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Titel: „Diktator Erdogan“ – eine Stellungnahme, Ergänzungen und ein Leserbrief

Datum: 19. April 2017 um 10:36 Uhr
Rubrik: Demokratie, Länderberichte, Strategien der Meinungsmache
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Mein gestriger Artikel „Diktator Erdogan“ – so nun haben wir uns genug aufgeregt hat für einige Resonanz unter unseren Lesern gesorgt. Es gab positives, aber leider auch sehr viel kritisches Feedback. Ein Großteil der Kritik ist dabei durchaus berechtigt, da ich leider den Begriff „demokratisch“ in einem falschen Kontext benutzt habe und zudem auf eine klare kritische Einordnung der jüngeren politischen Entwicklung in der Türkei verzichtet habe. So konnte durchaus bei einigen Lesern der Eindruck entstehen, ich würde Erdogan verharmlosen oder gar seine Taten rechtfertigen. Das wollte ich nicht. Von Jens Berger.

Wenn ein Autor sich einen bestimmten Teilaspekt aus einem größeren, komplexen Themenbereich heraussucht, steht er stets vor einem Problem: Einerseits will er natürlich seinen Artikel möglichst kurz, knackig, kompakt und ohne lange Einleitungen schreiben, die viele Leser abschrecken und von der eigentlichen Botschaft ablenken. Andererseits läuft er dadurch jedoch auch stets Gefahr, dass er durch das nötige Weglassen bestimmter Positionen die Leser nicht wie beabsichtigt aufklärt, sondern an ihnen vorbeischreibt und dabei im schlimmsten Falle sogar eine völlig unbeabsichtigte Reaktion auslöst. Genau dies ist mir gestern mit meinem Erdogan-Artikel passiert. Selbstverständlich sehe ich die jüngeren Entwicklungen in der Türkei äußerst kritisch. Ich weiß, dass Journalisten dort systematisch verfolgt, Regierungskritiker mundtot gemacht und schlimmstenfalls sogar weggesperrt werden. Mir ist bekannt, dass Tausende Richter und Staatsbeamte nach dem vermeintlichen Putsch entlassen wurden, dass der türkische Staat die Opposition knechtet und in Kurdistan einen grausamen Bürgerkrieg führt. Ich betrachte auch den zunehmenden Einfluss der Religion und die autoritäre bis reaktionäre Gesellschaftspolitik von Erdogans AKP kritisch, bin ausdrücklich gegen die Unterdrückung der Frauen in der Türkei und habe auch in der Vergangenheit im Kontext der Flüchtlingskrise immer wieder darauf gepocht, dass man mit Politikern wie Erdogan keine wie auch immer gearteten „Deals“ machen sollte.

All dies ist mir natürlich bewusst. Mir sollte als Autor jedoch auch bewusst sein, dass die Leser das nicht erahnen können, wenn ich es nicht explizit schreibe. Im gestrigen Artikel habe ich die gesamte Kritik an Erdogan, der AKP und der heutigen Türkei in einem kurzen Absatz, beginnend mit „Erdogan steht für […]“, zusammengefasst. Das war offensichtlich, vor allem im konkreten Zusammenhang mit dem Referendum, viel zu wenig. Dies möchte ich hiermit korrigieren. Selbstverständlich hege ich – oder gar die NachDenkSeiten – keine Sympathien für Erdogan oder die AKP. Hätte ich geahnt, dass ich mich mit diesem Artikel derart missverständlich ausdrücke, hätte ich ihn sicherlich gründlich überarbeitet und um eine ausgiebige kritische Einführung ergänzt.

Mein Ziel war es jedoch, auf die Bigotterie deutscher Medien und westlicher Politik hinzuweisen. Ich finde es nach wie vor äußerst kritikwürdig, in welcher Form man über das Referendum berichtete und dass man die Dämonisierung vor allem deshalb so schrill betrieben hat, da man sich selbst in einem besseren Licht darstellen wollte.

Auch meine Kritik an der mangelnden Fähigkeit, sich selbstkritisch mit der Entwicklung in der Türkei auseinanderzusetzen, verliert durch dieses Versäumnis nicht an Bedeutung. Ich bleibe dabei: Hauptverantwortlich für den Siegeszug der AKP und Erdogan sind westliche Politiker – allen voran die christlich-konservativen Staatschefs Sarkozy und Merkel, die der Türkei gezeigt haben, dass sie nie ein vollwertiges Mitglied Europas sein wird, und der konservative George W. Bush, der durch seine Kriege im Nahen und Mittleren Osten eine neue Kluft zwischen Christentum und Islam hat entstehen lassen, die dem Islam in der Türkei erst den Rückenwind gegeben hat, der zur heutigen Situation geführt hat.

Last but not least ging es mir im gestrigen Artikel darum, noch einmal darauf hinzuweisen, in welch grotesker Art und Weise der Begriff „Demokratie“ von den westlichen Medien und der westlichen Politik als Kampfbegriff missbraucht wird. Auf die demokratischen Defizite im freien, ach so demokratischen Westen weisen wir in den NachDenkSeiten ja Tag für Tag hin. Wo war denn beispielsweise die offene Debatte um den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Syrien? Gehört es nicht zu den elementaren demokratischen Gepflogenheiten, über Dinge wie Krieg und Frieden ehrlich und offen zu debattieren? Die wirklich wichtigen Fragen werden auch im demokratischen Deutschland hinter verschlossenen Türen entschieden. So demokratisch, wie wir uns selbst gerne darstellen, sind wir auch nicht. Vielleicht sollten Politik und Medien daher die „Offensivverteidigung“ der Demokratie in anderen Staaten auch etwas vorsichtiger angehen und sich zunächst einmal selbstkritisch an die eigene Nase fassen.

Dass Medien und Politik zudem stets sehr kleinlaut werden und den Begriff „Demokratie“ unter den Tisch fallen lassen, wenn es um Mehrheitsvoten geht, die gegen „unsere“ Interessen gerichtet sind und dann auch noch die Position einer muslimischen, konservativen Mehrheit widerspiegeln (Wahlsiege FIS, Hamas, Muslimbrüder und nun das Referendum in der Türkei), lässt meines Erachtens schon aufhorchen. Damit sage ich aber nicht, dass all diese Wahlen und Entscheidungen lupenrein demokratisch waren. Das waren sie sicher nicht. Bei all diesen Wahlen gab es Beschwerden – doch darin unterscheiden sie sich nicht von Wahlen und Referenden in der gleichen Region, bei denen die pro-westliche Seite den Sieg davongetragen hat und die von den westlichen Medien und der westlichen Politik in der Regel nicht angezweifelt werden.

Dennoch ist der von mir verwendete Begriff „demokratisches Referendum“ eine – wie sagt man so schön – intellektuelle Minderleistung. Natürlich verbindet man mit dieser Formulierung als erstes die Aussage, das Referendum sei demokratisch zustande gekommen und nach demokratischen Regeln durchgeführt worden. Beides war in der Türkei nicht der Fall. Mit meinem Verweis wollte ich vielmehr auf die bloße technisch-abstrakte Ebene hinweisen, dass westliche Politiker und Kommentatoren die „Bewahrung der Demokratie“ als sehr abstrakte Begründung gegen ein Referendum aus dem Hut zaubern, das zumindest in der Theorie ja gerade eben ein demokratisches Werkzeug ist. Diesen Widerspruch hätte man weitaus eleganter und vor allem weitaus unmissverständlicher formulieren können.

Sollte bei Ihnen aufgrund der beschriebenen Fehler und schlechten Formulierungen ein falscher Eindruck entstanden sein, so bitte ich dies ausdrücklich zu entschuldigen. Sie können mir auch gerne unter leserbriefe(at)nachdenkseiten.de ihr kritisches Feedback mitteilen. Ich versuche auch, auf jede Mail zu antworten.

Stellvertretend für die rund ein Dutzend kritischer Zuschriften, die uns gestern erreichten, möchte ich an dieser Stelle noch die Zuschrift von unserem Leser Alf Hammelrath veröffentlichen, die sicher ein guter Denkanstoß ist. Gleichzeitig möchte ich jedoch auch konkret anhand dieser Zuschrift noch einmal darauf hinweisen, dass ich an keiner Stelle ein Präsidialsystem im Allgemeinen oder ein solches der genannten Staaten im Konkreten verteidigt oder gar empfohlen habe. Im Gegenteil – persönlich würde ich immer ein System, bei dem das Parlament möglichst viel Macht innehat, bevorzugen.

Jens Berger


Liebe NDS,

ich teile die Auffassung von Jens Berger nicht – zu erheblichen Teilen.

Richtig ist: es gehört zur selbstverständlichen und legitimen Möglichkeit der Türken, sich eine Verfassung zu geben, wie sie sie für richtig halten. Dies kann auch eine autoritäre Präsidialverfassung sein oder meinetwegen eine (absolute) Monarchie, die zunächst einmal nicht von vorneherein “schlecht” ist. Ich halte auch die mitteleuropäische, zumal deutsche Arroganz, nur das gut zu finden, was den eigenen Anschauungen entspricht, für höchst bedenklich.

Ich stimme aber nicht zu:

Die Präsidialverfassung der USA, darauf ist oft genug hingewiesen worden, ist historisch gewachsen, mit checks and balances versehen – und birgt dennoch große Gefahren. Wir erleben dies gerade.
Von der südkoreanischen Präsidialverfassung habe ich jedenfalls nie viel gehalten; ich habe sie auch nie für “demokratisch” gehalten. Hervorgegangen aus dem autoritär-militärischen Regime des Herrn Park (Vater der jetzt geschassten Frau Park), hat es niemals entwickelten demokratischen Ansprüchen genügt; man sehe sich nur die korrupten Verbindungen zur Wirtschaft an.

Die südamerikanischen Regime lassen sich nicht einfach als gleich darstellen, da gibt es viele Differenzierungsmöglichkeiten. Aber die gegenwärtigen brasilianischen, argentinischen, venezoelansichen u.a.m. Präsidialregime als problemlos zu bezeichnen, ist schlicht falsch.

Was das französische Regime angeht: der Präsident hat seit de Gaulle eine machtvolle Rolle, aber die demokratische Kontrolle funktioniert. Presse und Öffentlichkeit sind nicht wirklich schikaniert.

Nun aber Erdogan:

Nein, das Referendum ist NICHT demokratisch zustande gekommen. Dagegen spricht schon die Tatsache, dass es – inhaltlich längst vorbereitet – während eines Ausnahmezustandes durchgeführt wird, die Opposition massiv eingeschränkt wird, Wissenschaftler entlassen und Journalisten eingekerkert sind – in einem Ausmaß, das sich mit demokratischen Ansprüchen nicht vereinbaren lässt. Dagegen hat die Regierung alle Staatsmöglichkeiten für ein EVET eingesetzt.

Wäre Herrn Erdogan an einer demokratischen Entscheidung gelegen gewesen, er hätte einen Diskurs auf Augenhöhe nicht nur zugelassen, sondern gefördert.

Was die von Ihnen genannten “Vorzüge” der neuen Verfassung anbelangt: was bedarf es noch besonderer Berechtigungen für das Militär, wenn diese vollständig auf eine andere autokratische Institution übergehen? Historisch sehe ich Erdogan als Überwinder des Kemalismus; denn immerhin ging die Rolle des Militärs als Hüter der Verfassung ja auf Atatürk zurück. Damit erreicht Erdogan, nach meiner Einschätzung, sein Ziel: sozusagen als der wahre Atatürk (“Vater des Türkentums”) sich zu inszenieren und zu erscheinen.

Wenn die Türken tatsächlich mehrheitlich einen neuen Sultan wollten, wäre dies nicht illegitim. Aber es ist auch nicht illegitim, wenn wir dies beurteilen und bewerten, denn: die Türkei ist unser Nachbar, und es kann uns nicht gleichgültig sein, mit wem wir es zu tun haben.

Letzte Bemerkung: das Referendum hält uns, der deutschen Gesellschaft oder besser gesagt: der Gesellschaft in Deutschland, allerdings einen Spiegel vor. Ich glaube, dass diejenigen Recht haben, die sagen: da ist einiges, nein: sehr vieles schiefgelaufen in Deutschland. Aber das ist ja auch nicht neu.

Mit freundlichen Grüßen
Alf Hammelrath


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