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Titel: Wie die hessischen Abtrünnigen zu Rettern der SPD erklärt werden. Ein Leserbrief zu einem Leitartikel der Mainstreampresse

Datum: 6. November 2008 um 9:15 Uhr
Rubrik: SPD, Strategien der Meinungsmache, Wahlen
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„Das hessische Debakel stärkt die SPD im Bundestagswahlkampf. Auf der Pressekonferenz war eine tiefe innere Zerissenheit spürbar. Doch dass der Entschluss so spät verkündet wurde, ist weder unmoralisch, noch charakterlos. Im Gegenteil.“ So beginnt der Leitartikel von Franz Sommerfeld im Kölner Stadt-Anzeiger. Joke Frerichs hat dazu einen Leserbrief geschrieben.

Sehr geehrter Herr Sommerfeld,

Ihr Artikel hinterlässt doch einen faden Beigeschmack. Er speist sich aus Mutmaßungen, kleinen Ungenauigkeiten und verblüfft durch Ihre Fähigkeit zur Empathie.

Der Reihe nach: Den vier Abtrünnigen können Sie “die tiefe innere Zerissenheit anmerken, die sie seit Monaten spüren”. Sie wollen uns also weismachen, dass diese Vier Monate brauchten, um festzustellen, dass sie ein Bündnis mit den Linken nicht verantworten können? Nach all den Parteitagen; Regionalkonferenzen; Fraktionssitzungen; Probeabstimmungen; Einzelgesprächen?

Dann Ihre Unterstellung, Frau Ypsilanti habe den rechten Parteiflügel “und damit eine ganze Parteiströmung aus(ge)bremst”. Der Parteitag vom Wochenende hatte ihren Kurs mit über 98 % der Stimmen gebilligt. Wo war denn da der angeblich ausgebremste rechte Parteiflügel?

Dann die infame Unterstellung, Frau Ypsilanti habe “um die Macht gespielt und dieses Spiel verloren”.  Es fehlt nur noch der Hinweis, sie sei “machtgeil”; ” von der Macht besessen” usw. Von der “Versuchung der Macht” sprechen Sie immerhin. Männer kommen natürlich nie in diese Versuchung. Sie treiben immer nur edle Motive um. Wie diesen Brandstifter Koch, der jetzt wieder den Biedermann spielen kann.

Dann Ihre Beweihräucherung des schwarz-grünen Modells in Hamburg. Das was dort als staatspolitische Leistung gilt, nennt man in Hessen Wahlbetrug. So sind sie halt, unsere Mainstream-Medien: wenn es nur die richtigen, sprich “Die Linken”  trifft. (Heute muss ich ausnahmsweise die SZ ausnehmen; Heribert Prantl hat sich immerhin zum Polit-Neurotiker Jürgen Walter eindeutig geäußert – auch einer von denen, die nur von edlen Motiven getrieben waren: von der Sorge um Arbeitsplätze und um die Zukunft der SPD – keineswegs jedoch von Rachegelüsten geleitet).

Und dann noch die ach so “besonnene Reaktion” von Franz Münterfering “auf die Abweichler”. Die hessische SPD will er “geschlossen in den Wahlkampf führen” und von einem ehrlichen Umgang der SPD mit den Wählern schwafelt er. Etwa so, wie 2005, als er vor der Wahl gegen die “Rente mit 67” polemisierte, um sie kurz danach ohne Diskussion in der Partei zu verordnen?

Nein, Herr Sommerfeld. Ihr Beitrag ist schwülstig bis diffus. Er will Vielen gerecht werden und wird am Ende Niemandem gerecht. Diese Art Journalismus verdummt mehr als er aufklärt. Die Richtung stimmt nicht und die Details sind z.T. verräterisch. Z.B. dort, wo sie Ralf Stegner ein “kaderartiges Parteiverständnis” unterjubeln. Der Mann hat doch nur kritisiert, dass es ihm unverständlich ist, wieso Leute nach so vielen, unendlich mühsamen Prozeduren, exakt 24 Stunden vor einer Entscheidung ihr Gewissen entdecken. Das aber genau verstehen viele nicht. Selbst der so besonnene Herr Müntefering nicht.

Und sowieso: Wieso soll das überhaupt eine Gewissensentscheidung gewesen sein. Es ging doch nicht um Krieg oder Frieden; auch nicht um Gentechnik oder Abtreibung. Und wenn es eine Gewissensentscheidung war: Haben nur die Vier ein Gewissen? Haben sich nicht auch andere in diesem monatelang sich hinziehenden Prozess “zerrissen”. Warum wird den einen Moral zugebilligt, während andern angeblich nur ihr Machtspiel spielen? Lebt denn die Demokratie nicht von der Fähigkeit, Mehrheiten zu bilden?

Es ging doch tatsächlich nur um die Entscheidung, ob man sich von einer demokratisch gewählten Partei tolerieren lässt –  in Berlin und davor in etlichen anderen ostdeutschen Bundesländern gibt und gab es sogar Koalitionen – und wie wir sehen, ist daran die Demokratie nicht zerbrochen. Das aber genau könnte passieren, wenn Ereignisse, wie jetzt in Hessen, künftig zur Regel werden. Dann wird sich nämlich jeder fragen, wozu er überhaupt noch zur Wahl gehen soll. Sollen doch gleich die Medien bestimmen, wer regieren darf und wer nicht. So weit sind wir ja von diesen Zuständen gar nicht mehr entfernt!  

MfG
Joke Frerichs


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