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Titel: Brexit-Folgen … wenn die Realität sich hartnäckig weigert, den Prognosen der Medien zu folgen

Datum: 5. Januar 2017 um 13:48 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Audio-Podcast, Europäische Union, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Länderberichte, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Für Medien, Politik und die einschlägigen Ökonomen war die Sache klar – wenn die Briten für den Brexit votieren, kracht die britische Wirtschaft zusammen. Egal ob es sich um die Bertelsmann-Stiftung, die London School of Economics oder die OECD handelt – die Folgen, die man den Briten prognostizierte, waren katastrophal. Seit dem Brexit-Votum im Juni hält diese Untergangsstimmung an. Woche für Woche werden wir mit negativen Prognosen konfrontiert. Vom „Niedergang der Wirtschaft“, „Milliardenlöchern“ und einem „Exodus“ der Arbeitsplätze ist dann die Rede. Das hat alles schon etwas „postfaktisches“, sagen die offiziellen Zahlen doch das genaue Gegenteil. Großbritanniens Wirtschaft entwickelt sich stärker als im vermeintlichen „Boomland“ Deutschland und die Arbeitslosigkeit ist, so man solchen Statistiken denn glauben darf, rückläufig. Seltsam, nicht wahr? Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.


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Quelle: SPIEGEL Online

Deutschlands Wirtschaft brummt … zumindest dann, wenn man die Jubelarien diverser Kommentatoren ernst nimmt. Die Realität ist weniger schillernd. Laut Statistischem Bundesamt ist die deutsche Wirtschaft im letzten Quartal gerade mal um bescheidene 0,2% gewachsen. Früher wäre das eine Hiobsbotschaft gewesen, heute halten Teile der Medien ein Wirtschaftswachstum von 0,2% offenbar für mehr als ausreichend. So ändern sich die Perspektiven, wenn man sich offenbar mehr als Regierungssprecher, denn als kritischer Kommentator versteht.

Aber wenn Deutschlands Wirtschaft bei einem Wachstum von 0,2% bereits brummt, dann muss es im Brexit-geschüttelten Großbritannien ja sicher eine handfeste Rezession geben. Weit gefehlt. Auch die britische Wirtschaft dümpelt mehr so vor sich hin, schneidet mit einem ebenfalls mageren Wachstum von 0,6% aber immerhin noch besser ab als Deutschland. Und nicht nur das. Frankreich konnte im letzten Quartal ebenfalls nur ein Miniwachstum von 0,2% vermelden, die gesamte Eurozone kam auf 0,3%. Wie auch immer man also die britischen „Post-Brexit-Zahlen“ bewerten will, im Vergleich zu anderen EU-Staaten sind sie vor allem eines: erschreckend normal und unspektakulär.

Problematischer wird es freilich, wenn man die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt vergleichen will. Schließlich suggerieren die Hiobsbotschaften aus den Medien ja, dass nach dem Brexit-Votum zahlreiche Unternehmen das Land verlassen oder aufgrund negativer Geschäftserwartungen Arbeitnehmer entlassen hätten. Ein Vergleich ist jedoch genau so schwer wie eine seriöse Bewertung. Die offiziellen Zahlen aus Deutschland sind nämlich kaum mehr als ein PR-Werkzeug der Bundesregierung und nicht sonderlich aussagekräftig. Das trifft in der durch und durch standardisierten EU freilich auch auf Großbritannien zu. Doch selbst wenn seriöse Vergleiche kaum anzustellen sind, zeigen die britischen Zahlen doch, dass es zumindest keine dramatische negative Entwicklung seit dem Brexit-Votum gegeben hat. Im Gegenteil, nach den offiziellen Zahlen ist die britische Arbeitslosenquote sogar leicht rückläufig. Damit liegt das Land übrigens im Trend. In fast allen Kernländern der EU hat sich die offizielle Arbeitslosenquote rückläufig entwickelt. Auch hier lassen sich die Katastrophenmeldungen aus den Medien einfach nicht durch harte Fakten nachvollziehen.

Und wie sieht es bei anderen statistischen Daten aus? Sind die Einzelhandelsumsätze implodiert, investiert niemand mehr, sind die Hauskredite stark rückläufig oder die Auftragseingänge eingebrochen? Nein, die Zahlen, die das britische Office for National Statistics zur „Post-Referendum-Economy“ zusammengestellt hat sind allesamt erschreckend normal und in der Tendenz eher positiv. Mit vielleicht einer einzigen Ausnahme: Dem Wechselkurs des britischen Pfunds.

„Die größte Änderung für unsere wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit dem Referendum im Juni war natürlich die deutliche Abwertung des Sterlings. Hersteller mussten dadurch höhere Preise für einige Rohstoffe zahlen und dies hat die Preise der Endprodukte steigen lassen. Nichtsdestotrotz hat die Volkswirtschaft als Ganzes sich robust entwickelt, mit positiven Zahlen sowohl bei den Konsumausgaben als auch bei den Investitionen“.
Nick Vaughan, Chefökonom des Office for National Statistics

Frei nach Mark Twain könnten die Briten nun wohl sagen „Die Nachrichten über unseren Tod sind stark übertrieben“. Das trifft auch auf die Interpretationen zu, die in den Wertverlust des Pfunds hineingelegt werden. Aktuell bekommt man für ein Pfund 1,17 Euro. In den Monaten vor dem Brexit-Votum waren es im Schnitt 1,30 Euro. Das klingt erst einmal dramatisch, ist es aber eigentlich nicht, wenn man sich einmal den langjährigen Kursverlauf anschaut. Zwischen 2009 und 2014 markierte das Pfund ebenfalls im Mittel auf dem heutigen Kurs und dies ganz ohne Brexit und Weltuntergangsmeldungen. Die Hochphase zwischen 2014 und 2016, die heute gerne als Basis für den „hohen“ Pfund-Kurs vor dem Referendum genommen wird, war eher eine Ausnahme, die etwas mit dem in dieser Periode schwächelnden Euro zu tun hatte.

Ist also alles in Butter? War der Brexit gar ökonomisch vernünftig? Auch das kann man seriös ganz einfach (noch) nicht sagen und das hat einen ganz bestimmten Grund: Großbritannien ist über rund 14.000 völkerrechtliche Verträge, angefangen bei der UNO-, WTO- und NATO-Mitgliedschaft, über Handels-, Verkehrs- und Patentabkommen, bis hin zu Zoll-, Fischerei- und Postabkommen mit der internationalen Gemeinschaft verbunden. Der Großteil dieser Verträge bleibt auch nach einem EU-Austritt ganz einfach erhalten, da er mit den EU-Verträgen gar nichts zu tun hat. Und der Rest wird dann zur Verhandlungssache. Nach gängiger rechtlicher Bewertung behalten sämtliche EU-Verträge mit Großbritannien erst einmal ihre Gültigkeit, bis sie durch neu verhandelte Verträge abgelöst werden – dasselbe gilt für Verträge Großbritanniens mit Dritten, die auf den EU-Verträgen aufbauen. Oder um es kurz zu machen: Noch steht doch überhaupt nicht fest, was zum Brexit passieren wird, da die Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der EU noch gar nicht begonnen haben. Was in diesen Verhandlungen, die wohl ganze zehn Jahre dauern können, beschlossen wird, ist derzeit noch vollkommen offen.

Wie Großbritannien, die EU und der Rest der Welt die offenen bi- oder multilateralen Fragen regeln werden, liegt einzig und allein in den Händen der Verhandlungspartner. Vorstellbar ist hier – zumindest theoretisch – so ziemlich alles, angefangen bei der Rückkehr zu den WTO-Regeln, die auch Zölle beinhalten, bis zur vollständigen Übernahme des EU-Freihandels inkl. aller Sonderregeln. Momentan ist es wohl am wahrscheinlichsten, dass es zu einer weitreichenden privilegierten Partnerschaft kommt, wie sie zum Beispiel Norwegen und die EU pflegen.

Die täglich bis wöchentlich auf uns einprasselnden Katastrophenmeldungen und Horrorprognosen kann man derweil getrost als Propaganda einstufen. Die vermittelte Botschaft ist klar: Wer nicht den Regeln von Merkel und Brüssel folgen will, wird dies teuer bezahlen und das würde auch für Deutschland gelten, wenn der Wähler hierzulande auch mal so dumm sein sollte wie der Brite. In Deutschland geht es freilich nicht um einen EU-Austritt, aber sehr wohl um grundsätzliche Kritik am jetzigen Zustand der EU, wie sie beispielsweise von der Linkspartei geübt wird.

Die Brexit-Horrormeldungen sind also streng genommen nur ein weiterer Teil der Strategie, Kritik und Ablehnung der bestehenden Zustände unter dem Schlagwort der „Alternativlosigkeit“ zu unterbinden. Da die Meldungen und Prognosen jedoch nicht der Realität entsprechen, muss man sie wohl – ich weiß, der Begriff ist überstrapaziert – in das Reich des Postfaktischen verschieben. Ein weiterer Beleg dafür, dass die eigentliche postfaktische Berichterstattung von SPIEGEL Online und Co. kommt.


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