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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 23. August 2010 um 9:04 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Heute unter anderem zu folgenden Themen: Die AKW-Putschisten; Stadtwerke gegen Atomlobby; Aktionäre wider Wissen; Insolvenzbordell London; kein Arbeitslosengeld für Schwangere; nochmals: Urlaubsverzicht; Lobbynachrichten; Kommentar zu Steinbrücks Nebeneinkünften; Jean Ziegler über Lakaien; Ärztehonorar vorstrecken; Lautenschläger geht durch die Drehtür; Wirtschaftssenator räumt „Falschangaben“ ein; Duisburg verbietet Veröffentlichung von Dokumenten; Elektronikleid; Roma-Verfolgung; Tschechen wollen nicht in die griechische Falle geraten; Humboldts Bildung heute. (WL)

  1. AKW-Streit: Die Putschisten
  2. Stadtwerke-Verband: „Dreckschleudern abschalten“
  3. Deutsche sind Aktionäre wider Wissen
  4. Schuldner flüchten ins “Insolvenzbordell” London
  5. Arbeitslosengeld für Schwangere gestrichen
  6. Nochmals: Angestellte sollen auf Urlaub verzichten
  7. Lobbynachrichten aus dem Sommerloch
  8. Kommentar zum Fall Steinbrück
  9. Jean Ziegler: „Viele sind Lakaien“
  10. Patienten sollen Honorar für Arztbesuch vorstrecken
  11. Kanzleramt war involviert in Sawicki-Entmachtung
  12. Lautenschläger zieht’s in die Wirtschaft
  13. Designierter Wirtschaftssenator räumt Falschangaben ein
  14. Duisburg lässt Dokumenten-Veröffentlichung verbieten
  15. Jeder, der ein Apple iPhone besitzt, sollte sich schämen
  16. Schuften für den Elektronikspaß anderer
  17. Das Roma-Problem liegt in Osteuropa
  18. Tschechien: Wollen nicht in griechische Falle geraten
  19. Humboldts Bildung heute
  20. Was sind “höhere Interessen”?

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. AKW-Streit: Die Putschisten
    Eine so unverhohlene Erpressung durch Leute, die sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise gerade Milliarden von der Regierung und den Steuerzahlern überweisen ließen, sprengt alles Dagewesene. Wir erinnern uns an die vergangene Woche: Da drohten die Chefs der Energiekonzerne via Bildzeitung der Kanzlerin mit dem Abschalten der Atomkraftwerke, wenn die Regierung nicht 15 Jahre Laufzeitverlängerung genehmigt. Schon damals ernteten sie Spott und Hohn. Dann macht sie doch dicht, eure Schrottreaktoren, schallte es durch die Republik. Und jetzt? Jetzt rennen die Energie-Chefs mit demselben Kopf gegen dieselbe Wand. Nur mit Verstärkung. Leute, die sich zur Elite aus Wirtschaft und Politik zählen, springen den Konzernchefs bei. In einer fulminanten Anzeigenkampagne wollen sie der Regierung offenbar zeigen, wo der Hammer hängt. Vom Sozialdemokraten Schily über den Fußballmanager Bierhoff bis zum Bahnchef Grube zeichnen sie den Protest.
    Diese Leute, die glauben, eine Kanzlerin so unter Druck setzen zu können, sind sozial dumm und missachten alle Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens. Vor allem Regel Nummer eins: Bringe den anderen nie in eine ausweglose Situation, aus der er ohne Gesichtsverlust nicht mehr herauskommt. Eine Kanzlerin, das müssten sich die Herren, und es sind ausschließlich Herren, vielleicht noch mal klarmachen, ist vom Volk gewählt und ihm verantwortlich. Würden sie dies zur Kenntnis nehmen, wäre es, wenn schon nicht aus Einsicht, dann aus Zweckmäßigkeit geboten, sie so agieren zu lassen, dass ihre Entscheidung öffentliche Akzeptanz finden kann. Bewegt sich Merkel aber jetzt nur einen Schritt in ihre Richtung, wird sie den Vorwurf der Erpressbarkeit nicht mehr los.
    Quelle: FR

    Siehe die Anzeige:

    Quelle: Energiezukunft Deutschland

    Anmerkung WL: Der Andrang an Befürwortern hält sich offenbar in Grenzen. Bis gestern Mitternacht hatten 494 Leute zugestimmt.

  2. Stadtwerke-Verband: „Dreckschleudern abschalten“
    Hans-Joachim Reck, Chef des Stadtwerke-Verbandes, übt scharfe Kritik an der Atomlobby. Die vier Atomkonzerne hätten es geschafft, innerhalb kürzester Zeit alle gegen sich aufzubringen, betont Reck im Interview.
    RECK: Ich halte eine solche, einseitig an den wirtschaftlichen Interessen orientierte Aktion nicht für hilfreich. Bei den anstehenden energiepolitischen Entscheidungen müssen alle Ziele, wie Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Preiswürdigkeit der Energie Berücksichtigung finden. Ich fürchte, diese Aktion wird den Akteuren mehr schaden als nutzen.
    Was bedeutete eine Laufzeitverlängerung für die Stadtwerke?
    RECK: Laufzeiten sollten nur verlängert werden, wenn es zu einem Marktausgleich bei der Stromproduktion zugunsten der Stadtwerke als dem energiepolitischen Mittelstand kommt. Getätigte Investitionen in dezentrale Produktionsstrukturen dürfen nicht gefährdet werden; Neuinvestitionen müssen rentabel bleiben.
    Womit sollen die Stadtwerke fehlende Kapazitäten ausgleichen?
    RECK: Die Stärken der kommunalen Betriebe liegen eindeutig bei Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung, die mit Erdgas, Kohle und Biokraftstoffen als Brennstoff arbeiten und Strom und Wärme zugleich erzeugen. Das bringt den extrem hohen Wirkungsgrad von 80 bis 90 Prozent.
    Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger
  3. Deutsche sind Aktionäre wider Wissen
    Die meisten Bürger besitzen Aktien. Dem Großteil von ihnen dürfte dies gar nicht klar sein. Viele Anleger sind über Fonds, Versicherungen oder über bestimmte Formen der betrieblichen Altersvorsorge am Aktienmarkt beteiligt. Vor allem bei der Altersvorsorge läuft vieles im Verborgenen ab.
    Nach einer Studie von TNS Infratest Sozialforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales mit aktuellsten Angaben per Ende 2007 haben knapp zwei Drittel der sozialversichungspflichtigen Beschäftigten in Deutschland einen Anspruch auf eine betriebliche oder öffentliche Zusatzrente. Von diesen 17,5 Millionen Arbeitnehmern dürften die meisten indirekt Aktionäre sein, schätzen Berater. Denn viele Arbeitnehmer wandeln Teile ihres Gehaltes in Beiträge für die betriebliche Altersvorsorge um…
    Insgesamt 1,3 Billionen Euro haben die rund 50 Millionen Deutschen bei Lebensversicherungen, Pensionskassen und Pensionskassen angelegt. Laut Börsenaufsicht Bafin entfallen 15,4 Mrd. Euro oder 1,2 Prozent davon auf börsennotierte Aktien…
    Auch zu den indirekten Aktionären zählen die knapp 14 Millionen Inhaber einer staatlich geförderten Riester-Rente für die private Altersvorsorge, von denen wiederum rund 10 Millionen in eine Lebensversicherung und 2,7 Millionen in einen Fonds sparen.
    Relativ gering ist die Zahl der Aktienfondssparer und reinen Aktionäre in Deutschland mit insgesamt nur noch 8,6 Millionen. Lediglich 3,9 Millionen davon halten direkt Aktien im Depot.
    Quelle: Handelsblatt

    Anmerkung WL: Man hätte auch die Überschrift wählen können: Deutsche sind Aktionäre wider Willen. Denn gefragt werden sie natürlich nicht. Interessant ist auch , dass für lediglich 3,9 Millionen Menschen die direkt Aktien halten, täglich eine umfangreiche Börsenberichterstattung in allen Medien stattfindet.

  4. Schuldner flüchten ins “Insolvenzbordell” London
    Kriselnde Unternehmen verlegen zunehmend ihren Sitz in die britische Metropole, um von den dortigen Insolvenzregeln zu profitieren. Anleihegläubiger gucken in die Röhre. Erstens kann ein Unternehmen bestimmte Teile nach Großbritannien verschieben, um vom dortigen Recht zu profitieren. Zweitens ist ein besonderes Verfahren seit der Finanzkrise umstritten. In einem sogenannten “Pre-Pack” kann ein Unternehmen schnell von hochrangigen Geldgebern an einen neuen Eigentümer verkauft werden. Das kann ohne die Zustimmung nachrangiger Gläubiger, Vermieter oder Lieferanten geschehen – oft wird mit dem Verfahren sogar die Absicht verfolgt, diese Geldgeber auszubooten.
    Quelle: FTD
  5. Arbeitslosengeld für Schwangere gestrichen
    „Ich bin schwanger – nicht krank“, sagt Isabel Kirner aus Haffkrug (Kreis Ostholstein). Die Pharmareferentin (Gehalt: 1800 Euro netto) ist seit Februar ohne Job, bekam Arbeitslosengeld. Stichtag für die Geburt ihres Kindes ist der 6. Oktober. „Mitte Juli musste ich zweimal wegen drohender Frühgeburten ins Krankenhaus und bekam vom Arzt ein Beschäftigungsverbot, um das Leben meines Kindes nicht aufs Spiel zu setzen“, sagt die 28-Jährige. Der finanziell gravierenden Folgen war sich die junge Frau nicht bewusst. „Ich stand mit beiden Beinen fest im Leben. Jetzt hat mir die Arbeitsagentur den Boden unter den Füßen weggerissen.“
    Mit sofortiger Wirkung stornierte die Agentur für Arbeit die Zahlungen, was weitere Konsequenzen hat. „Ich habe keinen Anspruch mehr auf Mutterschutz, Kranken- und Elterngeld, muss mich über meinen Mann krankenversichern – rundum ein Ausfall von 10 000 Euro“, sagt Kirner und betont: „Jede alleinstehende Frau findet sich doch ganz schnell in einer Sozialwohnung wieder.“
    Für die Behörden ist die Lage eindeutig. „Uns sind aufgrund von Dienstanweisungen der Bundesagentur die Hände gebunden, so dass wir bei Beschäftigungsverboten keine Zahlungen vornehmen können“, sagt Olga Nommensen von der Arbeitsagentur Lübeck. „Ein Anspruch auf ALG I besteht bei einem Beschäftigungsverbot wegen Schwangerschaft nur, wenn die Schwangere trotzdem für den Arbeitsmarkt verfügbar ist – also nicht jegliche Beschäftigungen, sondern nur bestimmte Tätigkeiten untersagt worden sind“, erklärt Monika Borso, Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft (Arge) Lübeck.
    Quelle: Lübecker Nachrichten
  6. Nochmals: Forderung der Arbeitgeber: Angestellte sollen auf Urlaub verzichten

    Anmerkung WL: Nicht nur wir, sondern sehr viele Medien haben bei dieser Meldung pauschal von „Arbeitgebern“ gesprochen. Interessant ist, dass keiner der großen Arbeitgeberverbände sich dazu geäußert hat. Es waren der „Bundesverband mittelständische Wirtschaft“ (BVMW) mit seinem Präsidenten Mario Ohoven und der „Unternehmerverband mittelständische Wirtschaft“ (UMW). Selbst das arbeitgebernahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) kritisierte diesen Vorschlag und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) war für eine Stellungnahme zunächst nicht zu erreichen. „Unternehmerverband mittelständische Wirtschaft“ (UMW) mit Sitz in Koblenz scheint eher ein kommerzielles Beratungsunternehmen zu sein:

    „Wir unterstützen Sie

    • beim Knüpfen und Pflegen von Geschäftskontakten im In- und Ausland
    • bei Verhandlungen mit Kreditinstituten und Banken
    • im Informationsmanagement
    • bei Kontakten zu lokalen und überregionalen Behörden“

    So die Eigenwerbung des UMW.

    Ad-Hoc-New berichten, dass im Handbuch des öffentlichen Lebens, dem Oeckl, zur Mitgliederzahl dieses „Verbandes“ keine Angaben gemacht würden.
    Mit der Forderung nach Urlaubsverzicht scheint die Verbandschefin Frerichs eher eine Marketingstrategie für ihren obskuren Verband zu verfolgen. Erst vor Wochen hatte sie Aufsehen zu erregen versucht, als sie eine Deopflicht für Arbeitnehmer forderte.
    Ähnliche Motive dürften auch den „Bundesverband mittelständische Wirtschaft“ (BVMW) leiten.

    Auch der der „Bundesverband mittelständische Wirtschaft“ (BVMW) mit seinem schillernden Präsidenten Mario Ohoven ist eher eine PR-Organisation als ein Arbeitgeberverband. Nicht nur dass Ohoven in den letzten Jahren zahlreiche Prozesse am Hals hatte, er nutzte seinen 1998 erlangten BVMW-Vorsitz, um Kontakte zu potentiellen Anleger für seine eigenen Fondsgeschäfte zu knüpfen, schrieb das Handelsblatt unter der Überschrift „Glamour, Prominente, Charity“. Seine Ehefrau und geschäftstüchtige „Charity-Lady Nummer eins“, meinte ihren Mann mit dem Satz „er könnte sogar Eskimos Eisschränke verkaufen“ loben zu müssen.

    Der Vorschlag den Urlaub um 14 Tage zu kürzen, war also wohl eher ein Reklame-Gag um diesen selbst ernannten Vertreter des Mittelstands passend in das Sommerloch Publicity zu verschaffen. Ein „Rezept für Berühmtheit“ nannte das zu Recht der Kölner Stadtanzeiger. Es ist jedoch bezeichnend, dass dieser Vorschlag von den Medien Schlagzeilen machen konnte und „den“ Arbeitgebern zugetraut wurde. Auch wir von den NachDenkSeiten sind auf dies PR-Kampagne zu Lasten von Arbeitnehmern eingestiegen und haben versäumt hinter die Kulissen zu schauen.

    Zur Klarstellung:
    Der Stern zitiert dankenswerterweise aus einer Mercer-Studie die Anzahl der Urlaubstage in unterschiedlichen Ländern (Stand: 2009):

    • Finnland: 30 Tage
    • Brasilien: 30 Tage
    • Frankreich: 30 Tage
    • Großbritannien: 28 Tage
    • Schweden: 25 Tage
    • Deutschland: 24 Tage
    • Malta: 24 Tage
    • USA: 15 Tage
    • Kanada: 10 Tage
    • China: 10 Tage.
  7. Lobbynachrichten aus dem Sommerloch
    Ganz Deutschland ist in der Sommerpause – ganz Deutschland? Nein. Eifrige Lobbyisten gehen fleißig ihrer Arbeit nach. Aber glücklicherweise gibt es auch einige kritische Berichte. Und Regierungsmitglieder müssen feststellen, dass fragwürdige Vorgehensweisen auch in der Sommerpause nicht immer unentdeckt bleiben.
    Quelle: LobbyControl
  8. Kommentar zum Fall Steinbrück
    Man mag es – wie Heribert Prantl – ziemlich unfair finden, einen Abgeordneten an seinen Taten im Bundestag zu messen. Doch woran sollte man ihn dann messen? An dem, was er in seiner Freizeit vor Managern oder Investmentbankern in launigen Reden erzählt, wie Prantl empfiehlt? Das wäre etwas dürftig bei jemandem, den wir Bürger jeden Monat mit 7.668 Euro ausstatten und wo es ganz sicher keine Anmaßung ist, dafür eine entsprechende Gegenleistung zu erwarten. Doch worin besteht Steinbrücks Gegenleistung? In einem Politikerbuch, das endlich mal nicht aus “zusammengepappten Redemanuskripten besteht”, wie Prantl freudig vermerkt? Heribert Prantl weist darauf hin, dass Steinbrücks zahlreiche Einladungen zu Gastvorträgen ein Indiz dafür sind, dass er etwas zu sagen hat. Es ist wahrlich kein Fortschritt für den Parlamentarismus, wenn ein gewählter Volksvertreter das, was er zu sagen hat, ausschließlich bei Finanzsymposien oder auf Trend- und Eventmessen vorträgt.
    Quelle: Abgeordnetenwatch-Blog

    Anmerkung RS: Schon wieder regen sich die Deutschen auf, dass jemand Geld bekommt, ohne zu arbeiten – diesmal ist dieser jemand ein Abgeordneter, der sage und schreibe 7.668 Euro im Monat bekommt, aber nur selten zur Arbeit erscheint. Darum dreht sich diese Replik und die Leserkommentare dazu.
    Natürlich ist es nicht in Ordnung, wenn ein Abgeordneter sich von der Arbeit fernhält. Aber für lauter Aufregung über die kleine Maus in der Ecke redet keiner über den großen Elefanten mitten im Raum.
    Nicht das bezahlte Nichtstun ist das Empörende, sondern das, was Herr Steinbrück für wen stattdessen tut, und wie er zu dieser gutbezahlten Tätigkeit für diesen Kundenkries gekommen sein könnte. Also wie kommt es dazu, dass Herr Steinbrück ausgerechnet in jenem Kreise jetzt das große Geld verdient, dem als Finanzminister begünstigt und gefördert hat, nämlich die Finanzindustrie. Dass er neben seiner Tätigkeit als hochbezahlter Redner für diese Industrie auch noch einen Abgeordneten-Mandat hat, wo er Einfluss auf die Politik nehmen kann, die seine Kundschaft betrifft, ist äußerst anrüchig. Auch wenn man Herrn Steinbrück keine Korruption unterstellt, hat das ein Geschmäckle.
    Aber die Deutschen regen sich darüber auf, dass er Geld bekommen hat, aber seine Arbeit nicht tut.
    Der Elefant sitzt im Raum und schaut zu, wie die Leute eine kleine Maus jagen.

  9. Jean Ziegler: „Viele sind Lakaien“
    Was läuft falsch in der Welt?
    Die Goldberge steigen im Westen und die Leichenberge im Süden. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, 47000 Menschen sterben jeden Tag an Hunger und mehr als eine Milliarde Menschen, fast ein Sechstel der Menschheit, ist permanent schwerst unterernährt. Das Finanzkapital hat sich autonomisiert. Auf den Finanzplätzen der Welt zirkulieren täglich gemäß Weltbankstatistik ca. 1000 Milliarden Dollar, die ihre monetäre oder juristische Identität wechseln. Davon sind nur 13 Prozent wertschöpfendes Kapital, z.B. eine Investition oder Bezahlung für eine Warenlieferung. 87 Prozent sind reines Spekulationskapital. Die Oligarchen dieses Spekulationskapitals, vollständig losgelöst von irgendeiner Realwirtschaft, beherrschen die Welt. Die haben eine Macht, wie sie in der Geschichte der Menschheit nie ein König, Kaiser oder Papst gehabt hat. Nach Weltbankstatistik haben die 500 größten transkontinentalen Privatkonzerne 2009 52 Prozent des Weltbruttosozialproduktes kontrolliert. Diese Konzerne funktionieren ausschließlich nach dem Prinzip der Profitmaximierung, was auch normal ist.
    Weshalb waren die Regierungen nicht in der Lage, aus der Finanzkrise zu lernen?
    Weil viele von ihnen Lakaien sind. Es gibt keinen Grund, weshalb Regierungen Bonizahlungen nicht verbieten, Maximallöhne nicht fixieren sollten, außer das freiwillige Lakaienverhalten, diese Interiorisation von der Abhängigkeit vom Großkapital. Deshalb können viele staatliche Behörden nicht normativ tätig werden. Die Finanzoligarchen haben es fertiggebracht, einen rechtsfreien Raum für sich zu schaffen und ihren Willen den Regierungen aufzuzwingen. Persönlich bin ich für die Enteignung der Großbanken. Das ist keine bolschewistische Forderung: In Frankreich hat Charles de Gaulle – ein stockkatholischer, erzkonservativer Berufsmilitär – 1945 die Großbanken enteignet, um die staatliche Kontrolle über das Kreditwesen zu sichern. In Deutschland ist das neoliberale Gift ja sogar bis in die SPD-Regierung gegangen. Mit Peter Hartz hat zum ersten Mal ein Konzernmensch die Gesetze einer sozialistischen Regierung gemacht. Und später stellte sich heraus, dass er sogar nach Konzernnormen ein Halunke war…
    Quelle: junge Welt
  10. Patienten sollen Honorar für Arztbesuch vorstrecken
    Nach dem Willen der FDP sollen Patienten Arztkosten vorstrecken, um ein höheres Kostenbewusstsein zu entwickeln.
    Es sei sinnvoll, wenn Patienten per Rechnung erführen, was einzelne Behandlungen kosteten, sagte Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) schon im Januar. „Wenn sie die Kosten kontrollieren, ist dies besser als die Kontrolle durch Gesetze und Verordnungen“, so Rösler.
    Quelle: Welt Online

    Anmerkung WL: Und wer die Kosten für eine Behandlung nicht vorstrecken kann, der bleibt halt auf der Strecke. Im Übrigen dürfen sich dann die Patienten mir ihren Krankenkassen herumschlagen, welche ärztlichen Leistungen sie überhaupt und in welchem Umfang sie rückerstattet bekommen.
    Jeder Reformvorschlag von Gesundheitsminister Rösler belastet die Patienten und die Beitragszahler.

  11. Kanzleramt war involviert in Sawicki-Entmachtung
    In seiner jüngsten Ausgabe berichtet das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel”, das Bundeskanzleramt habe sich bereits im Sommer 2009 in die Personalie eingeschaltet. Damals wurde die Republik noch von der großen Koalition aus CDU und SPD regiert.
    Die damalige Leiterin des Referats 312 Gesundheitspolitik soll sich dem Bericht zufolge direkt an das damals noch von Ulla Schmidt (SPD) geführte Bundesgesundheitsministerium gewandt haben. Laut “Spiegel” habe sie dabei durchblicken lassen, “dass das Kanzleramt es nicht dulden werde, dass der Vertrag von Sawicki als Leiter des IQWiG vorzeitig verlängert werde.”
    Der “Spiegel” beruft sich auf ein noch nicht veröffentlichtes Buch der ARD-Fernsehjournalistin Ursel Sieber. In “Gesunder Zweifel”, das am 4. September erscheinen soll, soll Sieber dem Bericht zufolge “Sawickis Kampf gegen den Lobbyeinfluss” beschreiben.
    Quelle: Ärzte Zeitung
  12. Lautenschläger zieht’s in die Wirtschaft
    Hessens Umweltministerin Silke Lautenschläger verabschiedet sich in zwei Wochen aus dem Kabinett. Konkrete Pläne für die Zeit danach hat die Christdemokratin noch nicht – allein ein Job in der Wirtschaft soll es sein.
    Quelle: FR

    Anmerkung WL: Wieder einmal dreht sich die Drehtür zwischen Politik und Wirtschaft. Sie wolle zeigen, dass ein Wechsel für beide Seiten befruchtend sei, meint Lautschläger. Man könnte es auch so sehen, dass sich Politiker über Partei und politischem Netzwerk nur noch die Türen zu Geld und hohen Positionen öffnen, die ihnen ohne vorheriges Amt verschlossen geblieben wären. Das Entscheidende aber ist, dass sie in solche Positionen nie gelangen würden, wenn sie in ihren politischen Ämtern nicht entsprechende „Vorleistungen“ erbracht hätten.

  13. Designierter Wirtschaftssenator räumt Falschangaben ein
    Am Mittwoch soll Ian Karan zum Wirtschaftssenator Hamburgs gewählt werden. Zündstoff liefert der parteilose Politiker seinen Gegnern schon jetzt, denn mit der Wahrheit nimmt es dieser nicht immer so genau.
    Ian Karan (parteilos) hat über Teile seiner Biografie nicht die Wahrheit gesagt. So hat Karan in der Vergangenheit wiederholt bekräftigt, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe ihn persönlich aufgefordert, deutscher Staatsbürger zu werden. „Das ist falsch. Merkel hat mich niemals dazu aufgefordert“, sagte Karan der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ laut Vorabbericht.
    „Ich habe in der Vergangenheit zu viel mit den Medien kokettiert“, sagte Karan.
    Auch Karans Unterstützung für den Rechtspopulisten und früheren Hamburger Innensenator Ronald Schill war größer als bisher bekannt.
    Quelle 1: Focus
    Quelle 2: NDR
  14. Duisburg lässt Dokumenten-Veröffentlichung verbieten
    Mit einer einstweiligen Verfügung hat die Stadt Duisburg die Veröffentlichung von Dokumenten zur Loveparade-Katastrophe im Internet verbieten lassen. Es liege eine Verletzung des Urheberrechts vor. Der Deutsche Journalisten-Verband übt Kritik.
    Dem Duisburger Newsportal xtranews.de wird in der Verfügung verboten, die Verwaltungsunterlagen weiterhin im Netz zum Herunterladen bereitzustellen. Seitenbetreiber Thomas Rodenbücher will Widerspruch gegen die Verfügung einlegen.
    Bei den 43 Schriftsätzen handelt es sich um die Anlagen zu einem 32-seitigen Zwischenbericht der Stadt zu den Zuständigkeiten der Kommune bei der Technoparade. Unter den Papieren sind etwa Besprechungsprotokolle, Konzepte und Lagepläne. Dieser Bericht, der von einer Düsseldorfer Kanzlei erstellt wurde, war Anfang August dem Innenausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags, der Staatsanwaltschaft Duisburg sowie den Ratsmitgliedern mitsamt vertraulichen Anlagen zur Verfügung gestellt worden. Die Stadt hatte den Bericht ohne Anlagen auch auf ihrer Internetseite veröffentlicht.
    Die Anlagen enthielten ungeschwärzte, personenbezogene Daten, begründete ein Stadtsprecher das Verbot. Mehrere andere Portale haben unterdessen die Daten kopiert und sie abermals im Internet zur Verfügung gestellt. Die Stadt will dagegen keine weiteren juristischen Schritte unternehmen, sagte ein Stadtsprecher. Die unkontrollierbare Verbreitung der Dokumente sei faktisch nicht mehr zu unterbinden, hieß es.
    Quelle: FAZ

    Dazu:

    Wenn die Zensur reichlich alt aussieht
    Früher war es leichter, unliebsame Informationen zu unterdrücken. Denn so manche einstmals bewährte Kontrollstrategie erweist sich in der Welt der digitalen Medien als stumpfe Waffe. Und nicht selten ist es erst der Zensurversuch, der das öffentliche Interesse erzeugt…
    Potentiell interessante Informationen aus dem Internet zu entfernen, wird genau dann unmöglich, wenn sie Aufmerksamkeit erregen. Die Wogen noch glätten zu wollen, ist ein aussichtsloses Unterfangen. Auch wenn das Netz zum großen Teil aus Katzenbildchen und sonstigen Belanglosigkeiten zu bestehen scheint: Sobald das allgemeine Interesse eine gewisse Schwelle überschreitet, was heute innerhalb von Minuten passieren kann, funktionieren die Informationskontrollreflexe aus dem vorigen Jahrtausend nicht mehr. Nicht nur die Verantwortlichen für die Duisburg-Katastrophe werden sich diesen neuen Realitäten stellen müssen.
    Quelle: FAZ

  15. Jeder, der ein Apple iPhone besitzt, sollte sich schämen
    „Die Deutschen können damit leben. Amerika ist nicht mehr der Nabel der Welt“ US-Ökonom Michael C. Burda über die Schwäche der Vereinigten Staaten und die Folgen für Deutschland:
     “Amerika kommt wieder, sobald die Exzesse verarbeitet sind. Das sage ich nicht, weil ich US-Bürger bin. Die Kombination aus politischer und wirtschaftlicher Freiheit ist ein einzigartiges Erfolgsrezept. Die weltwirtschaftliche Dynamik der letzten 200 Jahre kam aus Amerika, warum sollte das ausgerechnet jetzt vorbei sein? In China wird sich vieles ändern. Heute werden die Arbeiter ausgebeutet wie im Frühkapitalismus, jeder, der ein Apple iPhone besitzt, sollte sich schämen. Irgendwann werden dort Gewerkschaften entstehen, eine andere Partei wird an die Macht kommen, es wird Instabilität geben.”
    Quelle: Tagesspiegel

    Anmerkung Orlando Pascheit: Natürlich klingt das ganz nett, wenn ein anerkannter Wirtschaftwissenschaftler zur Boykott von Waren aufruft, die unter einem ausbeuterischen Regime produziert werden, allerdings hat ein moderner Staat, der sich hinter diese ausbeuterischen Verhältnisse stellt, heute ganz andere und viel effizientere Methoden, Repressionen auszuüben. So scheinen die Bürger der USA wie auch der Bundesrepublik gar nicht zu merken, dass ihre Gesellschaften im Geist des Frühkapitalismus transformiert werden.

  16. Schuften für den Elektronikspaß anderer
    Ohne das Mischerz Coltan klingelt kein Handy, fiepst keine Spielekonsole und fährt kaum noch ein Auto. Aber die Förderbedingungen im Ostkongo sind katastrophal. Und wie bei “Blut-Diamanten” gilt auch beim “Blut-Coltan”: Vor allem Kriegstreiber verdienen.
    Das alles ist ein blühendes Geschäft – bei dem die Arbeiter in den Minen die Verlierer sind. Die Männer und Kinder schuften wie Sklaven, sagt der Kongolese Charles Chalondakwa: “Sie buddeln praktisch nackt, es gibt keine Schutzkleidung, keine Helme, keine Handschuhe und als einziges Werkzeug Hammer und Meißel. Oft stürzen Minen ein und begraben Arbeiter unter der Erde. Überhaupt ist Atmen ein Problem: In den winzigen Stollen gibt es kaum Luft. Die Zustände sind unvorstellbar.”
    Chalondakwa arbeitet für die Vereinten Nationen, die den Osten des Landes befrieden wollen. Seit Jahrzehnten herrscht hier Bürgerkrieg. Nicht zuletzt der Handel mit Tantal hält den Konflikt am Laufen: “Wer an den Verkäufen verdient, ist doch klar”, sagt er: “Es sind die Kriegstreiber, die Kommandeure der Rebellengruppen und Politiker. Von den Erlösen werden Waffen gekauft. Diese Leute machen wirklich viel Profit.”
    Quelle: Tagesschau
  17. Das Roma-Problem liegt in Osteuropa
    Doch der Westen setzt seine Werte aufs Spiel, wenn er zu Frankreichs Vorgehen gegen die Roma schweigt, meint Romani Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma:
    “Wir können dieses Problem nicht in Westeuropa allein lösen. Aber wir lösen es auch nicht, indem wir die Leute in Gefahr und Elend zurückschicken. Diese Menschen fliehen vor dem Rassismus und der Arbeitslosigkeit, die bei Roma in Osteuropa mancherorts über 90 Prozent liegt. Vor dem Fall des Eisernen Vorhangs standen 85 Prozent von ihnen in Lohn und Brot. Jetzt sind sie herausgefallen aus dem Arbeitsmarkt – und manche suchen eben im Ausland ihr Glück. … Die EU hat Beitrittsverhandlungen mit diesen Ländern geführt. Dabei ging es auch um europäische Werte wie den wirksamen Schutz von Minderheiten. … Den Abschiebungen in Frankreich ging eine hässliche Debatte voraus, in der ohne Scheu all die Klischees und Stereotype aufgerufen wurden, die wir aus unserer 600-jährigen Geschichte kennen. Man stelle sich vor, irgendwo in Westeuropa würden Politiker mit solchen Tönen gegen die jüdische Minderheit hetzen: dieses Land wäre zu Recht isoliert!
    Quelle: taz
  18. Tschechien: Wollen nicht in griechische Falle geraten
    Tschechien müsse die “Notbremse” bei den Staatsausgaben ziehen, sagt der konservative Premier Petr Necas. “Entweder ziehen wir die Notbremse und beenden die Verschlimmerung der negativen Tendenzen, vor allem die Verschuldung des Staates, oder wir werden zu jenen Ländern zählen, von denen man weiß, dass sie nicht imstande sind, ihre Probleme allein zu lösen, und unter dem Diktat der internationalen Finanzinstitutionen stehen”, betonte der Regierungschef. “Wir wollen nicht in die gleiche Falle wie Griechenland geraten”, warnte er weiters. Als eine der Prioritäten bezeichnete er die schrittweise Senkung des Budgetdefizits bis 2016, wenn ein ausgeglichenes Budget erreicht werden soll. Necas stellte die Kürzung vieler sozialer Leistungen, die Erhöhung von Patientenbeiträgen im Gesundheitssystem sowie die Einführung von Studiengebühren für staatliche Universitäten und Hochschulen in Aussicht. Außerdem plant die Koalition eine grundlegende Reform des Pensionssystems.
    Quelle: die Presse.com

    Anmerkung Orlando Pascheit: Wer zählt die Länder, zählt die Namen: Sparprogramme allerorten. Da wird sich der Exporteuropameister Deutschland aber freuen, dass sich alle an ihm ausrichten, der die Schwächung der Massenkaufkraft als probates Mittel öffentlichen Sparens entdeckt hat.

  19. Humboldts Bildung heute
    Festansprache im Berlin-Reinickendorfer Humboldt-Zyklus aus Anlass des Berliner Humboldt-Jahres 2010 von Hinrich Lühmann
    Neugier, Fakten, die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, Staunenkönnen, Verallgemeinerung des besonderen Vorgefundenen, Strukturensuche, Einsicht in die Vorläufigkeit des Wissens, Anerkennung der Vernetztheit der Welt, vernetzte Forschung, Weltbürgertum und Toleranz.
    Ich bekenne gerne: Diese „gelebte Bildung“ der Humboldt–Brüder ist mein Bildungsziel; ich habe noch nichts Besseres gefunden. Und sie ist das, wozu auch die Schulbildung beitragen muss.
    Quelle: Hinrich Lühmann [PDF – 258 KB]
  20. Was sind “höhere Interessen”?

    Foto: NachDenkSeiten in Stuttgart


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