählen”) garantiert doch ein Recht auf Teilhabe auch an einer universitären Ausbildung! Bei der verfassungsrechtlichen Bewertung einer Entscheidung des Gesetzgebers wird dem Parlament jedoch (laut Bundesverfassungsgericht) ein großer Entscheidungsspielraum darüber zugestanden, wie die Prioritäten bei der Vergabe vorhandener Haushaltsmittel gesetzt werden. Leere Kassen rechtfertigen Einschnitte in die grundrechtlichen Teilhabemöglichkeiten der Bürger/-innen. Entsteht jedoch eine Zwangslage, dann muss die Umsetzung und Gestaltung unter strenger Berücksichtigung der Grundrechte der Betroffenen geschehen. Das Bundesverfassungsgericht stellte dazu in einer Grundsatzentscheidung 1972 fest, dass “die Verantwortlichen gehalten (sind), sich in steter Orientierung am Gerechtigkeitsgedanken um eine auch für den Benachteiligten zumutbare Auswahl zu bemühen. Insbesondere muss die Regelung jedem zulassungsberechtigten Bewerber eine Chance belassen.” Diese Vorgaben wurden bisher durch die Erstellung von Ranglisten bei der Zulassung anhand der Schulnoten, der Möglichkeit von Wartesemestern und von Härtefallquoten (z.B. für Menschen mit Behinderung) erfüllt.

Weil aber seit diesem Urteil – also seit weit über dreißig Jahren – die Landesmittel für die Hochschulen weiter auf Sparflamme gehalten wurden, nahm die Frage der Zulassung und der Auswahl zu einem Studium neue Gestalt an.

Statt der notwendigen „Verteilung“ der vorhandenen Studienplätze an Hochschulzugangsberechtigte, wurde mehr und mehr nach “Eignung” für ein Studienfach selektiert. Diese „Eignung“ für ein Studienfach, so setzte sich die Behauptung durch, könne nicht mehr durch die allgemeine Hochschulreife, sondern zusätzlich nur noch durch besondere Studierfähigkeitstests, durch Bewerbungsschreiben, durch Auswahlgespräche und nur noch nachgeordnet durch die Schulnoten festgestellt werden. Nicht oder weniger Geeignete sollten von vorneherein aussortiert und nur die “Besten” zugelassen werden. Die Hochschulen schwenkten auf diese Linie ein und so wurde die (finanziell bedingte) Knappheit an Studienplätze plötzlich positiv gewendet, als „Wettbewerb um die besten Köpfe“. Das ging sogar soweit, dass an manchen Hochschulen der Intelligenzquotient zum Zulassungskriterium gemacht wurde. Nachgeschoben wurde noch das Argument, dass mit verschärften Auswahlverfahren die hohe Zahl der Studienabbrecher reduziert und damit Mittel eingespart werden könnten.

Als die Auswahlverfahren institutionalisiert waren, kamen findige Hochschulpolitiker auf die Idee, die Notwendigkeit der Auswahl nicht mehr nur nach Leistung, sondern nach ihren Kriterien fortzuentwickeln und zu modifizieren. Besonders deutlich lässt sich diese Neugestaltung der Auswahl unter den Hochschulbewerber/-innen in den Publikationen des Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) der Bertelsmann Stiftung entnehmen – einem fragwürdigen Think-Tank, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Hochschulstruktur nach unternehmerischen Grundsätzen neu zu definieren. Auf den nachdenkseiten wurde dazu schon häufiger darüber berichtet.

Die wichtigsten Funktionen der Auswahlverfahren sind nach Ansicht des CHE:

  • das „Profil“ der jeweiligen Hochschulen (“Das Ziel der Auswahl sollte die Herstellung einer größtmöglichen Passgenauigkeit zwischen dem Anforderungs- und inhaltlichen Profil des Studiengangs und dem Fähigkeits- und Interessenprofil der ausgewählten Studierenden sein.”)
  • die Erhöhung der Bindung der Studierenden an die Hochschule (“Dieses Maß an Bindung und Wertschätzung ist umso höher, je persönlicher, aber auch je selektiver die Auswahl war.”)
  • die Erhöhung der Selbstselektion (ungeeignete BewerberInnen – was auch immer das sein mag – würden sich wegen des großen Aufwandes und der Selektionswirkung erst gar nicht bewerben).
  • Das CHE rät darüber hinaus zur Anwendung von einfachen Verfahren um “das Verhältnis von Kosten und Nutzen zu optimieren”.

Der Betrachtungsweise des CHE haben sich mittlerweile die meisten Hochschulen und die große Mehrzahl der politisch Verantwortlichen zueigen gemacht. Eine politisch herbeigeführte Zwangslage wird somit dazu genutzt, die Notwendigkeit der Auswahl sich für ganz neue Vorstellungen über das Selbstverständnis der deutschen Universitäten zu Nutzen zu machen.

Durch das Abitur als „hochschulreif“ qualifizierte Menschen, werden einem zusätzlichen Selektionsverfahren unterworfen, um deren Passfähigkeit mit einem Universitäts-“profil”, um deren Eignung für die spezifischen Anforderungen des Studienangebots einer Hochschule und deren Bindungsfähigkeit an die Hochschule festzustellen.

Studierende werden einerseits zu „Kunden“ einer Hochschule deklariert, aber gleichzeitig sucht sich der Anbieter von Studienangeboten, seine Kundschaft aus. Das individuelle Grundrecht auf Hochschulbildung wird so zur Verfügungsmasse des Bildungsanbieters.

In Baden-Württemberg wird dieser Paradigmenwechsel durch die Änderungen des LHG durch das Erste Gesetz zur Umsetzung der Föderalismusreform (EHFRUG) zementiert. Auswahl- und Eignungsfeststellungsverfahren heißen zukünftig schlicht “Aufnahmeprüfung”, die zusätzlichen Kosten für die aufwändigeren Verfahren können bis zur Höhe von 50 € den Bewerber(inne)n auferlegt werden. Das Interesse der Studierenden, das Fach zu studieren, das sie interessiert und das sie für als richtig für sich selbst erachten, und die gerechte oder chancengleiche Verteilung kommen in dieser Betrachtungsweise nicht mehr vor. Wer nicht passt, muss sich passend machen und sich den Vorgaben des Anbieters unterwerfen – und darf nur dann und das Fach studieren, wofür ihn die „Vorstandsvorsitzenden“ der Hochschulen für geeignet halten.

Auf die früheren Vorgaben des Verfassungsgerichts kommt es dabei nicht mehr an und die wissenschaftliche Fragwürdigkeit der von kommerziellen Anbietern verkauften Auswahlverfahren wird nicht mehr hinterfragt.

Durch die Orientierung an Kosten und Nutzen, an Passgenauigkeit und Eignung wird der Grundgedanke des Bundesverfassungsgerichts einer gerechten Verteilung der Studienplätze beiseite geschoben. Sollte nach den Vorgaben aus Karlsruhe gerade die Chancengleichheit aller Abiturient/-innen gewährleistet werden, dient nun die Passgenauigkeit als zentrales Element der Auswahlentscheidung. Dadurch wird nicht nur das Abitur als Eingangsvoraussetzung für das Hochschulstudium weitgehend entwertet, sondern auch das Recht auf freie Auswahl er Ausbildungsstätte und die individuelle Entscheidung der Bewerber/-innen schlicht ignoriert.

Der Test und nicht der Grundrechtsträger selbst, entscheidet darüber, ob jemand studieren darf. Das Ziel der Passfähigkeit behandelt die sich bewerbende Person, nicht mehr als Rechtssubjekt sondern als Objekt, dessen Eigenschaften wie auf einer Checkliste vorab mit den von den Testentwicklern festgelegten Anforderungen des Studiengangs durchgetestet werden könnten.

Einmal abgesehen von der äußerst zweifelhaften Prognosemöglichkeit für eine zukünftige Studierfähigkeit beruht ein solches Verfahren auf der Vorstellung eines starren Studienaufbaus und klar definierten Studienanforderungen, auf deren Inhalte, Themen und Methoden die Studierenden von vorneherein keinen Einfluss haben. Dynamische, durch den Austausch von Lehrenden und Lernenden geprägte, kontroverse und kritische Wissenschaft findet in einem solchen Modell kaum Platz. Studierende sind nur noch Screening-Objekte die danach ausgesiebt werden, ob sie die vorgefertigten Anforderungen möglicherweise erfüllen könnten. Das hat nichts mehr mit einem Studieren gemein, als Studierende von ihren Hochschullehrern noch als Kommilitonen, also als Studienkollegen angesprochen wurden.

Verkürzte Studiendauer und Einschränkungen der Studienwahlmöglichkeiten durch komplett durchstrukturierte Bachelor-Module und finanzieller Druck durch Studiengebühren tun den Rest, um die Studierenden auf dem ihnen vorgegebenen Curriculum durchs Studium auf den Arbeitsmarkt zu schleusen.

Warum ein einziger Test vor Studienbeginn den Studienerfolg besser prognostizieren können sollte als das Abiturzeugnis wird in einer Zeit, wo testen wichtiger ist als fördern, nicht mehr hinterfragt. Die individuelle Motivation für ein bestimmtes Studienfach spielt keine Rolle mehr. Das Grundrecht auf Bildung oder die individuelle Entscheidung eines ausbildungswilligen jungen Menschen, wird durch vorgefertigte Verfahren der Auswahl als irrelevant betrachtet.

Selbst wenn man sich auf das Argument einließe, dass damit die Zahl der Studienabbrecher verringert werden könnte, so hätte man wenigstens zunächst verlangen müssen, dass die Gründe für die (zu) hohe Studienabbrecherquote genauer analysiert worden wären. Doch das ist nicht geschehen.

In Wirklichkeit sind nämlich die Gründe für einen Studienabbruch sehr vielfältig: es gibt finanzielle oder private Gründe, da gibt es den Wechsel zu einem ähnlichen Studienfach (z.B. von Mathematik zu Informatik) oder den Wechsel des Nebenfaches. Alles keine Gründe für einen Studienabbruch, die Folge von nicht vorhandener “Studierfähigkeit” wären. Gerade jüngst stellte das Hochschul-Informations-Systems fest, dass unter Bachelor-Studierenden Studienabbrüche sogar häufiger vorkommen als in früheren Diplom- oder Magisterstudiengängen.

Kommt man zum Ausgangspunkt zurück und nimmt man die momentane Zwangslage, die zur Auswahl zwischen den sich um einen Studienplatz bewerbenden Abiturient/-innen führt, als gegeben hin, so ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt eine Alternative zur Selektion als Mittel der Verteilung der vorhandenen Ausbildungskapazitäten geben könnte.

Es scheint auf Grund der hohen Bewerbungszahlen schier unmöglich auf das Instrument der Auswahl mit all den negativen Folgen zu verzichten. Ja, es ist ein Fakt, dass viele jungen Menschen eine falsche Studienwahl treffen und dies erst nach mehreren Semestern merken. Doch ist diese Fehlentscheidung durch einen Test, durch Selektion, zu verhindern?

Die Hochschulen (und die sich anbietende Testindustrie) schwingen sich zu Richtern über die Studierfähigkeit und den Studienwunsch auf, dabei gäbe es durchaus Alternativen, die auch die individuelle Entscheidung des oder der Einzelnen berücksichtigte.

Eine Alternative könnte mit dem Leitsatz “Information statt Selektion” auf den Punkt gebracht werden. Die Ursache für eine falsche Studienwahl ist nicht Verbohrtheit, bewusst fehlerhafte Selbsteinschätzung oder gar fehlende Eignung für einen Studiengang seitens der Studierenden. In erster Linie spielen fehlende Informationen über das Studium an sich, über die Wahlmöglichkeiten und über die Inhalte der Fächer eine Rolle.

Die richtige Information vor Studienbeginn und eine flexible Studiengestaltung gerade in den Anfangssemestern wären konkrete Alternativen zur Selektion durch Aufnahmeprüfungen. Das wäre wiederum möglich, einerseits durch eine engere Verzahnung von Schule und Hochschule (Schnupperstudium, Sommeruniversitäten, Studierende als Tutoren für Abiturienten, Tag der offenen Tür usw.) und bessere Beratungsangebote zu oder am besten noch vor Beginn eines Studiums.

Darüber hinaus könnte durch eine größere Durchlässigkeit zwischen den Studiengängen in den Anfangssemestern oder gar durch ein propädeutisches Einführungsstudium, in dem Veranstaltungen unterschiedlicher Fachbereiche angeboten werden, die Entscheidung den Studierenden selbst überlassen bleiben.

“Information statt Selektion” achtet das Individuum und dessen Recht auf Bildung, belässt diesem die Wahlmöglichkeit über seine Ausbildung und damit seine Zukunft. Das Modewort der „Profilbildung“ bei den Studiengänge und das Phantom der “Studierfähigkeit” blieben bei diesem Ansatz allerdings außen vor – und das zu Recht!

Die Hochschulen kämen ohne Zwang und Ausgrenzung aus und es bedürfte keiner vorgegebenen Passfähigkeit, „Selbstselektion“ oder Kosten-Nutzen-Betrachtungen bei den Auswahlverfahren. Eine solche Herangehensweise an die Problematik des Hochschulzugangs würde dem Leitbild einer demokratischen, für alle offenen, staatlichen, wissenschaftlich freien und kritischen Universität jedenfalls eher gerecht.

Auf diese Weise könnte man auch schon reagieren, bis die einzige wirkliche Lösung politische Realität würde: eine ausreichende finanzielle Ausstattung der Hochschulen. Dann wäre das Gespenst der Auswahl in der Breite der Studiengänge passé und endlich erreicht, was nur allzu oft gepredigt wird: Bildung hat Vorrang!


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