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Titel: Es ist die Politik und nicht die Rechtsprechung, die ein „soziales Europa“ gefährdet

Datum: 30. Juli 2008 um 9:31 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Sozialstaat, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Gestern haben wir in den Hinweisen Ziffer 17 auf ein Interview mit dem früheren Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung verwiesen. Fritz Scharpf kritisiert im Magazin Mitbestimmung scharf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und vertritt die These, dass Europäisches Recht „auf der Grundlage der geltenden Verträge im Prinzip ausschließlich von Juristen definiert“ werde, da seien weder der Ministerrat noch das Parlament beteiligt. Die sechs Gründungsländer hätten 1957 den europäischen Verträgen zugestimmt, in denen die Grundfreiheiten und ein Wettbewerbsrecht formuliert wurden. Aber dass diese Rechtsnormen in einer Weise interpretiert würden, die nationale Unterschiede unmöglich machten, das wäre seinerzeit nicht die Absicht der Regierungen gewesen. Letztlich habe sich der EuGH von der Politik abgekoppelt und sei zur höchsten Instanz der EU geworden. Dieser These widerspricht unser Leser Gerold Schwarz und sieht im EuGH nur den konsequenten Exekutor einer ordoliberalen Politik, die von Anfang an vor allem von den Deutschen der Europäischen Gemeinschaft aufgezwungen wurde.

Im Anschluss zu Ihrem heutigen Beitrag über Prof. Scharpfs Kommentar zum Umgang mit den EuGH-Urteilen kann ich Ihnen nur folgen: es ist das bestehende Primärrecht, und nicht erst die „entartete Rechtssprechung“, das ein „soziales Europa“ immer stärker gefährdet.

Hierzu ist allerdings dazuzusagen, dass diese Konstruktion von Anfang an der offen vertretene Standpunkt der neo-/ordoliberalen deutschen Politik in den 50er-Jahren war. Aufgrund der mittlerweile veröffentlichten Quellen besteht heute kein Zweifel mehr, dass sich die deutsche Adenauer-Regierung gegen den ausdrücklich erklärten Willen der anderen 5 Gründernationen durchgesetzt hat, indem mehr oder minder offen mit einem Rückzug Deutschlands aus den Vertragsverhandlungen zur EWG gedroht wurde, sollten die anderen Länder nicht den deutschen Integrationsvorstellungen Folge leisten.

(Zur Durchsetzung ihres Standpunkts hatte die Adenauer-Regierung nach Abschluss des EGKS-Vertrags, mit dem Deutschland seine Wirtschaftssouveränität vollständig zurückerhielt, aufgrund der unmissverständlichen Wirtschaftsdrohungen im Rahmen des Marshallabkommens seitens der USA gegenüber Frankreich sowie nach der zugestandenen Wiederaufrüstung Deutschlands, womit dem Land „als Bollwerk gegen den Kommunismus“ wieder die größte Landarmee Europas zugestanden wurde, die besten Trümpfe in der Hand.)

Die entsprechenden Verhandlungsdokumente sind mittlerweile veröffentlicht und zeichnen ein recht deutliches Bild über die Durchsetzung des deutschen Neo-/Ordoliberalismus gegenüber den europapolitischen Vorstellungen der anderen Gründernationen.

Schauen wir uns als erstes Mal an, was denn die Regierungen der BENELUX-Länder vorgeschlagen hatten, gleichsam den ersten Aufschlag zur EU:

Die Regierung von Belgien, Luxemburg und den Niederlanden hat Folgendes geschrieben:
Die Regierungen Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande halten den Augenblick für gekommen, eine neue Etappe auf dem Wege der europäischen Integration zurückzulegen. Sie sind der Auffassung, daß diese Etappe zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet zurückzulegen ist.
Ihrer Ansicht nach muß die Schaffung eines geeinten Europas durch die Entwicklung gemeinsamer Institutionen, die schrittweise Verschmelzung der nationalen Wirtschaften, die Schaffung eines umfassenden Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Harmonisierung ihrer Sozialpolitik weiter verfolgt werden.
[…]
Die Errichtung einer europäischen wirtschaftlichen Gemeinschaft setzt nach Auffassung der Beneluxstaaten notwendigerweise die Einsetzung einer gemeinsamen Behörde voraus, die die zur Verwirklichung der festgelegten Ziele erforderlichen eigenen Befugnisse erhält. Ferner müssen nachstehende Einzelheiten durch Übereinkommen festgelegt werden:

  1. Verfahren und Zeitmaß des schrittweisen Abbaus der Hindernisse im Wirtschaftsverkehr zwischen den Teilnehmerländern;
  2. Maßnahmen zur Harmonisierung der allgemeinen Politik der Teilnehmerländer auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet;
  3. ein System von Schutzklauseln;
  4. Schaffung und Arbeitsweise eines Anpassungsfonds.

[…]
Auf sozialem Gebiet halten es die Beneluxstaaten für unerläßlich, die in den einzelnen Ländern bestehenden Regelungen, insbesondere diejenigen, die sich auf die Arbeitsdauer, die Entlohnung von zusätzlicher Arbeitsleistung (Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit), die Dauer und Entlohnung des Urlaubs beziehen, schrittweise aufeinander abzustimmen.

Ich finde, hiermit haben die Regierungen der BENELUX-Länder unmissverständlich dargelegt, wie sie sich die europäische Integration vorstellen.

Darauf antwortete die Regierung Italiens:

Die Regierung Italiens hat Folgendes geschrieben:
[…]
Die Hohe Behörde bedarf der Unterstützung, um ihre Tätigkeit auf alle ihr vom Vertrag zugewiesenen Gebiete und namentlich auf das soziale Gebiet ausdehnen zu können, welches das für die Entwicklung des gemeinsamen Marktes unentbehrliche menschliche Element darstellt.
[…]
Nach Auffassung der italienischen Regierung darf der gemeinsame Markt, ebensowenig wie die horizontale Integration, auf einige Sektoren, und seien sie noch so groß und bedeutend, beschränkt werden, sondern muß das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der beteiligten Länder umfassen, ohne dabei das soziale Gebiet und den Arbeitsmarkt zu vernachlässigen.

Auch die italienische Regierung hat damit eindeutig und unmissverständlich geäußert, wie sie sich die europäische Integration vorstellt.

Die französische Antwort auf den BENELUX-Vorschlag war eher skeptisch, die Verhandlungs-Anweisung an ihre Verhandlungsdelegation lässt allerdings ebenfalls keinen Zweifel, was der frz. Regierung wichtig ist:

Die französische Regierung hat Folgendes geschrieben:
[…]
Cependant, il est certain que du point de vue de l’opinion française, un progrès dans la voie du marché commun reste subordonné aux résultats qui pourront être obtenus dans le domaine de l’harmonisation des charges sociales. […]

Dennoch ist es gewiss, dass ein Fortschritt auf dem Weg des gemeinsamen Marktes vom Standpunkt der französischen Meinung den Ergebnissen untergeordnet ist, die auf dem Gebiet der Harmonisierung der sozialen Regeln erreicht werden.

Es ist klar, dass es der französische Regierung vorrangig um die Harmonisierung der Sozialsysteme ging, und – sofern das irgendwie damit vereinbar wäre – erst nachrangig um eine tiefere wirtschaftliche Integration. Der Grund dafür ist, dass Frankreich sozialpolitisch den Deutschen erheblich voraus war. Trotz der wegen der industriellen Modernisierung in Nazi-Deutschland produktiveren deutschen Wirtschaft hatte man in Frankreich z. B. die 40-Stundenwoche schon eingeführt und auch beibehalten, während sich die Wochenarbeitszeit in den 50er-Jahren in Deutschland sogar noch von 48 auf 49 Stunden erhöhte (einige mögen sich vielleicht noch an die „Samstag gehört Vati mir“-Kampagne der deutschen Gewerkschaften 1956 erinnern).

Nochmals auf den Punkt gebracht wird die Vorstellung über die soziale Integration Europas im gemeinsamen Abschlussdokument von Messina, das auch die deutsche Delegation unterzeichnet hat:

Das Abschlussdokument von Messina (1955) hat Folgendes geschrieben:
Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland, Belgiens, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs und der Niederlande halten den Augenblick für gekommen, einen neuen Abschnitt auf dem Wege zum Aufbau Europas in Angriff zu nehmen. Sie sind der Meinung, daß dies zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet geschehen muß.

Sie sind der Ansicht, daß auf dem Wege zur Schaffung eines geeinten Europa weitergegangen werden muß durch Entwicklung gemeinsamer Institutionen, durch fortschreitende Verschmelzung der Nationalwirtschaften, durch Errichtung eines gemeinsamen Marktes und durch fortschreitende Harmonisierung ihrer Sozialpolitik.
[…]
Sie sind der Ansicht, daß dieser Markt schrittweise verwirklicht werden muß. Seine Durchführung erfordert die Bearbeitung folgender Fragen:
[…]
b) Maßnahmen zur Harmonisierung der allgemeinen Politik der Teilnehmerländer auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet;
[…]
Auf sozialem Gebiet halten es die sechs Regierungen für erforderlich, die schrittweise Abstimmung der in den einzelnen Ländern bestehenden Regelungen zu bearbeiten insbesondere derjenigen, die sich auf die Arbeitsdauer, die Entlohnung von zusätzlicher Arbeitsleistung (Nachtarbeit, Sonn- und Feiertagsarbeit), die Dauer und Entlohnung des Urlaubs beziehen.

Auch da gibt es nur wenig Interpretationsspielraum.

Und nun schauen wir uns dagegen die Antwort der deutschen Regierung auf den Vorschlag der BENELUX-Regierungen an. Dabei fällt einem auf, dass der Ausdruck “sozial” nur an einer einzigen Stelle auftaucht, wo es um einen Sozialfonds geht. Der Rest ist reine Freihandelslyrik.

Hier die entsprechende Passage, die m. E. am treffendsten ausdrückt, wie sich die ordoliberale Regierung Deutschlands die europäische Integration vorstellt. Es ist die einzige Stelle im gesamten Text, an dem das Wort „sozial“ auftaucht:

Die deutsche Regierung hat 1955 Folgendes geschrieben:
[…]
Die Bundesregierung bekennt sich in vollem Umfange zu den Bestrebungen der OEEC und des GATT nach möglichst weitgehender Beseitigung der Hemmnisse, die einem freien wirtschaftlichen Verkehr entgegenstehen. Im Einklang hiermit und in dem Bestreben, diese Ziele rascher und reiner zu verwirklichen, hält sie eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit der Staaten der Gemeinschaft für erforderlich, die folgende Maßnahmen umfaßt:

  • Fortschreitende Liberalisierung des Warenverkehrs unter den Gemeinschaftsstaaten,
  • Fortschreitender Abbau der Zölle zwischen den Gemeinschaftsstaaten,
  • Fortschreitende Liberalisierung des Kapitalverkehrs unter den Gemeinschaftsstaaten,
  • Fortschreitende Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs unter den Gemeinschaftsstaaten,
  • Schrittweise Herstellung der Freizügigkeit innerhalb des Gebiets der Gemeinschaft,
  • Ausarbeitung von Regeln für einen nicht verfälschten Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft, der insbesondere nationale Diskriminierung ausschließt.

Durch diese Maßnahmen würde fortschreitend ein freier gemeinsamer Markt zwischen den Gemeinschaftsstaaten geschaffen werden. Um anhaltende und tiefgreifende Störungen zu vermeiden, können Übergangs- und Anpassungsmaßnahmen erforderlich werden.

Die Bundesregierung hält die gemeinsame Errichtung eines Kapitalfonds für notwendig, der dazu dienen soll, produktive Investitionen innerhalb der Staaten der Gemeinschaft zu fördern, die insbesondere der Angleichung zu starker und sozial gefährlicher Kontraste in den Lebensbedingungen in ihren einzelnen Gebieten dienen.

Die Abneigung der Bundesregierung gegen jegliche Art von Integration außerhalb des Binnenmarkts war so groß, dass die anderen 5 Gründungsnationen befürchten mussten, Deutschland wolle sich aus dem Projekt gänzlich zurückziehen, um den in ihren Augen unerwünschten Sozial-Klimbim um jeden Preis aus den europäischen Verträge fernzuhalten. Die Isolation Deutschlands war so groß, dass der Delegationsleiter Hallstein eine gesonderte Stellungnahme vorlas, die die Befürchtungen zerstreuen sollten. Hier die Passage, die darauf eingeht:

Hallstein hat Folgendes geschrieben:
[…]
Au fond, le Gouvernement fédéral croyait avoir précisé son point de vue, sans équivoque possible, dans les déclarations de ses organes compétents et dans son memorandum. Mais nous ne sommes maîtres que de nos propres paroles ; nous ne sommes pas maîtres des interprétations que leur donne l’opinion publique. Il ne faut peut-être pas trop s’étonner que dans la situation politique actuelle, où existent ou semblent du moins exister des possibilités d’évolutions diverses, on rencontre, ça et là, l’interprétation fausse que le Gouvernement fédéral ne poursuit plus avec la même rigueur son ancienne politique visant l’intégration solide de l’Europe. Mais c’est précisément dans cette situation que je viens d’évoquer qu’une telle erreur ne doit pas subsiter dans les esprits, et le Gouvernement fédéral désire faire tout ce qui est en son pouvoir afin qu’elle disparaisse partout et pour toujours.

Ihre Begründung findet dieses uneuropäische Vorgehen in der – damals wie auch heute wieder – vorherrschenden Ideologie des Neoliberalismus, der sich damals Ordoliberalismus nannte. Auch hier lassen die freigegebenen Dokumente [PDF – 32 KB] keinen Zweifel aufkommen:

Dr. & Dr. Gocht aus Erhards Wirtschaftsministerium haben Folgendes geschrieben:
9. Harmonisierung
a) Grundsatz: Die Harmonisierung entwickelt sich als Folge des Abbaues und der Beseitigung der bisherigen nationalen Beschränkungen des Wettbewerbs. Die Harmonisierung der sozialen Bedingungen im besonderen ist das Ergebnis, nicht die Voraussetzung des Gemeinsamen Marktes.
b) Zum Teil wird die Harmonisierung durch Angleichung der nationalen Gesetzgebung erfolgen müssen, zum Teil erfolgt sie durch die autonomen Kräfte des Marktes, z.B. über die Tarifvertragsparteien.
c) Keine a priori festgelegte Harmonisierung , sondern fallweise Behandlung bei auftretender unabweisbarer Notwendigkeit durch Europäische Kommission und Ministerrat.

10. Koordinierung der Wirtschaftspolitik (Wirtschaftspolitik in weitestem Sinne)
a) Die schrittweise Beseitigung und der schließlich Abbau der nationalen Grenzen, verbunden mit der Anerkennung bestimmter Ordnungsprinzipien (u. a.Wettbewerb, Ausgleich der Zahlungsbilanz, [Verzicht auf autonomen Interventionismus, soweit nicht von den übrigen Mitgliedsländern gebilligt?]) schränken die nationale Autonomie der Mitgliedsländer ein.
b) Innerhalb dieses Rahmens Autonomie der nationalen Wirtschaftspolitik, ohne damit grundsätzlich die Prüfung nationaler Maßnahmen durch die Europäische Kommission und den Ministerrat auszuschließen, sofern ausreichend begründet werden kann, daß die nationalen Maßnahmen gegen die Zielsetzung und die ordnungspolitischen Vorstellungen des Vertrages verstoßen.

Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass das von Scharpf beschriebene Vorgehen des EuGH exakt den Absichten der deutschen Adenauer-Regierung entspricht, und zwar bis in die Details.

Durch ihre Blockadehaltung hat sich die Bundesregierung letzten Endes durchgesetzt: von sozialer Harmonisierung und ähnlichem ist in den europäischen Verträgen von nun an für alle Zeiten keine Silbe mehr zu finden. Der Kern des europäischen Vertragswerks, gleichsam im “Herz der europäischen Werte” schlägt eine Krämerseele, nämlich, wie schon in der ersten Antwort der Bundesregierung dargelegt, die nur die “4 Grundfreiheiten” einer Freihandelszone ohne jegliche soziale Flankierung kennt.

Die Gewerkschaften wurden von der deutschen Delegation vorsätzlich aus jeglicher europäischer Integration herausgedrängt. Hierzu ebenfalls eine entsprechende Passage:

Ludwig Erhard hat Folgendes geschrieben:
Diese Gefahr, daß die Berücksichtigung der unter den derzeitigen Bedingungen in der Tat schwierigen Situation Frankreichs zu einer Hemmung der wirtschaftlichen Entwicklungskraft der übrigen Mitgliedsländer führt, kam insbesondere in dem französischen Verlangen nach sozialer Harmonisierung zum Ausdruck. Die klare ablehnende Haltung des Herrn Bundesaußenministers auf der Pariser Konferenz vom 20./21. Oktober 1956 hat im späteren Verlauf zwar nicht zu einem völligen Verzicht der französischen Regierung auf die Einfügung entsprechender Bestimmungen in den Vertragsentwurf geführt, wohl aber zu einem Kompromiß, der aus dem ursprünglich wirtschaftspoltischen ein sozialpolitisches Anliegen gemacht hat. Die schweren Bedenken gegen diese Konstruktion sind damit nicht ausgeräumt. […]

Die Frage der klaren Zuteilung von Verantwortlichkeiten in den institutionellen Bestimmungen des Vertrages wird auch durch den Wunsch einiger Delegationen nach Errichtung eines Wirtschafts- und Sozialrates berührt. Würde ein solcher Rat auf die Willensbildung der Organe des Gemeinsamen Marktes einen gewissen Einfluß erhalten, so würde man sich wohl in der Hoffnung getäuscht sehen, daß mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes der in einigen Ländern so nachteilige Einfluß der Interessenten- und Machtgruppen auf die Wirtschaftspolitik gemindert wird oder gar verschwindet. Es sollte vermieden werden, daß mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes auch die Interessenten und Machtgruppen sich auf europäischer Ebene formieren.

Es ist unschwer zu erraten, wer denn genau mit “Interessenten- und Machtgruppen” gemeint war, die in einigen Ländern so nachteiligen Einfluss auf die Wirtschaftspolitik haben sollen, nämlich genau jene Gewerkschaften, denen der Weg zur wirksamen europaweiten Vertretung von Arbeitnehmerinteressen 1957 in Rom versperrt wurde. Andere Interessengruppen fallen nicht nur deshalb aus dieser Begründung heraus, weil sie sich als einflussreiche „Pressure Group“ sehr wohl gebildet haben und die Rechtsetzung in Brüssel massiv in ihrem Sinne und mit skandalöser neoliberaler Schlagseite gestalten, sondern auch insbesondere deshalb, weil mit dem Vertrag zur EGKS ein entsprechender Machtblock der Kohle- und Stahl-Industriellen – übrigens in nahtloser Fortsetzung aus der Zwischenkriegszeit durch die gesamte Nazizeit hindurch in die Nachkriegszeit – ja zuvor erst ausdrücklich errichtet wurde. Von einer „Vermeidung der Formierung von Machtgruppen auf europäischer Ebene“ kann daher bezüglich der einflussreichen Industriellen keine Rede sein, sondern es ging von Anfang an darum, die Gewerkschaften außen vor zu halten.

Auch aus diesen Gründen ist auf der Grundlage der bestehenden europäischen Verträge – und zwar schon seit Gründung der EWG 1957 – kein soziales Europa zu haben. Die europäischen Verträge sind nicht das Instrument zur Erlangung eines sozialen Europas, sondern sie sind –neben dem Widerstand der nationalen Eliten – das größte Hindernis gegen ein soziales Europa. Ohne eine grundlegende Revision des Kerns der europäischen Verträge – also insb. die Wieder-Einhegung der 4 Grundfreiheiten in eine gesellschaftliche Einbettung – bleiben alle Sonntagsreden zum sozialen Europa oder zum viel gepriesenen „europäischen Sozialmodell“ nur Schall und Rauch.


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