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Titel: Kein Zusammenhang zwischen Lohnnebenkosten für Gesundheit und der Entwicklung von Beschäftigung?

Datum: 29. Oktober 2004 um 15:22 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, „Lohnnebenkosten“, Gesundheitspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Eine aktuelle Untersuchung des Berliner Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) belegt, dass es „keinen Zusammenhang zwischen der Belastung der Arbeitgeber durch Gesundheitsausgaben und der Entwicklung der Beschäftigung (gibt) – weder in Deutschland noch im internationalen Vergleich“. Diese empirische Studie widerspricht einer der Grundannahmen im Katechismus der Systemüberwinder, nämlich dass die hohen Lohnnebenkosten das wichtigste Beschäftigungshemmnis seien und es deshalb „alternativlos“ sei, etwa die Beiträge für die Krankenversicherung durch Streichung von Leistungen oder durch Privatisierung der Kosten zu senken oder gar – wie CDU und auch CSU es vorhaben – die Gesundheitskosten gleich ganz von der paritätischen Finanzierung zu entkoppeln.

Es dürfe nicht ständig Politik auf der Basis von falschen Annahmen gemacht werden, sagte Professor Norbert Klusen, Vorsitzender des Vorstandes der Techniker Krankenkasse: „Immer wieder wird argumentiert, die Arbeitgeber seien durch Gesundheitsausgaben zu stark belastet und es müssten Leistungen aus der GKV gestrichen werden, damit mehr Beschäftigung entsteht. Im Interesse unserer 5,7 Millionen Versicherten wollten wir wissen, ob dies stimmt“.
Ein beim Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) und dem Augsburger BASYS-Institut in Auftrag gegebenes Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass kein Zusammenhang zwischen den Belastungen der Arbeitgeber durch Gesundheitsausgaben und der Beschäftigungsentwicklung besteht. (Vgl. www.tk-online.de unter der Rubrik Presse-Center)
Entgegen dem allgemeinen Lamento von Wirtschaft und Politik, dass angeblich die hohen Lohn-„Zusatz“-Kosten für Gesundheit die internationale Wettbewerbsfähigkeit gefährdeten, belegt die Untersuchung, dass beim Anteil der Arbeitgeber an den gesundheitsbedingten Kosten Deutschland unter den vergleichbaren Ländern „im Mittelfeld“ liege.

In der Studie wird argumentiert: „Etwa zehn Prozent der Arbeitskosten gehen auf Gesundheitsausgaben zurück. Gemessen an den Gesamtkosten der Unternehmen, also dem Produktionswert, liegt der Anteils sogar nur bei rund drei Prozent“. Zwischen 1995 und 2000 hätten alle Kostengrößen stärker zugenommen als die gesundheitsbedingten Belastungen der Arbeitgeber.
In einer Betrachtung einzelner Branchen wird dargestellt, dass etwa die gesundheitsbedingten Belastungen in der Textilindustrie zwischen 1995 und 2000 um 16,2% gesunken, die Beschäftigung aber keineswegs angestiegen sei, sondern um 26,8% abgenommen habe. Im Fahrzeugbau wiederum seien entsprechende Belastungen um stolze 31% gewachsen und dennoch sei die Beschäftigung um 18,3% gestiegen. Auch andere Branchen ließen keinen Zusammenhang zwischen gesundheitsbedingter Arbeitgeberbelastung und Beschäftigungsentwicklung erkennen.

Auch im Ausland lasse sich ein solcher Zusammenhang nicht feststellen. Im übrigen liege Deutschland bei den Gesundheitskosten der Arbeitgeber keineswegs – wie immer wieder behauptet wird – international an der Spitze, sondern allenfalls im Mittelfeld. Betrachte man den Anteil der Gesundheitskosten am Produktionswert, so liege Deutschland bei 3,2%, gleichauf – man höre und staune – mit den USA; Frankreich oder die Niederlande hätten sogar höhere Anteile.

Bezogen auf das Untersuchungsjahr 2000 läge die Entlastung der Arbeitgeber in der Endstufe der augenblicklich noch geltenden Gesundheits-„Reform“ im Jahre 2007 bei 8 Milliarden Euro.

Anmerkung:
Dieser Milliarden-Kapital-„Gewinn“ ließe sich natürlich trefflich in Billiglohnländern investieren und damit ließen sich weitere Arbeitsplätze aus Deutschland abziehen. Mit der weiteren Verlagerung von Arbeitsplätzen könnte man dann noch lauter lamentieren, dass die Lohnnebenkosten für die Gesundheit immer noch zu hoch seien. So ließe sich dann der Teufelskreis bis zur völligen Abschaffung der Arbeitgeberanteile an den Gesundheitskosten fortsetzen. Die Parole „Nach der Reform ist vor der Reform“ bestätigte sich immer wieder von selbst – egal ob jemals ein Zusammenhang zwischen der Belastung der Arbeitgeber durch Gesundheitskosten und der Beschäftigungsentwicklung belegt ist oder nicht.

Vielleicht folg ja diese Parole einer ganz anderen Logik. Könnte nicht der Zusammenhang zwischen der Verlagerung von Arbeitsplätzen und der Senkung der Gesundheitskosten für die Arbeitgeber gerade darin bestehen, dass jedenfalls die im internationalen Wettbewerb stehende Wirtschaft mit den durch die Kostensenkung erzielten zusätzlichen Gewinnen das nötige Kapital für Investitionen erwirtschaftet, für Investitionen aber leider nicht – wie unsere Reformprotagonisten erhoffen – bei uns, sondern in Niedriglohnländern?

Auflösung:
Diese These ist natürlich genau so wenig belegt wie die gängige Behauptung, die Senkung der Gesundheitskosten für die Arbeitgeber schaffe mehr Beschäftigung. Man sollte auch nicht so weit gehen, dass das jetzt von der Techniker Krankenkasse vorgelegte Gutachten der Weisheit letzter Schluss wäre.

Wie man zu der Studie auch stehen mag, ihre Aussagen sind jedenfalls empirisch besser begründet als die gebetsmühlenhafte Wiederholung der schlichten Behauptung, die Senkung der Lohnnebenkosten durch die Gesundheitsreform sei „alternativlos“ und „objektiv notwendig“, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen – wie wir das täglich aus Politik, Wirtschaft und Medien hören können.


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