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Titel: Der kollektive Aufstand der Medien gegen die Diskussion um eine Aussetzung der Rente mit 67

Datum: 11. August 2010 um 9:04 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Rente, SPD
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Kaum gibt es in der SPD eine Diskussion über eine Anpassung des Renteneintrittsalters an die Wirklichkeit des Arbeitsmarktes und der physischen und psychischen Arbeitsfähigkeit, schon baut sich der geballte Widerstand der Medien auf. Gestern Abend um 22.55 Uhr wies Google News 531 Artikel zur Rente mit 67 aus. In nahezu allen Beiträgen wird ausschließlich auf die demografischen Entwicklungsmodelle abgestellt und die vom Bundesarbeitsministerium eingespeiste Beschönigung, dass in den letzten Jahren die Beschäftigungsquote leicht angestiegen sei, wird als Annahme in die Zukunft fortgeschrieben.
Es ist erschreckend, eine derartige freiwillige Gleichschaltung des Denkens festzustellen. Wolfgang Lieb

Ich habe nur die Anreißer von etwa hundert Beiträgen überflogen und unten nur die Kommentare von als liberal oder gar links-liberal geltenden Zeitungen ausgewiesen.
Zunächst ein paar Beispiele:

  • SPD und die Rente: Verlogene Versprechen
    Wankelmütige SPD: Erst stimmte Sigmar Gabriel für die Rente mit 67, jetzt will er sie aufschieben. Seine Partei ignoriert hartnäckig den demografischen Wandel. Selbst die sogenannte Rentengarantie ist ein verlogenes Versprechen.
    Quelle: stern
  • Wie die SPD muffig bleibt
    Solchen Funktionären läuft die SPD hinterher. Sie verbeugt sich vor der Klientel 50 plus und ignoriert die Jüngeren. Gabriel bedient den Strukturkonservatismus, von dem er genau weiß, dass er die Partei muffig und langweilig macht. Und die Zukunft sieht nicht besser aus, wie jüngst der neue Juso-Vorsitzende gezeigt hat, als er die sogenannte Renten-Garantie nicht als eine Frage der Generationengerechtigkeit bezeichnete. Zu so einer Nachwuchsorganisation gehen Jugendliche sicher genauso gerne wie Kinder zu einer Geburtstagsparty, auf der es Kuchen nur für die Großeltern gibt.
    Quelle: SZ
  • Vorwärts denken
    Die SPD droht sich in alten Debatten wie Rente mit 67 zu verlieren.
    Damit wird die Rente mit 67 zum Lackmustest für die Regierungsfähigkeit der SPD. Nicht nur würde eine Beerdigung der Reform die eigene Politik konterkarieren.
    Quelle: FR
  • Die Rente mit 67 muss bleiben
    Immer weniger Arbeitnehmer finanzieren die Renten der Alten. Schon jetzt kommen auf hundert 20- bis 64-Jährige, die dem Arbeitsmarkt prinzipiell zur Verfügung stehen, etwa 33 Rentner. In 50 Jahren werden es doppelt so viele sein. Die Entwicklung wird sich auf absehbare Zeit nicht umkehren, denn es kommen immer weniger Junge nach.
    Quelle: Zeit

Die restlichen – inzwischen sind es 560 – Artikel enthalten keine anderen Argumente und sind eher noch schlichter gestrickt.

Es ist so, wie George Orwell in seiner negativen Utopie im Roman 1984 schrieb: „Und wenn alle anderen die von der Partei verbreiteter Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit“.

Die „Lüge“ beginnt schon mit der mit der Unterstellung der demografischen Entwicklung als unumstößliche Wahrheit.

Wir haben auf den NachDenkSeiten immer wieder belegt, dass solche demografischen Prognosen über mehrere Jahrzehnte nichts anderes als „moderne Kaffeesatzleserei“ [PDF – 183 KB] sind, die für die Durchsetzung durchsichtiger wirtschaftlicher Interessen für eine private Vorsorge instrumentalisiert wurden und werden. Konnten wir etwa vor 50 Jahren abschätzen, wie sich die Antibabypille auf die Bevölkerungsentwicklung auswirken würde? Hatten wir den Baby-Boom erwartet, der Anfang der 60er einsetzte? Oder die Migrationsströme aus südlichen Ländern? Konnten wird den Zusammenbruch des Ostblocks vorhersehen und die Zuwanderung der Aussiedler?

Diese Modellrechnungen über die „Vergreisung“ sind nicht nur in sich inkonsistent [PDF – 118 KB], sondern sie vernachlässigen systematisch eine Vielzahl von politischen Stellschrauben, mit denen die Dramatik der Alterung der Gesellschaft entdramatisiert werden könnte. Die Modellrechnungen können z.B. beim besten Willen nicht die Arbeitsmarktsituation über Jahrzehnte vorhersagen, und sie blenden vor allem komplett aus, dass aufgrund des technischen Fortschritts ein einzelner Arbeitnehmer immer mehr leisten kann, so dass jeder Beschäftigte in 10, 20, 30 oder gar 40 Jahren in der Lage wäre, etwas mehr für die Rentner in der fernen Zukunft abzugeben, ohne selbst Verzicht leisten zu müssen. Aber wenn man auf diesen größer werdenden „Kuchen“ abstellt, berührt man ja die Frage, wie der Kuchen verteilt werden soll, und diese Frage ist für das neoliberale Denken natürlich ein Tabu.

Es ist ein unumstößliches Faktum dass der Generationenvertrag immer trägt, die entscheidende Frage ist, was die Gesellschaft zum jeweiligen Zeitpunkt leistet und sich leisten kann. Die Leistungsfähigkeit des Generationenvertrags hängt aber nicht zu aller erst von der Zahl der Alten und der Arbeitsfähigen oder der Kinder ab, sondern viel mehr davon, ob die Menschen Arbeit haben, wie hoch die Erwerbsquote (von Männern und Frauen) ist und wie produktiv die Menschen arbeiten. Wenn heute die Unternehmen ihre Gewinne in effizientere Technik investieren würden, statt auf dem Finanzmarkt zu spekulieren, dann wüchse die Produktivität. Bei steigender Produktivität brauchte man sich ziemlich wenig Sorgen darüber zu machen, ob in Zukunft für alle genügend zur Verfügung steht.

Grafik zur Entwicklung des BIP, 1870 - 1992
Quelle: Deutschland 1870-1992, Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in 1990 Geary-Khamis Dollar, Quelle: Maddison, A. 1995, nach Historische Datenbank (2009), Quelle: Thünen Institut [PDF – 1.4 MB]

Die Verschiebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre ist gegenüber all diesen anderen beeinflussbaren Faktoren ein lächerlich kleiner Faktor. Der nicht einmal wirkte, wenn die Menschen tatsächlich gar nicht bis 67 arbeiten könnten. Dann ist die Rente mit 67 nämlich ein reines Rentenkürzungsprogramm.

Die Forderung nach der Rente mit 67 beruht auf einem eindimensionalen, statischen Denken, das letztlich eine Kapitulationserklärung gegenüber den tatsächlichen Herausforderungen einer Wirtschaftspolitik darstellt, die für Innovation, technischen Fortschritt, Produktivität und vor allem auch für Vollbeschäftigung der Erwerbsfähigen (Männer und Frauen) Sorge trägt.

Um diese Unfähigkeit einmal mit den Mitteln der Befürwortern der Rente mit 67 zu kontern, möchte ich eine Gegenmodellrechnung aufstellen:
Wie sähe heute die Arbeitslosenstatistik in Deutschland aus, wenn sich die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre konstant fortgesetzt hätten. Wir hätten gut 40 Jahre 1,3 Millionen statt 700.000 Menschen mehr, das wären rund 24 Millionen Menschen mehr, davon würden vielleicht 16 Millionen mehr Arbeit nachfragen und das bei einer Arbeitslosigkeit von weit über 3 Millionen (Das Beispiel habe ich von Jürgen Voß).

Sie werden mir jetzt sicher vorhalten, das sei eine absolut blödsinnige Modellrechnung.
Da stimme ich Ihnen völlig zu, aber dann dürfen Sie bitte auch nicht den genauso schlichten Modellrechnungen unserer Hobbydemografen in den Redaktionsstuben aufsitzen.

Schlussbemerkung nebenbei:

Einige der Artikel beziehen sich auch auf eine Äußerung der Sozialministerin Ursula von der Leyen: Die Ministerin sagte der Rheinischen Post: “Es stimmt nicht, wie die SPD behauptet, dass wir eine anhaltend schlechte Situation für Ältere auf dem Arbeitsmarkt haben.” Genau das Gegenteil sei der Fall. “In den letzten fünf Jahren ist der Anteil der 60- bis 64-Jährigen in Arbeit um zwölf Prozentpunkte auf inzwischen 40 Prozent gestiegen”. Angesichts der großen Zahl gut ausgebildeter Älterer und des zunehmenden Fachkräftemangels müsse man “kein Prophet sein, um zu sagen: Dieser deutliche Trend wird anhalten.” (Quelle: SZ)

Das ist reine Schönfärberei: Aus der Antwort der Bundesregierung über die Beschäftigungssituation Älterer [PDF – 1.1 MB] geht auch noch ganz Anderes hervor:

  • Nicht einmal zehn Prozent der 64-Jährigen waren 2008 sozialversicherungspflichtig beschäftigt.
  • Gerade ein Fünftel der 60-jährigen schafft den Übergang aus der Erwerbslosigkeit in Erwerbstätigkeit. Von den 64-jährigen schaffen es nicht einmal mehr zehn Prozent.
  • Mehr als ein Fünftel (22 Prozent) geht aus Erwerbslosigkeit (Leistungen SGB III/SGB II) und weniger als ein Fünftel (18 Prozent) geht aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in die wohlverdiente Altersrente.

Diese Zahlen hätten sich die journalistischen Kämpfer für die Rente mit 67 einmal anschauen sollen, bevor sie der dauergrinsenden Sozialministerin mit ihrer ziemlich willkürlich herausgegriffenen statistischen Angabe auf den Leim gekrochen sind.


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