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Titel: Schwierige, aber notwendige Korrekturen des Blicks auf gesellschaftspolitische Alternativen (A), auf die USA (B), die Konfliktlösung per Krieg (C) und die spürbare Krise der Demokratie (D)

Datum: 15. Januar 2016 um 16:03 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Sozialstaat, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Den Jahreswechsel habe ich dazu genutzt, darüber nachzudenken, welche Korrekturen unserer Perspektive in den nächsten Jahren hilfreich sein könnten, um die grassierende Orientierungslosigkeit zu verlassen. Sie sind aus meiner Sicht auch notwendig, nicht nur hilfreich. Albrecht Müller

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die genannten und im Folgenden zu beschreibenden Themenfelder sind eine persönlich geprägte Auswahl ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Es wird beschrieben, was in den nächsten Monaten und Jahren der Korrektur und zu diesem Zweck auch der öffentlichen Debatte bedarf:

A. Gesellschaftspolitische Alternative? Der Dritte Weg

Die gesellschaftspolitische Debatte in unserem Land – und nicht nur hier – ist verengt. Die Behauptung der früheren Premierministerin von Großbritannien Margaret Thatcher, es gebe keine Alternative zu der von ihr eingefädelten neoliberalen Politik, war und ist hochwirksam. Ihre Formel TINA – there is no alternative – hat sich wie Mehltau über die öffentliche Debatte gelegt und bestimmt auch die programmatische Debatte von Parteien, von denen man anderes erwarten könnte und müsste, und erklärt damit übrigens auch den Niedergang der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien.

Sie haben – zum Beispiel mit der Agenda 2010 von Bundeskanzler Schröder – den konservativen, neoliberal orientierten Kräften die Kohlen aus dem Feuer geholt und den Glauben verstärkt, es gäbe keine Alternative zur betriebenen Verschiebung der Einkommen und Vermögen nach oben, zum Aufbau von sogenannten Niedriglohnsektoren, zur Deregulierung und zur Privatisierung bisher öffentlich bereitgestellten Leistungen.

Das Ergebnis ist eine armselige gesellschaftspolitische Diskussion. Man kann deshalb ganz gut verstehen, dass Kritiker aus dem fortschrittlichen Lager „ausgehungert“ nach „Systemänderung“ rufen. In diesen Ruf einzustimmen wäre sinnvoll, wenn auch nur einigermaßen klar wäre, wie das andere System jenseits des „Kapitalismus“ aussehen könnte, und ob und wie es funktionieren würde.

Solange das nicht klar ist, bleibt nichts anderes übrig, als nach anderen Alternativen zu suchen. Aus meiner Sicht ist es der alte Dritte Weg, den zu verlassen es keinen sachlichen Anlass gab. Gemeint ist nicht der von Tony Blair, Gerhard Schröder und Anthony Giddens propagierte Dritte Weg des Schröder-Blair-Papiers. Die Nutzung des alten Begriffs durch diese Personen war ein propagandistischer Trick, um dieses etwas gefälliger aufbereitete Thatcher-Programm schmackhaft zu machen. Gemeint ist die ältere und immer noch aktuelle Vorstellung vom „Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus“.

Die Pflastersteine dieses Weges wären (in Stichworten):

  1. Soziale Sicherung gegen die Risiken von Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Älterwerden und Arbeitslosigkeit.
  2. Insgesamt eine Rückbesinnung auf Sozialstaatlichkeit und damit auch auf das Grundgesetz.
  3. Korrektur der originären Einkommensverteilung mithilfe der Steuerpolitik.
  4. Korrektur der Vermögensverteilung mithilfe von Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer.
  5. Aktive Beschäftigungspolitik
  6. Aktive Wettbewerbspolitik, d.h. keine Monopole, keine Oligopole und Kartelle, jedenfalls aktive und effizient angelegte Kontrolle.
  7. Ein starker öffentlicher Sektor. Öffentliche Verantwortung für die Güter der Daseinsvorsorge, für Bildung und Erziehung, für Umweltschutz, für Energieversorgung, für Post und Telekommunikation und – heute – für das Internet.
  8. Regulierung der Finanzmärkte, Bekämpfung der Spekulation statt der üblich gewordenen Belobigung und öffentlichen Rettung der Spekulanten.
  9. Macht-Kontrolle, deshalb auch Beschränkung der Macht einzelner Medien und Medienkonzerne.
  10. Wiederherstellung der öffentlichen bzw. öffentlich-rechtlichen Verantwortung für die elektronischen Medien.

Was hier als Elemente eines Dritten Weges aufgelistet ist, sind meist alte Bekannte. Das spricht weder gegen ihre Aktualität noch gegen ihre Effizienz und sachliche Richtigkeit. So hat sich beispielsweise die in Ziffer 1 genannte Soziale Sicherung der Altersvorsorge als fairer, gerechter und effizienter erwiesen als die propagierte und eingeführte Privatvorsorge.

Die Debatte des skizzierten Dritten Weges müsste begleitet sein von einer Diskussion der geistigen und ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Mit diesem Weg verbunden ist eine klare Absage an die Kommerzialisierung aller Lebensverhältnisse und der ideologischen Vorstellung, jeder sei seines Glückes Schmied, und Egoismus sei das einzig sinnvolle Leitmotiv des Zusammenlebens.

Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl sprach gelegentlich von der „geistig moralischen Erneuerung“. Weil er seine Parole nicht ernst nahm und in der praktischen Politik sogar dagegen anging, wurde nie getestet, ob eine solche Neuorientierung Mehrheiten hinter sich scharen könnte. Heute scheint mir die Orientierungslosigkeit so groß, dass Parteien, Verbände, Medien und auch Blogs, die sich die Neuorientierung weg von TINA zu eigen machen würden, durchaus Chancen hätten.

Darum geht es beim Vorschlag, den Dritten Weg in den nächsten Monaten und Jahren neu zu skizzieren, zu besprechen und zu debattieren. Wir müssen die bornierte Position der Alternativlosigkeit verlassen.

B. Der Blick auf die USA – guter Freund oder Imperium? Oder: Die Befreiung Europas aus dem Einflussbereich der USA.

Sind die Vereinigten Staaten von Amerika der Freund und Partner? Oder eher der Imperator, und wir Europäer sind Vasallen mit einem großen Freilauf? Und wir können gar nicht anders, als uns in diese Herrschaft einzufügen?

Es scheint mir an der Zeit, unter uns Europäern offen über diese Fragen zu sprechen und dabei auch abzuwägen, ob wir uns künftig besser aus dem Bündnis mit den USA lösen sollten.

Ein bemerkenswert großer Teil der Verantwortlichen in Politik und Medien wird die aufgeworfenen Fragen eindeutig beantworten: die USA sind unser Partner, unser Freund, sogar unser Sicherheitsgarant. Und so soll es auch künftig bleiben.
Andere sehen das anders. Manche nicht erst jetzt.

Das Thema ist nicht neu

Es gibt unter uns Menschen, die beim Vietnamkrieg oder schon lange vorher bei der Debatte um die Wiederbewaffnung und die von Adenauer betriebene Westbindung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg die Politik der USA kritisch sahen.

Meine eigene Perspektive war wie die von vielen meiner Altersgenossen geprägt von guten Erfahrungen und von Dankbarkeit: Befreiung von der Herrschaft des Nationalsozialismus, Schulspeisung, Jazz, Carepakete, freundliche Soldaten und dann die Chance, mit dem American Field Service für ein Jahr in die USA zu reisen und dort in einer Familie zu leben – das prägte unser Bild nach 1945.

Im Kalten Krieg der Nachkriegszeit waren wir gespalten. In der DDR noch einmal anders als im Westen. Bei der Entspannungspolitik machten die USA mit und stützten die deutsche Ostpolitik, jedenfalls zum größeren Teil und wirksam genug. Wir konnten mit ihrer Unterstützung die Vorstellung pflegen, dass es in Europa eine Gemeinsame Sicherheit geben könne, dass der Konflikt mit dem Osten einschließlich Russlands beendet sei, dass wir abrüsten könnten und – wie es so schön hieß – die Friedensdividende genießen und beide Blöcke, den Warschauer Pakt und die NATO beenden könnten. Das war vermutlich schon eine gravierende Täuschung

Irritationen gab es immer wieder

Der erwähnte Vietnamkrieg, die vielen Interventionen der USA in Mittel- und Südamerika, die Mitverantwortung für den Tod des gewählten chilenischen Präsidenten Allende und an der Machtübernahme durch Pinochet in Chile, die Unterstützung des Putsches des Schahs in Persien gegen den gewählten Ministerpräsidenten Mossadegh und die Sympathie für die Obristen in Griechenland, vorher schon für Franco in Spanien und Salazar in Portugal. Die USA waren Freunde von Diktatoren, wenn es ihnen in den Kram passte.
Also, ambivalent waren die USA immer, aber man konnte sich – genauer gesagt – man hat sich darauf verlassen, dass im Umgang mit Europa demokratische und auch friedliebende Kräfte am Wirken sind.

Das Bild hat sich wesentlich verändert. Da erscheint eine neue „Qualität“:

  1. Das Streben nach der Weltherrschaft, das offen propagiert und „wissenschaftlich“ untermauert wird. Siehe die Arbeiten von Zbigniew Brzeziński.
  2. Die Militärpräsenz auf Stützpunkten all überall in der Welt, insgesamt ca. 1000.
  3. Die Fortsetzung des Konfliktes mit Russland und damit die Beseitigung unserer Hoffnungen auf Gemeinsame Sicherheit in Europa
  4. Der Zugriff auf die Ressourcen anderer Völker
  5. Sanktionen gegen andere Völker und gegen Unternehmen, die mit diesen Völkern zusammenarbeiten.
  6. Der Anspruch, die Regierungen anderer Völker beseitigen zu können, wenn es den USA gefällt. Stichwort Regime Change.
  7. Die Lösung von Konflikten mit militärischer Gewalt. Kriegseinsätze ohne Rücksicht auf menschliche und kulturelle Verluste. Von Afghanistan bis Libyen. Die Erfindung von Kriegsgründen wie im Falle Iraks durch Manipulation.
  8. Der Kampf gegen den Terrorismus. Das klingt schön, eskaliert jedoch die Auseinandersetzungen und schafft neuen Terrorismus.
  9. Die USA selbst terrorisieren andere Völker bzw. dulden den von ihrem Boden ausgehenden Terror. Kuba z.B. hat auf diese Weise schon den Tod von über 3000 Menschen zu beklagen.
  10. Die tödlichen Drohneneinsätze einschließlich des Rückgriffs auf das Territorium anderer Völker, in konkreten Fall Deutschlands.
  11. Die Gängelung durch Abhören und durch Geheimdienste und die Verfolgung von Dissidenten in ihren eigenen Reihen
  12. Die offensichtliche Förderung wirtschaftlichen Einflusses auf viele Unternehmen in den Vasallenstaaten. Blackrock zum Beispiel ist Eigentümer von Anteilen in allen Dax-Gesellschaften.
  13. Der gezielte Einsatz des US-amerikanischen Finanzministeriums auf die Entwicklung der Finanzmärkte weltweit. Siehe hier.
  14. Der Verfall der Werte in den USA. Das Reden von der Wertegemeinschaft ist nur noch hohles Geschwätz, übrigens auch wegen der parallelen Entwicklung hier bei uns.
  15. Das Ende der Demokratie in den USA. Herrschaft weniger Medien. Staatseinfluss auf diese Medien. Und umgekehrt. Das ist eine kritische Entwicklung, auch dann, wenn man die Entwicklung bei uns und anderen Ländern Europas nicht sehr viel positiver sehen kann.

Das alles ist nicht gänzlich neu. Aber die Kräfteverhältnisse in den USA haben sich so verschoben, dass man von einer neuen Qualität sprechen muss. Und einige wenige der genannten Punkte reichen ja schon aus, um darüber nachdenken zu müssen, ob man ein solches Land für einen Freund halten will.

Freiheit von Amerika

Europa muss sich aus dem Einflussbereich der USA entfernen. Das wäre das Thema, das mit all seinen Facetten in den nächsten Jahren debattiert werden müsste. Das wäre der Perspektivenwechsel, den eine sachliche öffentliche Debatte bei uns herbei zwingen müsste.

Im Falle unseres Landes ist zu befürchten, dass unsere Entscheidungsfreiheit über die Einbindung in der NATO hinaus eingeschränkt ist. Außerdem sind führende deutsche Medienschaffenden direkt im Einflussbereich der USA. Aber diese Einsicht und diese Bedenken können nicht davon abhalten, die Debatte zu führen und das Ziel „Freiheit von Amerika“ anzusteuern.

Das waren die Anmerkungen zu zwei aus meiner Sicht wichtigen Fragenkomplexen, die einen Perspektivenwechsel verlangen würden. Ähnlich brisant sind die beiden folgenden Themen:

C. Der gedankenlose Griff zur militärischen Lösung von Konflikten – dringend korrekturbedürftig

D. Politische Entscheidungen müssen wieder mehr an Fakten und am Wohl der Menschen und weniger an den Kräfteverhältnissen der Meinungsmacher orientiert werden.

Dazu später mehr.


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