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Titel: Durchhalten, die falsche Konsequenz

Datum: 1. Dezember 2003 um 11:45 Uhr
Rubrik: SPD, Strategien der Meinungsmache, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wahlen
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Durchhalten, die falsche Konsequenz. Von Albrecht Müller, Süddeutsche Zeitung – Außenansicht.

Der SPD-Spitzenkandidat Franz Maget meinte am Wahlabend, die SPD habe darunter zu leiden gehabt, dass sie stellvertretend für die Gesellschaft die Reformdebatte führe. Richtig daran ist, dass die SPD in Bayern vor allem wegen der sogenannten Reformpolitik der Bundesregierung eingebrochen ist. Falsch ist die Annahme, die SPD bringe dabei – sozusagen stellvertretend für unser Land – ein ehrenwertes Opfer. Es ist ein sinnloses Opfer.

Zum ersten: Die SPD hat mit dem, was sie Reformdebatte und Reformpolitik nennt, offensichtlich gegen wichtige Regeln für eine erfolgreiche Wahlstrategie verstoßen. Zum Beispiel:

Eine Grundvoraussetzung für politischen und Wahlerfolg ist Angriffslust und Selbstbewusstsein. Wenn eine Partei sich einen ihrer liebsten und erfolgreichsten Begriffe – Reformen – wegnehmen lässt und ihn dann, angefüllt mit wirtschaftsliberalem Inhalt wieder zurücknimmt und benutzt, dann hat sie schon halb verloren. Reformen im sozialdemokratischen Sinne, das hieß, etwas zu verändern zugunsten der Mehrheit und der weniger Begünstigten. Heute meint Reform vor allem Abbau von sozialen Sicherungen, privatisieren, deregulieren, reformieren, damit Arbeit billiger wird, damit also die Löhne sinken etc. Mitdenkende und engagierte potentielle SPD-Wähler sind schon davon tief ins Herz getroffen – und bleiben zu Hause.

Volksparteien sind zu einer großen Breite der Programmatik, zumindest zu einer Offenheit für die verschiedensten Anliegen und Gruppen verpflichtet, wollen sie ihr Potential ausschöpfen. Die SPD muss z.B. sozial engagierte Menschen und Hedonisten, sie muss ökologisch und friedenspolitisch Interessierte, sie muss unpolitische Arbeitnehmer und engagierte Gewerkschaftsmitglieder ansprechen, jedenfalls darf sie sie nicht vor den Kopf stoßen. Im Vorfeld der Bayern-Wahl hat die SPD mit der Agenda 2010 und mit der von ihr geführten Debatte über Gerechtigkeit gleich mehreren dieser Gruppen wehgetan. Am ärgsten wurden die Gewerkschaften gepeinigt. Die SPD hat nicht nur die Kampagne gegen sie laufen lassen, sie hat mit eigenen Äußerungen die Kampagne gestützt. Und sie hat nicht einmal notiert, dass die CSU ihr Wählerspektrum gekonnt öffnete, als sie in der Debatte um die Gesundheitsreform einen Konflikt zwischen Seehofer(CSU) und Merkel/Merz (CDU) zuließ, vermutlich sogar inszenierte, und damit das soziale Image der CSU ausbaute. Dass sich unter diesen Umständen Gewerkschaftsmitglieder für die CSU öffneten, ist nicht verwunderlich.

Jede Partei braucht engagierte Anhänger als Multiplikatoren. Das gilt um so mehr, je weniger man auf die Unterstützung von Medien hoffen kann. Die Reformdebatte treibt aber gerade viele der Engagiertesten weg von der SPD und in die Resignation. Vielleicht sind ja junge Karrieristen mit den gängigen Parolen der Modernisierer zu beeindrucken. Die sind aber in Bayern schon alle bei der CSU.

Wenn Parteien bei Wahlen erfolgreich sein wollen, dann müssen sie Optimismus ausstrahlen und Hoffnung machen. Die CSU hat dies getan und damit ihre Skandale und Misserfolge überlagert. Optimismus wäre heute übrigens auch aus konjunkturellen Gründen in der Bundespolitik dringend notwendig. Die modernen Reformer jedoch reden ständig von Schweiß, vom Wehtun, vom Reinschneiden, und, da sie englisch zu sprechen belieben, was der Nähe zu den einfachen Leuten besonders dienlich ist, reden sie von “pain”. “Without pain no gain” – das ist eigentlich ein Satz, der eher den Psychotherapeuten als Wähler anziehen dürfte. Als unbeteiligter Beobachter muss man den Eindruck gewinnen, dass es Spaß macht, den Wähler/innen Schmerzen anzudrohen.

Jedenfalls, den Wahlerfolg der SPD fördert diese Reformdebatte nicht. Und – zum zweiten – sie bringt unser Land nicht voran. Die Vermutung, dass Reformen nicht bringen, was mit ihnen versprochen wird, bestätigt sich mehr und mehr: die Förderrente zieht nicht, im ersten Halbjahr gab es gerade mal 200.000 Neuabschlüsse und dagegen 300.000 Kündigungen, die Hartz-Reformen greifen quantitativ nicht – wie sollten sie auch? Neue Arbeit bringen sie nicht. Der Zusammenhang zwischen Reformen und Wirtschaftsaufschwung, den der Bundeskanzler am Tag nach der Bayern-Wahl zu sehen angab, ist nicht erkennbar. Wie sollen Reformdebatten und Reformen helfen, die “wirtschaftliche Dynamik wiederzugewinnen”? Eher deutet sich Gegenteiliges an. Die verschärfte Reformdebatte mit ihren permanenten Neuerungen und Niederlagen wird zum Klotz am Bein unserer Volkswirtschaft, sie befördert die unterschwellige Behauptung von der Deutschen Krankheit.

Die Debatte trägt absurde Züge, wenn etwa eine neue Reform angekündigt und debattiert wird, bevor die gerade verabschiedete ihre Wirkung entfalten konnte. So wird über die Bürgerversicherung als neue Variante der Krankenversicherung debattiert, bevor die gerade beschlossene Gesundheitsreform verabschiedet und implementiert ist; genau so bei der Altersvorsorge. “Die permanente Reform”, eine Formel, die sich führende Grüne zum Markenzeichen erkoren haben – das ist schon nicht mehr komisch.

Gerhard Schröder hat am Tag nach der Bayern-Wahl für Durchhalten plädiert. Das ist ein Fehler. Nachdenken wäre angesagt. Die Koalition müsste das Gesamttableau der Reformen durchforsten; sie müsste weiter durchzusetzen versuchen, was dringend notwendig ist, so z.B. eine bessere Finanzausstattung der Gemeinden; anderes fallen lassen – vor allem die wenig durchdachten und wenig hilfreichen Projekte wie z.B. die Ausgliederung der Zahnersatzleistung, die weitere Privatisierung der Altersvorsorge, das Arbeitslosengeld II und jene Projekte wie die Anhebung des Renteneintrittsalters, die in ferner Zukunft und erst bei einer gänzlich anderen Beschäftigungslage relevant werden.

. Die Koalition muss versuchen, die Reformdebatte zu beenden und Ruhe einkehren zu lassen. Es gibt gute Gründe, viel über die Überwindung der Rezession und dann über die Verbesserung der Produktivität, die Modernisierung der Infrastruktur, über bessere Bildung und Ausbildung nachzudenken und sich dafür einzusetzen.

Wenn die rot-grüne Koalition die Fixierung auf die sogenannten Reformen aufgäbe, dann könnte sie sich auch besser aus der Gefangenschaft der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat lösen. Wenn der Bundeskanzler hingegen immer wieder erklärt, wie essentiell Reformen seien, sie dann aber nicht durchsetzt, weil die Union gravierende Änderungen will, dann gilt er als “lahme Ente”. Und wenn er gravierenden Änderungswünschen zugunsten der Union zustimmt, dann verliert er immer mehr den Rückhalt seiner eignen Anhänger. Wie jetzt schon in Bayern. Ein Dilemma.

Noch hätte Gerhard Schröder – der ja die unselige Reformdebatte nicht erfunden hat – die Chance, die Bayern-Wahl zur Kurskorrektur zu nutzen. Damit zu warten, bis weitere Landtagswahlen verloren sind, macht wenig Sinn.

© Süddeutsche Zeitung / 25. September 2003


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