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Titel: Abgas-Anarchie

Datum: 3. August 2017 um 11:19 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Lobbyismus und politische Korruption, Schadstoffe, Verkehrspolitik
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Das Ergebnis des mit großem Tamtam angekündigten „Diesel-Gipfels“ blieb sogar noch hinter den ohnehin schon sehr niedrig bemessenen Erwartungen zurück. Offensichtlich hat die Kungelei zwischen Automobilherstellern und Politik in der Dieselrepublik Deutschland bereits ein irreparables Maß angenommen. Die Kommentare der meisten Medien sind dementsprechend verheerend. Man muss sich zunächst einmal die ganz grundsätzlichen Fragen stellen, um die volle Tragweite dessen zu verstehen, was gestern in Berlin seinen vorläufigen Höhepunkt hatte. Vor den Augen der Öffentlichkeit haben Politik und Wirtschaft nicht nur dem Verbraucher, sondern auch dem Rechtsstaat den Stinkefinger gezeigt. Gesetze und EU-Verordnungen gelten offenbar nicht für Deutschlands Schlüsselindustrie. Wer so agiert, darf sich über die fortschreitende Politik- oder gar Systemverdrossenheit nicht beschweren. Doch Obacht – schmutzige Diesel sind beileibe kein rein deutsches Problem. Ausländische Hersteller machen sich einen schlanken Fuß. Das sollte man nicht aus dem Auge verlieren. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Was wir unter dem Begriff „Euro 5“ oder „Euro 6“ kennen, ist bürokratisch korrekt formuliert die „Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen“. Hinter diesem schaurigen Titel verbirgt sich ein ganzer Wust von Abgas-Grenzwerten, die PKW einhalten müssen, um in der EU eine Typgenehmigung zu bekommen. Autos ohne eine solche Typgenehmigung dürfen in der EU nicht zugelassen werden. National erteilt das Kraftfahrtbundesamt Typgenehmigungen, die dann auch ausdrücklich bescheinigen, dass die betreffenden Fahrzeuge die EU-Verordnungen erfüllen. Und hier fängt der eigentliche Skandal bereits an.

Breit angelegte Testreihen des Fachverbands ICCT hatten ergeben, dass die Stickoxid-Emissionen moderner Euro-6-Dieselfahrzeuge im Schnitt um den Faktor 7 über dem gesetzlichen Grenzwert liegen. 22 von 32 getesteten Modellen hätten demnach nie eine Typgenehmigung bekommen dürfen. Was in den deutschen Medien als „VW-Skandal“ die Runde machte und heute als „Kartell“ deutscher Hersteller verkürzt wird, war von Anfang an ein Problem der gesamten Branche.

Was folgte, war der erste handfeste Skandal. Anstatt den Herstellern ein Ultimatum zu stellen, definierte im Oktober 2015 ein Fachausschuss der EU einen „Konformitätsfaktor“. Ab September dieses Jahres gilt, dass Dieselfahrzeuge bei Typenzulassungen 110% mehr Stickoxide ausstoßen dürfen, als es die EU-Verordnung gestattet. Ab 2020 soll der Konformitätsfaktor gesenkt, dann dürfen Fahrzeuge noch 50% mehr Stickoxide ausstoßen als ursprünglich vorgesehen. De facto wurde also von der EU Euro 6 klammheimlich wieder abgeschafft – denn der Stickoxid-Grenzwert der nun gilt, liegt mit 168 mg/km NOX nur noch knapp unter dem alten Euro-5-Wert von 180 mg/km NOX aus dem Jahre 2009.

Doch dieses großzügige Entgegenkommen der Politik an die Automobillobby reicht noch nicht einmal im Ansatz, um die modernen Diesel-Fahrzeuge gemäß der EU-Verordnungen auf Europas Straßen zulassungsfähig zu machen. Testreihen des Umweltbundesamtes ergaben im April dieses Jahres, dass der reale Stickstoffdioxidausstoß der Dieselflotte stolze 767 mg/km NOX beträgt. Die getesteten Fahrzeuge mit Euro-6-Zulassung stießen im Schnitt 507 mg/km NOX aus. Das übertrifft nicht nur den bereits verwässerten Euro-6-Grenzwert um ein Vielfaches, sondern liegt sogar noch über dem höchsten jemals festgelegten Grenzwert von 500 mg/km NOX der Euro-3-Norm aus dem Jahre 2000! Und das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Die modernsten Diesel-Fahrzeuge auf Europas Straßen hätten bei sorgfältiger Prüfung im Jahre 2000 keine Zulassung bekommen, weil sie zu umweltschädlich sind.

An diesem extremen Widerspruch ändert auch der Minimalkonsens des gestrigen Diesel-Gipfel nichts. Es ist kaum anzunehmen, dass der von den Herstellern versprochene „Patch“ der Betriebssoftware überhaupt etwas bringt. Aber selbst die versprochene 25% bis 30% Reduktion der Stickoxide (NOX) ist ein schlechter Witz, wenn man sich die Daten des Umweltbundesamtes einmal anschaut. Ein Mercedes C 220 CDI (Euro 5) stieß im UBA-Test 990 mg/km NOX aus. Der BMW X3 xDrive 20d (Euro 6) gehörte schon zu den „Sauberen“ unter den Sündern, lag jedoch mit 383 mg/km NOX immer noch weit über den Grenzwerten. Noch nicht einmal beim „sauberen“ BMW reicht eine Reduktion von 30% auch nur im Ansatz, um die verwässerten gesetzlichen Grenzwerte einzuhalten.

Das Ergebnis des Diesel-Gipfels ist also eine staatlich tolerierte Anarchie. Gesetze, Verordnungen, Normen und Grenzwerte existieren zwar auf dem Papier, haben aber keine Bedeutung, wenn sie von industriell übergeordnetem Interesse sind. Die Gesundheit der Bürger ist ganz offensichtlich das unwichtigere Gut. Dieselrepublik Deutschland.

Es wäre aber auch falsch, die ganze Thematik auf Deutschland zu begrenzen. Richtig ist, dass das vom SPIEGEL aufgedeckte „Diesel-Kartell“ nur aus deutschen Premiumherstellern besteht – aber auch nur deshalb, weil ausländische Interessenten abgewiesen wurden. Der französische PSA-Konzern (Peugeot, Citroen, Opel) hätte beispielsweise gerne beim Kartell mitgemacht, wurde aber nicht hereingelassen. Der dreckigste Diesel des UBA-Tests ist beispielsweise ein Fiat Doblo (Euro 5), der mit 1.483 mg/km NOX den Grenzwert um mehr als das Achtfache reißt. Und auch der Kia Optima (Euro 5, 1.383 mg/km NOX), der Renault Grand Scénic (Euro 6, 937 mg/km NOX), der Mazda CX-5 (Euro 6, 498 mg/km NOX) und der Peugeot 508 (Euro 6, 469 mg/km NOX) zeigen, dass zu hohe Stickoxide beileibe kein rein deutsches Problem sind.

Bei all dem Trubel um VW, “Schummelsoftware”, Kartelle und Dieselgipfel geraten die ausländischen Hersteller gerne aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit. Das ist fatal. Egal, was man vom Diesel-Gipfel und den versprochenen Patches halten mag – Besitzer ausländischer Dreckschleudern gehen komplett leer aus und andere EU-Länder tun sich auch nicht eben mit progressiver Politik gegenüber der Automobilbranche hervor. Dreckige Diesel sind kein deutsches Problem, sondern ein Problem der gesamten Branche!

Das mickrige Ergebnis des Dieselgipfels wird von den meisten Medien als Erfolg der Automobilbranche interpretiert. Doch das ist falsch. Was die Hersteller errungen haben, ist bestenfalls ein Pyrrhussieg, der sich schnell zu einem Desaster entwickeln könnte. Zwei Risikofaktoren saßen nämlich gestern nicht mit am Tisch – die Gerichte und die EU-Kommission. Bereits in der Vergangenheit hat die EU-Kommission sich äußerst zerknirscht gezeigt, weil Deutschland die Abgasnormen einfach nicht ernst nimmt. Die nicht eben uninteressante Frage, welche Strafe denn nun den Herstellern droht, da sie sich nicht an die Abgasnormen halten, kann beispielsweise niemand beantworten. Warum? Weil Deutschland immer noch keine Strafen bei Verstößen gegen die Abgasnormen festgelegt hat, obgleich man dies laut EU-Regeln bereits 2009 hätte umsetzen müssen. Nun läuft ein Vertragsverletzungsverfahren. Sicher nicht das letzte. Sollte die EU es ernst meinen, würde am Ende des Weges eine Klage gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof stehen, die dann für die Bundesregierung bindend wäre.

Noch größere Gefahr droht jedoch aus den Städten. Das Stuttgarter Verwaltungsgericht hat klipp und klar entschieden, dass „Nachrüstungen“ für Dieselfahrzeuge keine Option sei, um Fahrverbote abzuwenden. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Politik aus dieser Sache noch mit industriefreundlichen Tricksereien herauskommt. Und spätestens wenn in Stuttgart, München, Hamburg und Berlin Diesel nicht mehr in die Innenstadt dürfen, ist der Diesel für den deutschen Markt de facto tot. Der Dieselgipfel war vielleicht eine der letzten Chancen für die Branche, dem angekündigten Desaster noch „proaktiv“ zu begegnen. Vielleicht haben die Hersteller nun aber ihr Blatt überreizt. Denn die Justiz dürften sie nicht so einfach über den Tisch ziehen wie die Politik.


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