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Titel: Warum spielt das Thema Armut im Wahlkampf eigentlich keine Rolle?

Datum: 18. September 2017 um 12:01 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich:

Jens Berger

Schon beim TV-Duell nahmen die AfD-Themen „Migration“, „Islam“ und „Terrorismus“ mehr als die Hälfte der gesamten Sendezeit ein. Für das Thema Armut waren da nur noch ein paar Nebensätze übrig. Dieses Missverhältnis lässt sich spiegelbildlich auf den gesamten Wahlkampf übertragen. Uns geht es doch gut … so könnte man meinen. Die offiziellen Zahlen zur Armutsgefährdung, die das Statistische Bundesamt Ende August veröffentlicht hat, sprechen da jedoch eine ganz andere Sprache. Während der gesamten Kanzlerschaft Merkels stieg die Armutsgefährdungsquote und liegt heute auf dem historisch höchsten Stand. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Thema weitestgehend ignoriert wird. Kann es sein, dass es den Eliten sehr gelegen kommt, dass Deutschland sich lieber über Flüchtlinge und Kopftücher aufregt als über die allgegenwärtige Armut? Denn so muss man wenigstens nichts ändern. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

2006, im ersten Jahr der Merkel-Kanzlerschaft, betrug die offizielle Armutsgefährdungsquote 14,0%. Seitdem stieg sie Jahr für Jahr stetig an und beträgt nun 15,7%. Besonders armutsgefährdet sind Alleinerziehende und Personen mit niedrigem Ausbildungsniveau. Bemerkenswert ist hier vor allem, dass die Armut in diesen Problemgruppen während der Merkel-Jahre nicht etwa ab-, sondern ganz im Gegenteil besonders stark zugenommen hat. So stieg die Quote bei den Alleinerziehenden von 37,0% auf 43,6% und bei den Personen mit niedrigem Bildungsabschluss von 32,0% auf 40,2%.

Eine besondere Rolle nehmen hier übrigens die Rentner und Pensionäre ein, die erst seit 2014 überhaupt zur Problemgruppe gehören. Bei ihnen ist die Armutsgefährdungsquote von 10,3% im Jahr 2006 um ganze 50% auf heute 15,9% gestiegen. Waren Bezieher von Renten und Pensionen 2006 noch deutlich geringer von Armut bedroht als der Rest der Bevölkerung, sind sie heute überdurchschnittlich häufig von Armut bedroht. Auch dies ist eine der Schattenseiten der Merkel-Ära.

Heute ist Deutschland – mit Ausnahme von Polen – von Völkern umringt, die teils deutlich weniger armutsgefährdet sind. Diese Entwicklung ist im Kern schon lange im Gange. Seit 1973 steigt die Armut in Deutschland. Seit Verabschiedung der Agenda 2010 und den letzten Rentenkürzungen hat die Steigerung der Armut jedoch erheblich zugenommen. Es mag ja sein, dass es Angela Merkel und den Journalisten, die immer und immer wieder repetieren, dass es uns doch so gut ginge, wirklich gut geht – für einen immer größeren Teil der Bevölkerung trifft dies jedoch nicht zu. Und das ist kein subjektiver Wahlkampfslogan, sondern objektive Realität – basierend auf dem Mikrozensus, zertifiziert vom Statistischen Bundesamt.

Gründe für die Entwicklung gibt es viele. Die Folgen der Agenda und die Rentenkürzungen sind da nur die Spitze des Eisbergs. Vor allem die viel zu geringen Lohnsteigerungen im unteren und mittleren Einkommensspektrum sind maßgeblich verantwortlich. Streichungen von Sozialleistungen und die Verschlechterung der beruflichen Fort- und Weiterbildung tun ihr übriges. Im Großen und Ganzen geht es daher um die auf den NachDenkSeiten schon häufig thematisierte Umverteilung von unten nach oben, deren Folgen immer offensichtlicher werden.

Wie kann es sein, dass dieses elementar wichtige Thema im Wahlkampf nahezu keine Rolle spielt? Die Antworten dürften kaum überraschen:

  • Die Analyse wird von den großen Parteien und den reichweitenstarken Medien noch nicht einmal geteilt. Wenn man ein Problem nicht sieht, kann man auch nicht darüber diskutieren.
  • Es gibt bei diesem Thema zwischen den beiden großen Parteien keine großen Unterschiede.
  • Parteien, die den Eliten in den Medienhäusern und Sendeanstalten nahestehen, können bei diesem Thema nichts gewinnen. Daher spricht man das Thema „Armut“ lieber gar nicht an.
  • Soziale Themen passen nicht in unsere Glanz-und-Gloria-Medienwelt; sie sind nicht sexy und es geht um Gruppen, die ohnehin für die Werbewirtschaft nicht sonderlich relevant sind. Werbung für neue SUVs passt halt schlecht ins redaktionelle Umfeld von armen Rentnern, Hilfsarbeitern und Alleinerziehenden.
  • Das Thema ist zwar nicht überkomplex, bietet sich aber auch nicht für stark vereinfachte Antworte á la „Ausländer raus“ oder „Grenzen dicht“ an.
  • Das Thema ist nicht im Interesse derer, die von der Umverteilung von unten nach oben profitieren.

Zugespitzt könnte man sagen: Die Folgen der Armut merkt man im Speckgürtel oder in der feinen Elbchaussee nun mal nicht, Schlagzeilen und Talkshowthemen werden jedoch nicht in den Plattenbausiedlungen der Trabantenstädte gemacht. Das Sein bestimmt nun einmal das Bewusstsein und in der ökonomischen Belle Etage sind arbeitgebernahe Positionen weit verbreitet. Wenn die Antwort auf die steigende Armut eine Umkehr der Vermögensumverteilung ist und künftig von oben nach unten umverteilt werden soll, ist das nicht im Eigeninteresse der Medienmacher, Werbetreibenden und sonstigen Verantwortlichen im Mediensystem. Und die Öffentlich-Rechtlichen? Dort bestimmt bekanntermaßen das Parteibuch über das berufliche Weiterkommen und die Fokussierung auf ein Thema, das beiden großen Parteien nicht gelegen kommt, ist da sicher nicht unbedingt hilfreich.

Bei den AfD-Themen sieht das ganz anders aus. Im Mittelmeer ertrinkende Afrikaner, brennende Flüchtlingsheime und Burkas bringen Quote, ziehen auch Konsumenten an, die für die Werbewirtschaft interessant sind und bieten eine herrliche Projektionsfläche für unsere Weltvereinfacher. Wichtiger ist jedoch: Wenn Kevin aus Mümmelmannsberg in seinem Nachbar Mustafa den „wahren Feind sieht“, kann der Verleger aus Blankenese ruhig schlafen. Und wenn der Grundsicherungsrentner aus Pirna vor allem Angst vor der Islamisierung der Sächsischen Schweiz hat, muss sich der Talkshow-Moderater keine Sorgen machen, dass er künftig höhere Abgaben oder Steuern zahlen muss. Nein – so lange der Michel sich ins Bockshorn jagen lässt, ändert sich an den Zuständen nicht viel. Teile und herrsche – dieses alte Herrschaftsprinzip ist auch heute noch sehr beliebt. Hoffen wir nur, dass Goethes Zauberlehrling auch in den Chefetagen der Medienhäuser bekannt ist.


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