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Titel: Was Köhler vergessen hat

Datum: 17. März 2005 um 18:03 Uhr
Rubrik: Bundespräsident, Rente, Sozialstaat
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Die Köhler-Rede wird uns noch ein bisschen beschäftigen. Aus meiner Sicht zeigt sie ein bedenkliches Maß an Verlogenheit und auch Flucht aus der Verantwortung. Köhler flieht aus seiner Mitverantwortung dadurch, dass er bewährte und durch das Grundgesetz garantierte Errungenschaften wie die Sozialstaatlichkeit unseres Landes für die heutigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verantwortlich macht. Das ist – alltagssprachlich ausgedrückt – eine miese Tour. Wie sehr Horst Köhler in die heutige Misere verwoben ist, zeigen die folgenden Anmerkungen eines unserer Leser.

„Damals”, sagt Bundespräsident Horst Köhler, „galt in der Bundesrepublik eine Ordnung , die Leistung ermutigte und sozialen Fortschritt brachte”. Und er fährt fort: „Diese Ordnung, ist im Niedergang, weil immer neue Eingriffe sie schleichend zersetzt haben, selbst wenn sie gut gemeint waren”.

Wenn es um „Eingriffe” geht, die „schleichend zersetzt haben”, hat auch Horst Köhler bei entscheidenden Weichenstellung der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Richtung „Niedergang” den Komplizen gespielt.

Wenn er heute als oberster Schulmeister der Nation unter Hinweis auf die „zu hohen Lohnnebenkosten” empfiehlt, zur Senkung der Sozialbeiträge „die Kosten der sozialen Sicherung völlig vom Arbeitsverhältnis abzukoppeln” muss sich Horst Köhler bei aller Achtung vor dem höchsten Amt im Staate an das eigene Wirken und Handeln – auch seine Fehler und Sündenfälle – erinnern lassen.

Der Bundespräsident, der heute die Kosten der sozialen Sicherung völlig vom Arbeitsverhältnis abkoppeln will, muss sich fragen lassen:

  • Warum haben Sie damals, als es um die Entscheidungen über die Finanzierung der deutschen Einheit ging, als Finanzstaatssekretär von Theo Waigel den „Eingriff” in die westdeutschen beitragsfinanzierten Renten- Krankenkassen- und Arbeitslosenversicherungskassen gutgeheißen?
  • Warum haben Sie nicht jene unterstützt, die selbst in ihrer eigenen Partei, der CDU, die damals richtig und weitblickend argumentierten: die Schließung der Beitragslücke, die durch die Aufnahme der ostdeutschen Brüder und Schwester in den sozialen Sicherungssystemen aufgerissen wird, ist eine nationale Aufgabe des vereinten Deutschlands und muss von allen Steuerzahlern getragen werden – auch wenn das politisch auf manchen Widerstand mächtiger Interessen stößt.

Es gibt nach Ansicht hochkarätiger deutscher und internationaler Ökonomen kaum eine Fehlentscheidung nach dem Fall der Berliner Mauer, die in den nachfolgenden eineinhalb Jahrzehnten im vereinten Deutschland so großen volkswirtschaftlichen Schaden angerichtet hat wie die damals von den Verantwortlichen in Bonn betriebene „Plünderung” der beitragsfinanzierten Systeme der sozialen Sicherung. Diese Systeme sind ein Kernstück des deutschen Sozialstaats und wurden über Jahrzehnte von westdeutschen Arbeitnehmern und Arbeitgebern durch ihre Beiträge aufgebaut. Wohlgemerkt wurden jene für Millionen von Beitragspflichtigen folgenschweren “Eingriffe” in ihre Anwartschaftsrechte Anfang der 1990er Jahre von Politikern und Ministerialbeamten wie Köhler gemacht, die sich um ihre Alterssicherung dank hoher Übergangsgelder und hoher staatlicher Pensionen keine Sorgen machen brauchten.

Hätte der Bundespräsident in seiner Rede eine gründlichen Analyse der wirklichen Ursachen für die hohen Lohnnebenkosten in der deutschen Wirtschaft geliefert, hätte er die folgenschweren falschen Weichenstellungen bei der Finanzierung der deutschen Einheit nicht verschweigen dürfen. Das schadet seiner Glaubwürdigkeit.

Eigentlich hätte Köhler als jemand, der über dem Parteiengezänk die Zukunft des Landes im Auge haben sollte, die ganze Wahrheit sagen sollen. Das jedoch könnte für den früheren Finanzstaatssekretär und Kohl-Berater peinlich werden: Weil die Regierung Kohl damals – mit Köhlers Hilfe – den politisch einfacheren Weg der Plünderung der Beitragssysteme ging, ist nach den Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) beispielsweise in den Jahren 1991 bis 1997 in der Rentenversicherung durch Auszahlungen an Bürger in den neuen Bundesländern eine Unterdeckung von 75 Milliarden DM entstanden. Hätten westdeutsche Beitragszahler – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – in den obengenannten Jahren nicht Renten für ihre ostdeutschen Brüder und Schwestern mit finanzieren müssen, so die Rechnung des DIW, hätten die Rentenversicherungsträger in jedem Jahr, also von 1991 bis 1997, bei gegebenen Beitragssätzen und Beschäftigungsentwicklung einen Überschuss erzielt. Damals zog das DIW den denkwürdigen Schluss: „In keiner Versicherung ist es möglich, nach Eintritt des Schadens Mitglied einer Schadensgemeinschaft zu werden. Genau das ist der Sozialversicherung nach der Vereinigung zugemutet worden und hat sie in finanzielle Engpässe gebracht. Das System der sozialen Absicherung deshalb in Frage zu stellen, stellt den Sachverhalt auf den Kopf”.

Köhlers Amtsnachfolger konnten nach seinem Ausscheiden im Jahre 1993 den „Niedergang” der beitragsbasierten Rentenversicherung begleiten. Die Vermögensreserve der Rentenversicherung wurde in den Jahren 1992 bis 1996 von immerhin noch 50 Milliarden DM auf unter 20 Milliarden DM abgebaut, um auch den ostdeutschen Bürgern ohne entsprechende Beitragszahlungen ihre Renten auszuzahlen. „Ohne Transfers (in die neuen Bundesländer) hätte Westdeutschland eine Schwankungsreserve in Höhe einer vierfachen Monatsausgabe angespart. Mit diesem Polster hätte Anfang 1997 keine Notwendigkeit bestanden, die Beitragssätze anzuheben”, schrieb das DIW.

Auch die Arbeitslosenversicherung in Westdeutschland, so die damalige DIW-Zwischenbilanz, wies trotz hoher Arbeitslosigkeit seit 1991 hohe Überschüsse aus. Selbst 1997 übertrafen die Einnahmen die Ausgaben um jeweils 10 Milliarden DM. Von 1991 bis 1997 häuften sich die Nürnberger Überschüsse auf 116 Milliarden DM an. Nach der Differenzierung von Einnahmen und Ausgaben nach alten und neuen Bundesländern kommt das DIW zum Schluss, „dass auch die Defizite der (damaligen) Bundesanstalt für Arbeit vor allem durch die Vereinigungsfolgen bestimmt waren und nicht durch grundsätzliche Schwächen des Sozialversicherungssystems”.

Seither hat sich der vom Bundespräsidenten angesprochene „Niedergang” in den Systemen der sozialen Sicherung – unter den weiterhin hohen Transferlasten von West nach Ost – fortgesetzt. Neuere Studien setzen den einheitsbedingten jährlichen Transfer von West nach Ost in allen Systemen sozialer Sicherheit – Renten- Arbeitslosenversicherung und Krankenkassen – mit 20 Milliarden Euro bis 30 Milliarden Euro an.

Doch es ist eine Zumutung für Millionen durch den Transfer der letzten eineinhalb Jahrzehnte in ihren künftigen Ansprüchen geschädigter Beitragszahlern, wenn Köhler diese Ursachen für immer höhere Sozialbeiträge und „zu hohen Lohnnebenkosten” ignoriert. Wenn er feststellt: „Sie haben Arbeit in Deutschland so teuer gemacht, dass viele Menschen kaum noch eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben”, muss man ihn daran erinnern, dass er als Finanzstaatssekretär und wichtiger Wirtschaftsberater des „Kanzlers der Einheit” an einer entscheidenden Wegscheide der deutschen Wirtschaftsentwicklung nach dem Fall der Mauer als Ökonom und Wirtschaftsberater versagt und dadurch seinem Land und den von Arbeitsplätzen und Wirtschaftswachstum abhängigen Menschen bis heute erheblichen Schaden zugefügt hat.

Das ist der Grund, warum Bundespräsident Horst Köhler bei manchen in diesem Lande ein Problem der Glaubwürdigkeit hat. Würde er auch über seine folgenschweren Fehler in der Vergangenheit sprechen, könnte er auch jene, die sein Wirken über viele Jahren verfolgen, etwas mehr überzeugen von dem, was er heute dem Volke als neuer Hoffnungsträger predigt.


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