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Titel: Denkfehler Nr. 1

Datum: 29. Dezember 2003 um 11:52 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Generationenkonflikt
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“Die Produktivität ist zu hoch. Deshalb steigt die Arbeitslosigkeit”

Der Produktivitätszuwachs sei in Deutschland zu hoch, deshalb sei die Arbeitslosigkeit so hoch. Diese Erklärung ist immer wieder zu hören. "Der Kapitalismus schafft die Arbeit ab", alarmiert der Soziologe Ulrich Beck seine Glaubensgemeinde schon seit Jahren. In der Süddeutschen Zeitung begründete er diese Erfahrung mit folgender Beobachtung:

Die Zukunft der Arbeit, sagt der Herr von BMW, sieht (bei BMW) folgendermaßen aus: Dann zeichnet er eine abfallende Linie, die im Jahr 1970 beginnt und ums Jahr 2000 herum bei Null endet. So ist das natürlich übertrieben, und so können wir das auch in der Öffentlichkeit nicht darstellen, fügt er hinzu. Aber die Produktivität steigt in solchem Ausmaß, dass wir mit immer weniger Arbeit immer mehr Autos herstellen können. Damit wir den Beschäftigungsstand auch nur halten können, müssten die Märkte enorm expandieren. Nur wenn wir in alle Winkel der Welt unsere Autos verkaufen, besteht überhaupt eine Chance, die vorhandenen Arbeitsplätze zu sichern. Der Kapitalismus schafft die Arbeit ab. Arbeitslosigkeit ist kein Randschicksal mehr, sie betrifft potentiell alle – und die Demokratie als Lebensform.


Süddeutsche Zeitung

So dramatisch der Soziologe Beck das auch sieht: Er erliegt dem typischen Denkfehler, eine einzelbetrieblich durchaus schlüssige Beobachtung auf die gesamte Volkswirtschaft zu übertragen.
In einem einzelnen Betrieb wie im angeführten Beispiel BMW gilt sehr wohl, dass bei Rationalisierung und gleichzeitiger Stagnation des Absatzes mit weniger Leuten die gleiche Menge produziert wird und die überzähligen Mitarbeiter in der Regel entlassen werden. Auf eine Volkswirtschaft lässt sich diese betriebliche Erfahrung aber nicht einfach übertragen. Es gab in den letzten Jahrzehnten Phasen weit höheren Produktivätszuwachses als heute bei gleichzeitig geringerer Arbeitslosigkeit. So wuchs die Produktivität in den Jahren 1968 bis 1973 mit einer jährlichen Rate von durchschnittlich 5,4% und damit schneller als heute. Zugleich lag die Arbeitslosenquote im Schnitt kaum höher als 1 %.
Hintergrund und Ursache des hohen Produktivitätswachstums in den vergangenen 50 Jahren waren ähnlich umwälzende Strukturveränderungen und Rationalisierungen wie heute. Schon in den 60er Jahren rankte sich eine breite Diskussion um die Folgen der Automatisierung. Auch damals brachen ganze Branchen weg. In der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Stahl-, Textil- und Schuhindustrie wurde stark rationalisiert; zugleich erstarkte die ausländische Konkurrenz. Tausende von Arbeitnehmern verloren ihre Stellen. Doch Landwirte, Bergleute und Textilarbeiterinnen kamen in der Automobilindustrie, im Maschinenbau, in der Chemieindustrie unter. Ihre Söhne und Töchter wurden Informatiker oder Lehrerinnen, Laboranten in der Forschung oder Sozialarbeiter. Diese Umstrukturierung gelang, weil bestimmte Branchen wuchsen, andere Güter produziert und neue Dienstleistungen angeboten wurden. Staat und Bundesbank steuerten den Prozess mit ihrer Ausgaben- und Zinspolitik und durch eine aktive Konjunktur- und Strukturpolitik. Das blies viel Dampf in die Ökonomie, es wurde immer wieder so viel Kaufkraft geschaffen, dass die erzwungenen Strukturveränderungen aufgefangen werden konnten.
Hat sich seither so viel verändert? Fehlt für jene, deren Arbeitsplatz wegrationalisiert wird, zwangsläufig jede Beschäftigungsalternative? Wer so denkt, unterstellt, es gebe nichts mehr zu tun, unsere Bedürfnisse seien befriedigt. Zunächst ist daran zu erinnern, dass sich Automaten, Roboter und Computer immer noch nicht selbst produzieren. Auch die Fertigungs-Automaten bei BMW müssen konstruiert, produziert und gewartet werden. Und breite Bevölkerungsschichten haben einen durchaus berechtigten Bedarf. Zum Beispiel an besseren und ruhigeren Wohnungen, an einer besseren Ausbildung ihrer Kinder. Viele Familien mit Kindern müssen scharf kalkulieren; sie schränken sich ein, beim Essen , bei der Kleidung; ein hoher Prozentsatz verzichtet noch immer auf die Ferien, auf das in der meinungsführenden Schicht übliche abendliche Ausgehen sowieso. Es ist eine für die gehobene Mittelschicht typische Unterstellung, von den breiten Massen anzunehmen, ihr Bedarf sei gedeckt. Doch es gibt auch jenseits des Konsums Bedürfnisse. Wie wenige Beispiele zeigen: Für die Infrastruktur vieler unserer Städte wird nur das Notwendigste getan, Schwimmbäder werden geschlossen; die Klassenstärken in den Schulen werden größer statt kleiner; die Bäche am Oberlauf des Rheins müssten renaturiert werden, wenn man Bonn und Köln vor weiteren Überschwemmungen schützen wollte – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Arbeit geht wirklich nicht aus.

Es ist interessant, dass diejenigen, die die These vom zu hohen Produktivitätszuwachs vertreten, häufig auch die These vom Ende des Generationenvertrages propagieren: Was sich aber eigentlich ausschließt. Denn wenn die Produktivität so sehr wächst, dass die Arbeit ausgeht, dann braucht die gleiche Generation nicht zu fürchten, mehr arbeiten zu müssen, um die wachsende Zahl der Rentner zu unterhalten. Mit starken Produktivitätsgewinnen lässt sich die zunehmende Altenlast – wie es so schön heißt – schultern, ohne dass die Jungen auf Zuwächse verzichten müssen. Im Sinne des Soziologen Beck sollte man den Rentnern dankbar dafür sein, dass sie länger leben. So geht den Jungen wenigstens die Arbeit nicht so schnell aus.

Hier zeigt sich der Niedergang der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Debatte besonders klar. Es sind vor allem Nicht-Ökonomen, die sie in den Feuilletons der großen Zeitungen führen, mit Auswirkungen auf die öffentliche Meinung und die praktische Politik:
Das Schreckgespenst Produktivitätszuwachs macht erstens blind dafür, dass gerade Produktivitätsfortschritte die Voraussetzungen für ein hohes Einkommen der Menschen und für die Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten sind. Sie sind nämlich tatsächlich einer der Gründe dafür, dass Deutschland bei hohem Lohnniveau dennoch Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet, also konkurrenzfähig ist.
Modische Untergangs-Theorien wie die vom „Ende der Arbeit” führen zweitens zu Fatalismus und verleiten dazu, das Selbstverständliche zu unterlassen. Wer auch heute noch für Vollbeschäftigung als ein berechtigtes und notwendiges Ziel der Wirtschaftspolitik eintritt, wird ausgelacht, obwohl dieses Ziel eine Selbstverständlichkeit sein sollte.


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