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Titel: Das Grundeinkommen ist kein „No-Brainer“

Datum: 5. Januar 2018 um 13:08 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Grundeinkommen, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Ich schätze ja sowohl Tilo Jung als auch Fefe ungemein. Umso mehr war ich dann doch verwundert, dass beide in einem ansonsten auch sehr interessanten Interview am Rande des letzten CCC in Leipzig das bedingungslose Grundeinkommen derart unkritisch betrachteten. Fefe rang sich sogar zu der Aussage durch, das Grundeinkommen sei doch eigentlich ein „No-Brainer“. Nun beschäftigen wir von den NachDenkSeiten uns ja schon länger kritisch mit dem Thema und wissen, dass dies keineswegs der Fall ist und auch prominente Ökonomen wie Heiner Flassbeck oder der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge lehnen ein Grundeinkommen kategorisch ab. Thilo und Fefe sind ja auch keine Einzelfälle. Immer wieder trifft man auf jüngere, meist technikaffine Menschen, die ähnlich denken und das Grundeinkommen als alternativlos betrachten. Vielleicht ist es Zeit, die Debatte kritisch neu zu beleben? Denn ein „No-Brainer“ ist das Grundeinkommen ganz sicher nicht. Von Jens Berger

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die „Modellfrage“ – mehr als eine Petitesse

Wenn zwei Experten über das Grundeinkommen sprechen, meinen sie oft drei verschiedene Modelle. Dabei ist Grundeinkommen beileibe nicht gleich Grundeinkommen. Das „Liberale Bürgergeld“ der FDP ist beispielsweise nicht bedingungslos, da es sich nur an Bedürftige richtet, das „Solidarische Bürgergeld“, das u.a. vom Ökonomen Straubhaar und vom CDU-Politiker Althaus vertreten wird, ist eher die maskierte Einführung des Kombilohn-Modells, bei dem Arbeitgeber Lohnzuschüsse für Angestellte im Niedriglohnbereich bekommen sollen. Von den bekannteren Modellen erfüllen vor allem das Modell des Drogerie-Unternehmers Götz Werner und das Modell des „emanzipatorischen Grundeinkommens“, das in Teilen der Linkspartei Freunde hat [*], die gesetzten Definitionen. Danach muss ein bedingungsloses Grundeinkommen allgemein und bedingungslos sein, also jedermann ohne Beleg der Bedürftigkeit zustehen, und dabei eine Höhe haben, die ausreicht, um die grundsätzlichen Lebenshaltungskosten ohne zusätzliche Einkommen zu bestreiten.

Große Unterschiede gibt es vor allem bei der Finanzierung. Das Werner-Modell setzt beispielsweise auf eine komplette Umgestaltung des Steuersystems hin zu einer massiv erhöhten Konsumsteuer und das emanzipatorische Grundeinkommen soll sich vor allem über höhere Einkommenssteuern tragen. Nicht minder klein sind die Differenzen bei der Frage, welche Sozialsysteme wie durch ein Grundeinkommen ersetzt werden sollen. Das Werner-Modell will sämtliche Sozialsysteme bis hin zur Rentenversicherung und Krankenversicherung abschaffen, während das emanzipatorische Grundeinkommen eine solidarische Bürgerversicherung vorsieht, die neben dem Grundeinkommen existieren soll und zumindest gedanklich die alten Sozialsysteme weiterführt. Klar, dass sich hier vor allem die Finanzierungsfrage stellt.

Und als sei dies noch nicht kompliziert genug, gibt es auch innerhalb der jeweiligen Modelle noch teils diametrale Unterschiede. Sollen nur Erwachsene ein Grundeinkommen beziehen? Bekommen es nur deutsche Staatsbürger oder alle Bewohner Deutschlands? Und wie verträgt sich dies mit der Forderung nach offenen Grenzen? Ist ein Grundeinkommen regional, national oder nur global umsetzbar? Und auch bei grundsätzlichen Fragen der Besteuerung und des Umgangs mit grenzüberschreitendem Handel gibt es einen ganzen Strauß an Positionen. Es gibt also nicht „das Grundeinkommen“, sondern unzählige Ansätze, die teils grundverschieden sind. Allein daher kann „das Grundeinkommen“ schon kein „No-Brainer“ sein.

Das Robin-Hood-Prinzip

Traditionell kommt die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens aus der neoliberalen Ecke. So war es Milton Friedman, der in den 1960ern mit seiner „negativen Einkommenssteuer“ das Grundeinkommen populär machte – „erfunden“ wurde dieses Konzept zwei Jahrzehnte vorher von der nationalliberalen Politikerin Juliet Rhys-Williams, die damit die Sozialversicherung der Labour Partei torpedieren wollte. Damals wie heute ist das BGE vor allem ein Konzept der wirtschaftsliberalen Kreise. Dass das BGE überhaupt einige Anhänger aus dem linken Lager hat, ist wohl der Vorstellung zu verdanken, dass das BGE von „denen da oben“ finanziert werden könnte. Doch so einfach ist das nicht. Laut Einkommensteuerstatistik gibt es in Deutschland 1,27 Mio. Haushalte mit Brutto-Einkünften von mehr als 100.000 Euro pro Jahr. Zusammengenommen erzielen diese Haushalte Einkünfte in Höhe von 270 Mrd. Euro pro Jahr. Selbst wenn man diesen Haushalten jeden Euro, der über ein Haushaltsnettoeinkommen von 70.000 Euro hinausgeht, mit 100% besteuern würde, käme man „lediglich“ auf 181 Mrd. Euro Steuereinnahmen – 127 Mrd. Euro mehr als heute. Wenn man nicht ganz so radikal vorgeht und durch Steuererhöhungen die Einkommensteuerbelastung dieser Besserverdiener verdoppeln würde, käme man auf Zusatzeinnahmen in Höhe von 54 Mrd. Euro. Eine stärkere Besteuerung von Vermögen würden zusätzlich je nach Schätzung zwischen 10 und 25 Mrd. Euro in die Kassen spülen.

Selbst bei einer kräftigen Mehrbelastung der einkommens- und finanzstarken Haushalte käme man demnach „nur“ auf mögliche Mehreinnahmen im Bereich von rund 100 Mrd. Euro. Das ist sehr viel Geld, aber nur – je nach Modell – ein Siebentel bis ein Zehntel des Finanzierungsbedarfs eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Vorstellung, man könnte ein BGE ausschließlich „von denen da oben“ finanzieren lassen, ist nicht haltbar. Bei der gesamten Debatte sollte man sich also darüber im Klaren sein, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen hauptsächlich von der normalen Bevölkerung finanziert werden muss. Kein Robin Hood, so schön das auch wäre.

Die Idee ist ja sympathisch

Dass vor allem jüngere Freiberufler von der Idee eines Grundeinkommens begeistert sind, ist ja durchaus verständlich. Gerade im kreativen Bereich reichen die mageren Honorare kaum zum Überleben, die Auftragssituation ist eher bescheiden und der „Luxus“ der gesetzlichen Sozialsysteme ist vielen Kleinunternehmern und Freiberuflern ohnehin fremd. Über das „Hartz-IV-System“ ist es zwar möglich, als sogenannter Aufstocker Zuschüsse zu bekommen. Aber dann muss man sich auch komplett blank machen, die Ämter pausen- und lückenlos über jeden Zuverdienst und jede kleine Änderung informieren und ist zudem einem System ausgesetzt, das Sanktionen verhängt, wenn man unsinnige Arbeitsangebote ablehnt. Die Vorstellung, alternativ ohne Stress und ohne Rennerei zu den verschiedenen Ämtern einen ordentlichen Sockelbetrag überwiesen zu bekommen, den man dann durch die freiberufliche Tätigkeit ausbauen kann, ist verständlicherweise verlockend.

Aber das ist doch einfacher zu haben. Wenn es durch mein Dach tropft, dann rufe ich doch auch erst einmal den Dachdecker und plane nicht gleich den Komplettabriss. Ein simpler Wegfall der Sanktionen des SGB II, eine Bürgerversicherung mit Steuersubventionen für Geringverdiener und eine Neuregelung der Aufstockerpraxis würde für die gestressten prekären Kreativen doch genau die gleichen Effekte haben. Warum sollte man eine gigantische Umverteilungsmaschinerie in Gang setzen, wenn es kleine, überlegte Eingriffe in ein sehr gut funktionierendes System auch tun? Das sind doch die sprichwörtlichen Kanonen, mit denen man auf Spatzen schießt. Aber was genau spricht eigentlich gegen ein Grundeinkommen?

Eine Überschlagsrechnung und die gerne vergessenen „Zweitrundeneffekte“

Abseits der soziologischen Betrachtungen stellt die Finanzierbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens allen Modelldebatten zum Trotz den Knackpunkt bei der Frage der Realisierbarkeit eines Grundeinkommens dar. Hier zeigt bereits eine simple Überschlagsrechnung, bei der die Quelle und Art und Weise der Besteuerung erst einmal herausgelassen wird, von welchen Größenordnungen wir überhaupt sprechen. Deutschland hat etwas über 82 Millionen Einwohner, davon rund 69 Millionen Erwachsene. Wollte man jedem Erwachsenen ein niedrig bemessenes Grundeinkommen von 1.000 Euro pro Monat auszahlen, müssten jährlich 828 Milliarden Euro umverteilt werden. Das entspricht mehr als der Hälfte des Arbeitnehmerentgelts, also der Summe der gesamten Bruttolohneinkünfte plus Sozialabgaben. Nun sagen Befürworter des Grundeinkommens, dass ein normaler Arbeitnehmer ja auch heute schon inklusive der Sozialabgaben die Hälfte seines Bruttoeinkommens in ein Umverteilungssystem einzahlt und man die Bezüge aus dem Grundeinkommen dem gegenüberstellen müsse. Das ist jedoch bereits im Kern falsch, da nur Vollzeitbeschäftigte mit einem akzeptablen Lohn derartige Abzüge haben. Beim einem Durchschnittshaushalt beträgt die Differenz zwischen Brutto und Netto vielmehr weniger als ein Viertel.

Anhänger des BGE erzählen auch gerne, dass bereits heute rund ein Drittel der Wirtschaftsleistung in Sozialtransfers geht und diese Summe in toto dem Finanzierungsbedarf entspricht. Doch das ist nur eine sehr oberflächliche Betrachtung, die unterschlägt, für was die heutigen „Sozialausgaben“ konkret ausgegeben werden. Bei fast allen BGE-Modellen wird vorausgesetzt, dass die BGE-Leistungen selbst nicht mehr versteuert werden müssen oder durch massiv erhöhte indirekte Steuern die Kaufkraft nennenswert geschmälert wird.

Wie ist es heute? Lehrer, die mit Steuergeldern bezahlt werden, zahlen Steuern. Renten sind steuerpflichtig. Ausgaben für Kindergärten, Schulen, Fortbildung, Alten- und Krankenpflege und das gesamte Gesundheitssystem produzieren direkt oder indirekt Steuereinnahmen. So fließt ein gehöriger Teil der „Sozialausgaben“ wieder direkt und indirekt in den Staatshaushalt zurück. Will man die BGE-Leistungen komplett steuerfrei stellen, entsteht dadurch auf der Einnahmenseite eine ganz erhebliche Lücke, die durch höhere Steuern und Abgaben geschlossen werden müsste. Es ist also nicht richtig, dass eine simple Umverteilung der Zahlungsströme keine Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit hätte. Ökonomen sprechen hier gerne von „Zweitrundeneffekten“.

Prognosen, Rechenmodelle und seriöse Zahlen sind kaum möglich

Die Minderung der Steuereinnahmen ist dabei jedoch auch nur ein Faktor von vielen. Wie entwickeln sich beispielsweise die Löhne? Wie die Preise? Angebot und Nachfrage geraten ja sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch auf den Märkten für Güter und Dienstleistungen kräftig durcheinander. Wenn die Menschen plötzlich mehr Geld in der Tasche haben, steigen selbstverständlich auch die Preise. Auf der anderen Seite hat die Finanzierungslücke einen weiteren Einfluss auf diese Mechanismen. Schließt man sie durch Steuern auf Einkommen, sinkt die Kaufkraft, besteuert man (Stichwort „Maschinensteuer“) die Produktion, steigen die Kosten und damit die Preise, was zu sinkender Kaufkraft führt und erhöht man last but not least die indirekten, also die Konsumsteuern, sinkt natürlich ebenfalls die Kaufkraft. 1.000 Euro BGE sind also nicht vergleichbar mit 1.000 Euro Kaufkraft vor Einführung des BGE.

Fefe weist im Interview mit Tilo Jung darauf hin, dass er gerne mal Untersuchungen und Studien sehen würde, die schwarz auf weiß wissenschaftlich haltbare Prognosen liefern, welche Folgen die Einführung eines BGE hätte. Nun ist es aber leider so, dass ökonomische Prognosen hochkomplexe Modellrechnungen sind, die selbst unter konstanten Rahmenbedingungen höchst ungenau sind, wie die stets danebenliegenden Wachstumsprognosen des Sachverständigenrates der Bundesregierung ja hervorragend belegen. Prognosen, die derart massive Änderungen an den Rahmenbedingungen und komplexe Zweitrundeneffekte verarbeiten müssen, sind wohl schlicht nicht möglich. Und die Realität ist ja noch viel komplizierter. Welchen Einfluss haben höhere Einkommenssteuern? Was würde eine „Maschinensteuer“ auslösen? Welchen Einfluss haben höhere Konsumsteuern? Vor allem das Werner-Modell mit seiner 50%-Mehrwertsteuer wäre beispielsweise de facto ein sehr massiver Eingriff in das Wirtschaftssystem, der unter anderem die Kaufkraft radikal senken würde. Was nutzen Ihnen 1.000 Euro, wenn alle Güter 50% teurer werden und Sie dazu auch noch rund 200 Euro in eine Krankenversicherung einzahlen müssen? Welchen Effekt hat eine derart hohe Konsumbesteuerung auf unser Wirtschaftssystem? Wie entwickelt sich die Beschäftigung? All dies seriös zu projizieren ist wohl unmöglich.

Nur werden einige Anhänger des BGE sagen, es gäbe doch regionale Feldversuche, mit denen Forscher die Folgen eines Grundeinkommens empirisch überprüfen. Ja und nein. Es gibt zahlreiche Feldversuche, aber deren Aussagekraft ist eher bescheiden. Was man mit solchen Versuchen testen kann, sind Teilaspekte. In Finnland hat man beispielsweise in einem regionalen Feldversuch überprüft, wie sich ein Grundeinkommen für Langzeitarbeitslose auf deren Vermittlungsquote im Arbeitsmarkt auswirkt. Dies ist sicher für die Forscher interessant, hat aber gar nichts mit einem Grundeinkommen zu tun, da nur eine bestimmte Probandengruppe diese Leistungen bekommt, die übrigen Sozialsysteme weitergeführt werden und eine derart kleine regionale Stichprobe natürlich keine Zweitrundeneffekte auslöst. Selbstverständlich hat man keinem finnischen Probanden die Krankenversicherung gestrichen und seine Kinder aus der Kita oder der Schule geschmissen. Und die BGE-Empfänger mussten im Supermarkt auch keine höhere Mehrwertsteuer zahlen. Dass ein Feldversuch, bei dem nur die Schokoladenseite des BGE untersucht wird, auch süße Ergebnisse liefert, ist klar.

Der Wegfall der alten Sozialsysteme ist definitiv ein „Brainer“

Aber auch abseits der rein fiskalischen Argumente ist der Gedanke falsch, man lenke hier im Endeffekt nur einige Finanzströme um und es gäbe keine Verlierer. Denn unter die heutigen Sozialausgaben fallen ja auch Leistungen, die kaum ein BGE-Anhänger streichen will, wie z.B. die Kosten für Kinderbetreuung, die Schulen und Universitäten, aber auch einige Zuschüsse und Subventionen, die gerne bei solchen Gedankenspielen vergessen werden.

Wie sieht es beispielsweise mit der Krankenversicherung aus? Gerade die jüngeren urbanen und technikaffinen Freunde eines Grundeinkommens gehören ja oft zu den Profiteuren der Steuerzuschüsse für die Krankenversicherung, die sich auch in den „monetären Sozialleistungen“ verbergen. Würde man diese Mittel streichen, müssten auch junge Kreative sich selbst krankenversichern. Und da ja durch Umstellung der Sozialsysteme auf ein einziges BGE dann auch sämtliche Zuschüsse zur Krankenversicherung wegfallen, kann man hier schon einen realistischen Betrag von 200 Euro pro Monat als Zusatzkosten verbuchen. Die 1.000 Euro BGE schrumpfen also schon einmal auf 800 Euro. Und wenn man das nun einmal böse zu Ende denkt, kann man zugespitzt auch die größte denkbare Verliererin eines BGE präsentieren: Eine alleinerziehende Studentin, die für sich und ihr Kind nun volle Krankenversicherungsbeiträge, die immensen Kosten für eine unsubventionierte Kita und die Kosten für eine komplett private, staatlich nicht mehr bezuschusste Hochschule bezahlen muss. Ach ja – Bafög-Leistungen, Kinder- und Wohngeld fallen natürlich auch weg, da die ja durch das BGE ersetzt wurden. Es sind paradoxerweise genau diejenigen, die vordergründig stets als Musterexemplare für die Einführung eines BGE herausgesucht werden, die de facto die eigentlichen Verlierer einer solchen Reform wären.

Gerade das von BGE-Anhängern immer gerne als progressiv bezeichnete Finnland bietet hier ein informatives Gegenbeispiel. Bekanntlich haben die Finnen ein sehr vorbildliches Kita- und Schulsystem, das jedoch aufgrund der gebotenen Qualität auch ungemein teuer ist. So kostet ein normaler Kita-Platz in Helsinki schon mal 1.300 Euro pro Monat, wobei dank sozialstaatlicher Regulierung die Obergrenze für private Zuzahlungen bei 283 Euro pro Monat liegt. Bei den Schulen sieht es vergleichbar aus. Hinzu kommt, dass sowohl Arbeitslose als auch Haushalte mit niedrigen Einkommen in den Metropolregionen, in denen jeder dritte Finne lebt, ein Anrecht auf Wohngeld haben. Da ist es durchaus verständlich, dass sehr viele Finnen sich kein BGE herbeisehnen, bei dem all diese Leistungen und Zuschüsse wegfallen würden.

Auch hier gilt, dass nur Reiche von einer Abschaffung des Sozialstaates profitieren. Wer heute schon privat versichert ist, für seine Altersvorsorge nicht auf das gesetzliche Rentensystem angewiesen ist, für seine Kinder ein eigenes Kindermädchen hat und sie später auf eine Privatschule und dann auf eine Privat-Uni schickt, hat durch den Wegfall der Sozialsysteme keine direkten Nachteile. Diese Bürger können sich dann sogar ehrlich über die Leistungen aus dem BGE freuen. Doch gerade sie haben diese Zuschüsse doch eigentlich gar nicht nötig. Diejenigen, die sie nötig haben, gehören jedoch zu den großen Verlierern, da sie am stärksten unter den Streichungen des Sozialsystems leiden. Unser Sozialsystem ist ja eben keine Gießkanne, sondern verteilt nach Bedarf um. Klar, dass die Bedürftigen unter den Streichungen leiden. Man ersetzt also de facto das Bedarfsprinzip durch eine Gießkanne.

Abgesehen davon müsste man wohl das Grundgesetz und dabei sogar den Artikel 20 mit Ewigkeitsgarantie abschaffen. Denn eine Abschaffung des Sozialstaates ist mit der Feststellung, dass „die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat [ist]“, schlicht unvereinbar. Und es geht ja noch weiter. Mit welcher juristischen Begründung will man dem Menschen die erworbenen Anwartschaften im Rentensystem einfach streichen? Ein Verbleib in der EU ist dann übrigens auch nicht mehr möglich, da es nur sehr schwer vorstellbar ist, dass man die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit und den freien Warenverkehr unter diesen Bedingungen aufrechterhalten kann.

Der feuchte Traum des Neoliberalismus

Der massive Eingriff und modellbedingt sogar die Abschaffung der Sozialsysteme sind natürlich keine sozialdemokratischen oder gar linken, sondern originär neoliberale Forderungen. Mich erstaunt es daher auch, mit welcher Arglosigkeit einige linke Politiker dieses Danaergeschenk in die linke Politik schieben. Denn schlussendlich erfüllt das BGE doch die Anforderungen, die man von progressiver Seite aus formulieren könnte, doch nicht einmal im Ansatz. Entweder es ist zu niedrig, um trotz Wegfalls der Sozialsysteme und der staatlichen Subventionen ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, oder man setzt die Höhe des BGE-Satzes derart absurd hoch an, dass die Sache komplett unfinanzierbar ist. Das hat auch nichts mit Produktivität oder Digitalisierungs- bzw. Rationalisierungsdividende zu tun, sondern der Knackpunkt ist ein ganz anderer: Ein Grundeinkommen, das sowohl allgemein als auch bedingungslos, also wirklich für jedermann ist, ist kontraproduktiv, da die allermeisten Menschen bei einem Ersatz des heutigen Sozialsystems durch einen Pauschbetrag nicht besser, sondern viel schlechter gestellt werden. Und dies um so stärker, je ökonomisch schwächer sie sind. Und das ist doch ganz sicher kein „No-Brainer“. Oder?

[«*] Der wohl bekannteste deutsche Aktivist in Sachen Grundeinkommen ist Ronald Blaschke, der seit 2005 als wissenschaftlicher Mitarbeiter von der Linken-Parteichefin Katja Kipping beschäftigt wird, die ebenfalls als Anhängerin eines Grundeinkommens bekannt ist.


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