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Titel: Annette Groth: Der Hilfskonvoi hat die Blockade und die humanitäre Situation in Gaza wieder auf die politische Agenda der Regierungen gebracht

Datum: 15. Juli 2010 um 9:15 Uhr
Rubrik: DIE LINKE, Israel, Militäreinsätze/Kriege
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Ende Mai ist auf Inititative verschiedener Nichtregierungsorganisationen ein Versorgungskonvoi nach Gaza aufgebrochen, die Schiffe wurden vom israelischen Militär in internationalen Gewässern gestoppt. Bei dieser Militäraktion wurden neun Zivilisten getötet und fünfzig Menschen zum Teil schwer verletzt. Annette Groth, die Menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag war an Bord des gekaperten Schiffes. Die NachDenkseiten fragten sie nach ihrer Einschätzung zur Lockerung der Seeblockade, nach den Zielen der Hilfskonvois und nach Perspektiven für eine Lösung des Konflikts. Von Christine Wicht

Ende Mai ist ein Versorgungskonvoi mit dem Ziel Gaza von Athen und der griechischen Insel Kreta gestartet. Die fünf Schiffe hatten 10 000 Tonnen Hilfsgüter (Baumaterial, Wasseraufbereitungsanlagen, Schulmaterial und medizinische Hilfsgüter) für die 1,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen, darunter 700 000 Kinder, geladen. Insgesamt waren über 600 Menschen aus 36 Ländern an Bord der Schiffe. Die Flotte wollte die israelische Seeblockade durchbrechen, um die geladenen Hilfsgüter direkt nach Gaza zu bringen. Mediziner von IPPNW, die sich für eine friedliche, atomtechnologiefreie und menschenwürdige Welt einsetzen, befanden sich ebenso auf den Schiffen, wie Vertreter von Pax Christi, der schwedische Schriftsteller Henning Mankell, Mitglieder verschiedener Nichtregierungsorganisationen und Abgeordnete aus mehreren Staaten. Der Verein „Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ und die israelische Friedensbewegung „Gush Shalom“ hatten an Israel appelliert, die Schiffe mit der humanitären Hilfe passieren zu lassen.

Am 31. Mai um 4.20h wurde das Passagierschiff „Mavi Marmara“ ca. 140 km vor der israelischen Küste (in internationalen Gewässern) vom israelischen Militär angegriffen, neun Zivilisten wurden getötet und ca 50 Aktivisten des Hilfskonvois zum Teil schwer verletzt. Die israelische Regierung spricht von Selbstverteidigung, während die IPPNW-Vorsitzende Angelika Claußen den Angriff des israelischen Militärs aufs Schärfste verurteilt: „Der völkerrechtswidrige Angriff von israelischen Eliten-Einheiten auf die Schiffe ist eine unverantwortliche Eskalation, mit diesem Vorgehen hat die israelische Regierung den Tod von unschuldigen Zivilisten billigend in Kauf genommen. Ein derartiger Einsatz ist durch nichts zu rechtfertigen.“

Die Bundestagsabgeordnete und Menschenrechtspolitische Sprecherin der Linkspartei Annette Groth war an Bord des auf hoher See von israelischen Marineeinheiten gekaperten und in den Hafen Aschdod geschleppten Schiffes. Wir möchten nicht mehr auf den Hilfsgütertransport und den Angriff der israelischen Armee eingehen, beides wurde umfangreich in den Medien behandelt. Auf Abgeordnetenwatch können Bürgerfragen, die von der Bundestagsabgeordneten beantwortet wurden, eingesehen werden. Uns interessiert, was hinter der Ankündigung Israels, die Blockade zu lockern, steht. Der Sprecher des für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten zuständige UN-Hilfswerk UNRWA in Gaza, Chris Gunness, sagte gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Nach so vielen ähnlichen Ankündigungen aus Israel, denen keine Taten folgten, haben wir wenig Anlass zu Optimismus.“ Was die Palästinenser wirklich brauchen, sei das Ende der Abriegelung (dpa, 17. Juni 2010).

NDS: Handelt es sich um eine Lockerung der Seeblockade oder soll die Lockerung darin bestehen, dass die Liste der Güter für Gaza überarbeitet wird und die Waren über den Landweg eingeführt werden sollen?

Groth: Die Seeblockade bleibt weiterhin bestehen. Daran hat sich nichts geändert. Die Lockerung der Blockade betrifft nur die Einfuhr von Waren über den Landweg. Problematisch ist auch, dass sowohl der Export für Güter aus Gaza weiterhin nicht gestattet als auch die Bewegungsfreiheit für die Bevölkerung Gazas nicht erleichtert wird. Generell ist daher die Lockerung der Blockade keine Lösung des Problems. Es geht ja nicht darum, nur zusätzliche humanitäre Hilfe zuzulassen, sondern vielmehr die Kollektivstrafe gegen die Bevölkerung des Gaza-Steifens zu beenden und sie aus der Isolation und Abhängigkeit zu befreien. Dazu gehört auch, Bedingungen zu schaffen, die den Wiederaufbau ermöglichen und die lokale Wirtschaft wieder in Gang bringen. Das funktioniert aber nur, wenn die Grenzübergänge dauerhaft und verlässlich geöffnet werden – für Menschen und auch für Rohstoffe, Ersatzteile und Exporte. Wenn die Bevölkerung nicht mehr in so hohem Maße von Nothilfe abhängig ist, lässt sich auch internationale Unterstützung effektiver einsetzen.

Um ein Beispiel zu nennen: Die Textilindustrie ist lange Zeit die Schlüsselindustrie in Gaza gewesen. 40.000 Menschen waren in dieser Branche beschäftigt. Heute sind es noch ein paar Hundert. Die meisten Betriebe sind geschlossen. So lange Händler und Geschäftsleute nicht exportieren können, brauchen sie auch kein Material für die Produktion. Die Lockerung der Blockade bedeutet für die Textilwirtschaft in Gaza, dass der Markt nun mit billigen Produkten aus China überschwemmt wird und auch das Wenige, was produziert wird, in den Lagern liegen bleibt. Für die Lebensmittelbranche bedeutet es, dass nun israelische Produkte, die qualitativ höherwertig sind als die durch die Tunnel geschmuggelten ägyptischen, in den Läden zu finden sind. Dabei ist aber zu bedenken, dass etwa 60% der Bevölkerung in Gaza unter der Armutsgrenze lebt und ihr somit die Kaufkraft für viele Produkte fehlt.

NDS: Israel hat angekündigt eine überarbeitete Liste der verbotenen Güter für den Gazastreifen herauszugeben. Auf der bisherigen Liste war die Einführung bestimmter Nahrungsmittel, werden diese Waren nun wieder zugelassen?

Groth: Bislang gab es einen Katalog von ungefähr 100 erlaubten Gütern. Dabei gab es auch ganz absurde Verbote. Bestimmte Gewürze z.B. waren verboten, andere nicht. Süßigkeiten, Erfrischungsgetränke und Papierwaren waren auch nicht gestattet. Das hat sich geändert. Statt einer „Positivliste“ gibt es nun eine „Negativliste“, die alle Güter auflistet, die nicht eingeführt werden dürfen. Zugelassen werden nach dieser „Negativliste“ jetzt vor allen Dingen Konsumgüter wie Haushaltswaren, Lebensmittel und Textilien, sogar Autos und Waschmaschinen.

NDS: Auf der überarbeiteten Liste sollen Güter stehen, die unter keinen Umständen in den Gazastreifen gelangen sollen. Um welche Güter handelt es sich?

Groth: Grundsätzlich gilt, dass humanitäre Güter eingeführt werden dürfen. Nicht eingeführt werden dürfen Waffen und Kriegsmaterial sowie sogenannte „dual use“ Güter, die sowohl militärisch als auch zivil genutzt werden können, z.B. zum Bau von militärischen Anlagen. Daher dürfen auch Baumaterialien nur für „bewilligte Projekte“ der Vereinten Nationen oder der Ramallah-Regierung eingeführt werden. Das betrifft in erster Linie die Einfuhr von Eisen, Stahl und Zement. Damit ist der Wiederaufbau der zerstörten Häuser und Infrastruktur in Gaza nur sehr eingeschränkt möglich. Auch verfestigt eine derartige Selektion und Kontrolle die Spaltungspolitik Israels gegen die PalästinenserInnen.

NDS: Es sind derzeit zwei Schiffe nach Gaza gestartet, ein weiterer Versorgungskonvoi von Free-Gaza und ein israelisches Schiff. Um welche Organisationen handelt es sich bei dem israelischen Schiff, was hat es geladen und wie wird diese Aktion von der israelischen Regierung und in der israelischen Bevölkerung gesehen?

Groth: Es gibt viele verschiedene Initiativen, zur Zeit ist auch ein libysches Schiff unterwegs. Das Schiff der „jüdischen Stimme für einen gerechten und nachhaltigen Frieden in Nahost“ soll voraussichtlich im August in See stechen. TeilnehmerInnen sind sowohl israelische Staatsangehörige wie auch JüdInnen aus USA, Kanada, Deutschland und Australien. Mein letzter Stand ist, dass das Schiff gefüllte Schulranzen, Musikinstrumente aller Art, Outdoorspielzeug und medizinische (Klein)Geräte laden wird. Das jüdische Schiff sammelt noch und sucht explizit ein Mammographiegerät. Ansprechpartnerin ist die europäische Koordinatorin des jüdischen Schiffes, Kate Katzenstein-Leiterer. Die israelische Regierung ist sich offensichtlich noch nicht ganz klar, wie sie mit dem jüdischen Schiff umgehen will. In den israelischen Medien hat das Vorhaben bereits für Aufsehen gesorgt. Die Reaktionen der Bevölkerung waren eher negativ und von Unverständnis geprägt. Die meisten Israelis können wohl nicht verstehen, dass Juden aus dem Ausland den PalästinenserInnen Hilfe bringen wollen, anstatt sich an die Seite Israels zu stellen. Für die OrgansatorInnen ist es aber gerade wichtig, der palästinensischen Bevölkerung zu zeigen, dass es JüdInnen und auch Israelis gibt, die solidarisch mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza sind.

NDS: Wie wird die LINKE in Zukunft weiter verfahren?

Groth: Auch wenn noch nicht ganz klar ist, was sich politisch wirklich bewegen wird, finde ich erst mal sehr wichtig, dass die Blockade und die humanitäre Situation in Gaza wieder auf der politischen Agenda der Regierungen dieser Welt stehen. Das war ja auch unser politisches Ziel. Natürlich bleibt erst mal abzuwarten, ob die Blockade wirklich ganz aufgehoben wird oder ob es mehr bei einer „Lockerung“ bleibt, die die israelische Regierung dann auch willkürlich wieder anziehen kann. Trotzdem ist es schon interessant zu sehen, wie schnell die israelische Regierung reagiert, wenn endlich einmal international der politische Druck wächst. Dieses Momentum müssen wir ausnutzen und weiterhin mit Nachdruck die Achtung der Menschenrechte in der Region einfordern, sei es parlamentarisch oder durch Solidaritätsaktionen.

Entscheidend wird auch sein, wie man in der internationalen Politik weiter mit Hamas umgehen will. Unter politischen ExpertInnen wird der Ruf nach einer Kommunikation mit der Hamas lauter. Diese Position vertritt ja auch DIE LINKE. Eine Fortsetzung der Isolationspolitik, wie sie vom Nahost-Quartett betrieben wurde, ist nicht sinnvoll und gilt gemeinhin als gescheitert. Schließlich hat sie nicht zur Schwächung von Hamas geführt. Ziel der Verhandlungen mit Hamas über eine Regelung der Grenzen muss dabei auch sein, die Hamas in die Verantwortung zu nehmen und konkrete Fragen zur Beendigung der Blockade mit ihr und der Ramallah-Regierung zu klären. Das setzt natürlich voraus, dass die USA und Europa hier klare Signale senden. Die LINKE jedenfalls wird sich dafür einsetzen.


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