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Titel: Volkstümlich verpackt – ein Bundespräsident für die Oberschicht

Datum: 1. Juli 2004 um 10:01 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Demografische Entwicklung, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Heute ist der neue Bundespräsident Köhler vereidigt worden und hat seine Antrittsrede gehalten. Der beste Kommentar dazu erschien schon heute früh in der Süddeutschen Zeitung, wenn auch ohne jeglichen Bezug auf das heutige Ereignis: „Auf zum letzten Gefecht“ von Heribert Prantl. Der Innenpolitiker der Süddeutschen Zeitung beschreibt darin die Folgen von Hartz IV für die betroffenen Arbeitslosen. Er kommentiert die Abwendung der SPD von den Schwächeren unserer Gesellschaft, die mit der Politik des „Umbaus des Sozialstaates“ verbunden ist, wie es beim Bundeskanzler und beim neuen Bundespräsidenten in gleicher Weise heißt. Es lohnt sich unbedingt, Prantls Kommentar zu lesen. Er enthält viele wichtige Informationen über die Folgen der Agenda 2010, die nach meiner Kenntnis auch viele politisch Interessierte noch nicht wahrgenommen haben. Es lohnt sich auch, die Rede des Bundespräsidenten zu lesen. Zu finden bei www.bundespraesident.de. Mit dieser Rede wird weiter deutlich, dass sich der Bundespräsident voll auf die Seite jener stellt, die eine Systemänderung zu Lasten der breiten Schichten unsres Volkes wollen und das beschönigend Erneuerung nennen.

Die Rede des Bundespräsidenten wurde in den Medien schon äußerst freundlich begrüßt. Das ist kein großes Wunder. Er spricht den Glauben der Mehrheit unsrer Medienschaffenden an die heilsame Wirkung der Reformern heilig und befreit diese Multiplikatoren so von der Unsicherheit, die sich langsam verbreitet, weil immer mehr Menschen und auch manche Multiplikatoren merken, wie unwirksam die Reformen sind und wie unsinnig es ist, unser Land andauernd in düsteren Farben zu malen, nur um damit begründen zu können, wir bräuchten Strukturreformen.

In Stichworten einige wenige Hinweise:

  • In der gesamten Rede kommt kein einziger Hinweis auf die schwache Konjunktur und die nun schon seit über zehn Jahren mangelhafte Binnennachfrage. Der Bundespräsident ist Teil jener Gruppe von neoliberalen Ökonomen in Deutschland, die den Wahnsinn dieser Unterauslastung unsrer Volkswirtschaft zu verantworten haben. Mindestens 150 Milliarden werden Jahr für Jahr in Deutschland nicht erarbeitet, weil wir mit knapp über 80 Prozent Kapazitätsauslastung unsrer Volkswirtschaft weit unter ihren Kapazitäten „fahren“. Deshalb sind so viele Menschen arbeitslos. Deshalb müssen so viele Selbstständige Insolvenz und Konkurs anmelden. Deshalb vor allem sind unsrer sozialen Sicherungssysteme in der finanziellen Krise. Von dem allem ist in der Rede des Bundespräsidenten kein Wort gesagt.
  • Stattdessen übertreibt er wie immer die Folgen der Globalisierung und Alterung. Er spricht von „dramatischer Alterung der Bevölkerung mit drohenden Konflikten zwischen Alt und Jung“. – Wer die Beiträge von Bosbach und meine eigenen in den NachDenkSeiten zum angeblichen demografischen Problem gelesen hat, weiß, dass hier ein Popanz aufgebaut wird. Der Konflikt zwischen Jung und Alt ist von jenen, die behaupten, die heutige Rentnergeneration lebe auf Kosten der Jungen, angeheizt worden. Diese Behauptung brauchen die Erneuerer, weil sie nur so erklären können, warum wir alle privat vorsorgen sollen. Die Interessen der Lebensversicherer, die hinter ihnen stecken, haben sich der Parolen bedient, die den Konflikt erst in Gang gesetzt haben.
  • Der Bundespräsident behauptet, wir seien im globalen Wettbewerb zurückgefallen. Das stimmt nicht: wir haben einen großen Leistungsbilanzüberschuss, wir sind die Nummer eins im Welthandel, vor den USA und weit vor Japan, auch unsere Leistungsbilanz zu den neuen Mitgliedstaaten der EU ist nahezu ausgeglichen und auf einen längeren Zeitraum betrachtet positiv. Was uns fehlt, ist Wachstum. Bei der Wachstumsrate und der Arbeitslosigkeit sind wir in der Tat schlecht. Aber dies sind keine Maßgrößen für die Beschreibung unsrer Wettbewerbsfähigkeit im globalen Wettbewerb.
  • Der Bundespräsident verlangt Erneuerung, aber begründet nicht warum. Das ist die übliche Art des Umgangs mit unserer bisherigen einigermaßen sozialstaatlichen Ordnung, den wir von Regierung und Opposition in gleicher Weise kennen. Die Begründung wird ersetzt durch Formeln, auch beim neuen Bundespräsidenten wiederum klassisch: „Überall wird gesagt, dass wir Reformen brauchen.“ Das ist die klassische Formel für die Reformlüge. Sie beruft sich für ihre Begründung auf andere. Achten Sie mal drauf. Sie werden in den Texten der Modernisierer immer wieder ähnlich leere Formeln finden.

Nachtrag: Im Mittagsmagazin der ARD äußerte sich der liberal-konservative Parteienforscher Prof. Falter zur Köhler-Rede. Er erwartet nach dieser Rede, dass der neue Bundespräsident die Medien und vor allem das Fernsehen nutzt, um in die Politik hineinzuwirken, also die Agenda 2010 und die weiteren Strukturreformen einer Mehrheit schmackhaft zu machen. Falter hat wohl recht. Köhler, das zeigt seine Antrittsrede, wird alles daran setzen, um den Abschied von der Sozialstaatlichkeit unseres Landes populär zu machen. Ein Bundespräsident, der hilft, den Verfassungsbruch mehrheitsfähig zu machen! Soweit sind wir schon. Dass z.B. die Hartz-IV-Reform verfassungsrechtlich fragwürdig ist, sieht der Jurist Prantl (s.o.) genauso wie der Verfassungsrichter Siegfried Broß. Gegenüber dem „Tagesspiegel“ meinte er am 29.6.: „Das Grundgesetz stellt einen ganz engen Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und dem Sozialstaat her..“ „Dieser Zusammenhang wird verletzt, wenn mindestens eine Million Arbeitslose auf einmal massiv schlechter gestellt werden, ohne dass ihnen der Staat adäquate Beschäftigungsmöglichkeiten in Aussicht stellen kann.“


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